Mitte 1932: Niedergang der Weimarer Republik und Aufstieg der NSDAP
Der schwarze Freitag am 25. Oktober 1929 hatte eine schwere Weltwirtschaftskrise eingeleitet, von der Deutschland auch im Jahr 1932 mit bis zu über sechs Millionen Arbeitslosen erfasst war. (Kershaw 1998: 451-469, Bracher 1969: 184-213, auch im Folgenden) Die Wirtschaftskrise wurde verstärkt durch die hohen Reparationszahlungen, die Deutschland seit 1919 als Wiedergutmachung der Kriegsschuld gemäß Versailler Vertrag zu leisten hatte. Ein großer Teil der Bevölkerung hatte Vertrauen in das per Notverordnung regierende Kabinett Brüning (Zentrum) angesichts sozialer Not und fehlender Perspektiven verloren. Nicht wenige Deutsche waren ohnehin Anhänger von autoritärem und antidemokratischem Gedankengut und hatten sich mit der Weimarer Republik, an deren Anfang die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die unvermeidbare Annahme des ungeliebten Versailler Vertrags stand, nicht wirklich akzeptieren können.
Hinzu kam, dass es dem Reichstag nach den Wahlen vom 14. September 1930, in der die NSDAP mit 18,3 % zur zweitstärksten Partei aufstieg, nicht mehr gelang, eine Mehrheitskoalition zustande zu bringen; das Land wurde damit auf Dauer mit Notverordnungen regiert, ohne dass die ökonomische und politische Krise dadurch entspannt werden konnte. De facto war die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Republik längst erschüttert und hatte an Legitimität verloren. Es war zu einer "Überfremdung der Demokratie" gekommen. (Bracher 1969: 212) Angesichts einer sich stetig ausweitenden nationalsozialistischen Bewegung kamen die Verteidiger der Weimarer Republik am Ende nicht mehr an gegen ein sich ausweitendes Bewusstsein von der Möglichkeit eines neuen großen Reiches und dem Glauben an eine kampfstarke "Volksgemeinschaft", die zugleich der Wut das entscheidende Ventil bot.
Mitte 1932 - der Zeitpunkt, an dem die Kujau-Hitler-"Tagebücher" beginnen - stand die Republik vor den erneuten Reichstagswahlen am 31. Juli 1932; das Land befand sich unter bürgerkriegsähnlichen Spannungen. Nach Aufhebung des SA-Verbots Mitte Juni eskalierten die Straßenkämpfe zwischen SA einerseits und republiktreuem Reichsbanner, Kommunisten und anderen Gruppierungen andererseits. Allein in Preußen kam es innerhalb eines Monats zu 99 Toten und 1125 Verletzten. Die blutige Straßenschlacht von Altona am 17. Juli, an der SA, Kommunisten und Polizei beteiligt waren, gab den Anlass zum sogenannten "Preußenschlag": Am 20. Juli 1932 setzte Reichspräsident Hindenburg die Regierung aus SPD und Zentrum in Preußen, dem wichtigsten und größten Land innerhalb der Weimarer Republik, per Notverordnung schlicht ab und ernannte Reichskanzler Franz von Papen zum Reichskommissar, ohne dass die demokratischen Kräfte angemessen hätten Widerstand leisten wollen oder können. Gerechtfertigt wurde der Staatsstreich damit, dass die alte Regierung angesichts der Ausschreitungen in Altona unfähig sei, im eigenen Land für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ende Juli 1932 erreichte dann die NSDAP in der Reichstagswahl zwar keine regierungsfähige Mehrheit, aber die meisten Stimmen.
Die Entmachtung Preußens im "Preußenschlag" am 20. Juli 1932 und die Reichstagswahl am 31. Juli 1932
Die Kujau-Texte beginnen (erst) am 8. Juli 1932. Im Wesentlichen notiert Kujau-Hitler den Niedergang der Weimarer Republik im letzten Jahr ihres Bestehens, die politische Eskalation nach der Reichstagswahl und den Kampf darum, wann Hitler - und nicht Papen bzw. Schleicher - das Amt des Reichskanzlers von Reichspräsident Paul von Hindenburg angeboten bekommt. Die Kujau-"Tagebücher" (TB) enthalten gerade einmal die im Folgenden abgedruckten Zeilen für den Monat Juli 1932 - ein Monat, der für das absehbare Ende der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Gewaltbewegung entscheidend war.
TB 8. - 31.7.1932: "8. Abkommen von Lausanne. 9. Lustgartenkundgebung der Partei. Ablehnung des Lausanner Abkommens. 10. Reichsbannerüberfall auf Nationalsozialisten in Ohlau, Schlesien. 18 Tote bei Zusammenstößen im ganzen Reich. 11. Das Reichskabinett stimmt dem Lausanner Abkommen zu. (…) 15. Beginn meines dritten Deutschlandfluges. Ich möchte so um die 50 - 55 Kundgebungen halten. 17. Altonaer Blutsonntag. 19 Tote bei politischen Zusammenstößen im ganzen Reich. 18. Jetzt will man mich mundtot machen! Ab heute gilt das Verbot von politischen Veranstaltungen unter freiem Himmel. 20. Ausnahmezustand in Berlin-Brandenburg. Absetzung der roten Preußenregierung. Papen Reichskommissar für Preußen 31. Reichstagswahl. Großer Sieg unserer Bewegung. 230 nationalsozialistische Abgeordnete von 608. Auch großer Sieg in Thüringen. 26 nationalsozialistische Abgeordnete von 60."
Diese wenigen Stichworte bei Kujau verwundern für ein Tagebuch, das offenkundig auch wegen vom Stern angebotener großer Zahlungen unter Zeitdruck zusammenkompiliert worden ist. Immerhin geht es um das von der NSDAP abgelehnte Lausanner Abkommen, in der die deutschen Reparationszahlungen de facto beendet wurden, um den als Staatsstreich gedeuteten "Preußenschlag" und um die Endphase des Wahlkampfs, für den Adolf Hitler zig Veranstaltungen praktisch rund um die Uhr und per Flugzeug absolvierte. Auf seinen Kundgebungen erreichte er in größeren Städten oft mehr als 50.000 Menschen.
Aus den Tagebüchern Joseph Goebbels' erfahren wir dagegen Entscheidendes über Denken und Absichten der NSDAP-Spitze in dieser Zeit. (Die in Deutschland erst in den 1990er-Jahren veröffentlichten Goebbels-Tagebücher waren in Teilen schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dann 1978 in Englisch veröffentlicht worden und damit Kujau zugänglich. Im Gegensatz zu Kujau-Hitlers dürren stichwortartigen Einträgen schildert Goebbels am 20. Juli 1932 in seinem Tagebuch den "Preußenschlag" als Sieg der antirepublikanischen Kräfte:
"Sie danken feige ab und werden dann wieder freigelassen. In der Reichshauptstadt bleibt alles ruhig. Man muss den Roten nur die Zähne zeigen, dann kuschen sie. SPD und Gewerkschaften rühren nicht einen Finger. Die Reichswehr steht bereit, aber braucht nicht unmittelbar einzugreifen. … Wir sitzen im kleinen Kreise zusammen und stellen einen Wunschzettel auf (…). Die SA steht in Bereitschaft. (…) Eben rückt die Reichswehr in die Reichshauptstadt ein. Mit Panzerwagen und Maschinengewehren. Ein wundervoller beglückender Anblick. Die Lage ist gut. Ruhe und Ordnung gesichert. Eine unmittelbare Gefahr besteht nicht mehr." Am 21. Juli: "Alles rollte wie am Schnürchen ab. Die Roten sind beseitigt. Ihre Organisation leisten keinen Widerstand. Das "8-Uhr-Abendblatt" verboten. Einige Polizei- und Oberpräsidenten abgesetzt. Der Generalstreik unterbunden. … Die Roten haben ihre große Stunde verpasst. Die kommt nie wieder." (Zit. n. Reuth, 2. Bd., 1992: 675 f.)
In der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 erhielt die NSDAP 37,4 % der Stimmen und damit 230 von insgesamt 608 Mandaten - ein Erdrutsch-Sieg gegenüber der letzten Reichstagswahl vom 14. September 1930 mit 18,3 %. Nach der Wahl kämpften die Nationalsozialisten mit allen Mitteln um die Erringung der gesamten Macht, sie wurden aber von den autoritären Konservativen um Papen und Schleicher blockiert und sahen sich (vorerst) geschlagen.
Goebbels dazu am 1. August: "Wir haben eine Kleinigkeit gewonnen. Der Marxismus sehr. Wir 230 Mandate. In Berlin etwas wegen der Lügenkampagne verloren. Resultat: Jetzt müssen wir an die Macht und dem Marxismus ausrauben. So oder so! Etwas muss geschehen. Die Zeit der Opposition ist zu Ende. Jetzt Taten! Hitler ist auch der Meinung. (…) Zur absoluten Mehrheit kommen wir sowieso nicht. Also anderen Weg einschlagen." 3. August: "Vor schweren Entschlüssen. Legal? Mit Zentrum? Zum Kotzen!" 5. August: "Noch kurz mit Hitler beredet. Er fährt zu Schleicher, um unsere Forderung anzumelden. Frick innen, Göring Luftfahrt, Straße Arbeit, Goebbels Volkserziehung, er selbst Kanzler. D. h. also, - die ganze Macht oder nichts." (Ebd. 677 - 679)
Gescheiterte NS-Machtübernahme im August 1932
Tatsächlich entschied sich die nationalsozialistische Bewegung in diesen Wochen nach der Reichstagswahl, "aufs Ganze" zu gehen und sich nicht unter von Papen an einer neuen Regierung zu beteiligen. Der am 31. Juli 1932 gewählte Reichstag der Weimarer Republik bestand mehrheitlich aus antidemokratischen Nationalsozialisten sowie antidemokratischen Kommunisten; NSDAP und KPD konnten zusammen den Reichstag beliebig blockieren. Von Papen regierte per Notverordnungen des Reichspräsidenten. Am 12. September wurde der Reichstag erneut aufgelöst. Vor dem Hintergrund allgemeiner Frustrationen gegenüber der Politik und leichter ökonomischer Erholung sank in den Neuwahlen am 6. November der Anteil der Nationalsozialisten auf 33,1 Prozent. Erneut hatten die demokratischen Parteien im Reichstag keine Mehrheit. Reichspräsident Hindenburg beauftragte Kurt von Schleicher im Dezember mit der Regierungsbildung. (Kershaw 1998: 465 - 487)
Im Vergleich zu den Eintragungen Goebbels' sind die Kujau-Notizen auch aus der ersten Augusthälfte 1932 merkwürdig spärlich, aber immerhin etwas aufgeregter:
TB 1. - 13.8.1932: "August 1932. 1. August. Nun geht der marxistische Terror richtig los. Eine ganze Terrorwelle der Marxisten überzieht das ganze Reich. Sturmführer Axel Schaffeld in Braunschweig erschossen. 2. August. Pg. Göring fordert vom Reichskommissar Dr. Bracht rücksichtsloses Vorgehen gegen die roten Terrorbanden. 5. August. Treffe mich mit Schleicher. Dieser arrogante Kerl, glaubt ich mit meiner Bewegung bin mit kleinen Nebenposten abzuspeisen. Aber er hatte seine Rechnung ohne mich gemacht. Dieser Strasser hat sich wieder einmal von Schleicher und Papen einwickeln lassen. Bekomme laufend Anfragen aus dem Reich. Das bringt meinen ganzen Plan durcheinander. 9. August. 3 Neue Notverordnungen. Verlängerung des Burgfriedens. Sondergerichte und Todesstrafe gegen politische Gewalttaten. 13. August. Nach einigen Besprechungen begebe ich mich mit Röhm der einiges ausgehandelt hat zu Schleicher. Schleicher kann keine konkreten Aussagen noch Vorschläge machen. Dieser politische Intrigant will mich nur hinhalten. Von Schleicher aus begeben wir uns zu Papen. Nun merke ich die ganze Sache ist ein abgemachtes Spiel. Am Nachmittag in der Wohnung v. Dr. Goebbels bekomme ich Nachricht ich sollte sofort zu Hindenburg kommen. Um 1/2 5 wurde ich empfangen. Als ich den Raum betrete merke ich sofort, dies ist eine abgekartete Sache, diese Schleicher und Papen hatten gute Vorarbeit geleistet. Wir werden erstmal unsere Zelte in Berlin abbrechen. Gebe Röhm die Weisung die SA in einen kurzen Urlaub zu schicken. Habe mit Dr. Goebbels und Röhm auch vereinbart, auch die Reihen unserer Partei zu reinigen, denn wir haben einige Verräter in unseren Reihen, die mir für jeden kleinen Posten der ihnen geboten wird in den Rücken fallen."