Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1938: Aggressive Expansionspolitik und Reichspogromnacht

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

Das Jahr 1938 war das erste, in dem das NS-Regime nach außen eine aggressive Expansionspolitik betrieb. Im März erfolgte der "Anschluss" Österreichs, ab Herbst die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Die militärpolitische Macht wurde zunehmend auf Adolf Hitler konzentriert: Anfang Februar drängte Hitler Reichskriegsminister Werner von Blomberg und den Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, aufgrund angeblich "ethisch-moralischer" Verfehlungen aus dem Amt und übernahm selbst die direkte Befehlsgewalt über die Wehrmacht. An die Stelle des Kriegsministeriums trat das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unter dem hitlerergebenen Wilhelm Keitel. Hermann Göring wurde Generalfeldmarschall der Wehrmacht, Joachim von Ribbentrop Außenminister. Im Juni des Jahres ernannte Hitler Martin Bormann zu seinem Adjutanten und Leiter seiner Privatkanzlei.

Kujau

In den Kujau-Texten des Jahres 1938 werden zunächst die Umstände der abberufenen Generäle von Fritsch und von Blomberg sowie die Intrigen darum ausführlich debattiert. Der erfolgreiche "Anschluss" Österreichs, der Angriff auf die Tschechoslowakei sowie das Münchner Abkommen werden ebenfalls ausführlich notiert. Über die verschärfte Unterdrückung und gewalttätige Erniedrigung der österreichischen Jüdinnen und Juden und über die berüchtigte Reichspogromnacht am 9. November 1938 fällt bei Kujau dagegen kaum ein Wort.

Der "Anschluss" Österreichs im März 1938

In nationalsozialistischer Lesart schreibt Kujau, der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg sei "wortbrüchig" und erdreiste sich, "eine separate Volksabstimmung" durchzuführen. Am 11. März habe er ("Hitler") daher den Befehl zum Einmarsch in Österreich gegeben.

TB 9.3.1938: "Schuschnigg wird wortbrüchig! Er will am 13. Marz eine separate Volksabstimmung. Nun weiß ich woran ich bin, und wie ich mit diesen Schuschnigg umzugehen habe. Ich habe den kalten Weg angeboten aber er hat mich getäuscht und verraten. Schlaflose, unruhige Nacht."

TB 11.3.1938: "Früheste Morgenstunde. Ich erteile die Weisung zum Anlauf des Unternehmens 'Otto'. (Die bewaffnete Aktion gegen Österreich.)"

Mit dem "Anschluss" Österreichs vergrößerte sich nicht nur das Gebiet des Deutschen Reiches, er führte auch zu einer gewaltigen Ausdehnung von Industrieproduktion, militärischen Ressourcen und Rohstoffen. Der Einmarsch der Wehrmacht im März 1938 wurde - für die NS-Elite teilweise überraschend - von der österreichischen Bevölkerung bejubelt und es folgte, vor allem in Wien, eine bis dahin beispiellose Welle antisemitischer Gewalt und sadistischer Erniedrigungen. (Grab 1989) Der "Erfolg" in Österreich wiederum erlaubte den Nationalsozialisten, im "Altreich" erneut den Vertreibungsdruck auf Jüdinnen und Juden zu verschärfen, eine Flut neuer Bestimmungen zu erlassen und weitere Gewalt zu schüren. (Wildt 2007: 59)

Adolf Hitler verkündete am 13. März vom Balkon des Linzer Rathauses: "Wenn die Vorsehung mich einst aus dieser Stadt heraus zur Führung des Reiches berief, dann muß sie mir damit einen Auftrag erteilt haben, und es kann nur ein Auftrag gewesen sein, meine teure Heimat dem Deutschen Reich wiederzugeben." (Zit. n. Heer 2005: 342)

Der Historiker Saul Friedländer bilanziert nüchtern: "Als Ergebnis des Anschlusses waren den Nazis weitere 190.000 Juden in die Hände gefallen. Die Verfolgung in Österreich und insbesondere in Wien ging über die im Reich hinaus. Die öffentliche Demütigung war krasser und sadistischer, die Enteignung besser organisiert, die Zwangsemigration rascher. Die Österreicher (...) dürsteten anscheinend mehr nach antijüdischen Aktionen als die Bürger des nunmehrigen Altreichs. (…) Der Mob genoß die öffentlichen Schauspiele der Erniedrigungen; zahllose Gauner aus allen Schichten, die entweder Parteiuniformen trugen oder nur improvisierte Hakenkreuz-Armbinden angelegt hatten, griffen zu Drohungen und Erpressungen im größten Ausmaß: Geld, Juwelen, Möbel, Autos, Wohnungen und Betriebe wurden ihren entsetzten jüdischen Eigentümern entrissen." (Friedländer 1998: 262 f.) Es gab nicht nur in den Fragen der Auswanderung und Deportationen ein "Wiener Modell", dessen sich Adolf Eichmann später in dem ihm eigenen Stolz rühmte, sondern auch in der Selbstunterordnung der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Der Reichsparteitag und das Münchner Abkommen im September 1938

Der Reichsparteitag im September 1938 stand im Zeichen der gefeierten Annexion Österreichs wenige Monate zuvor, der in die NS-Ideologie eingegliederten und untergeordneten Wehrmacht und des von Hitler organisierten Trommelwirbels um die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei. Für Hitlers Expansionspläne war die Tschechoslowakei von zentraler Bedeutung; schon im Februar hatte er den Anführer der Sudetendeutschen angewiesen, der tschechoslowakischen Regierung unannehmbare Autonomieforderungen zu stellen, und dann den Befehl gegeben, die Wehrmacht in Bereitschaft zu versetzen. Mit dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Betonung, das Sudetengebiet sei die letzte Territorialforderung, erhöhte Hitler international den Druck. Er erreichte die Abtretung des Sudetengebiets unter Billigung Großbritanniens, das hoffte, durch Zugeständnisse den Frieden in Europa erhalten zu können. Ende September trafen sich auf Einladung Hitlers die Regierungschefs von England, Frankreich und Italien in München. Hier beschlossen die Teilnehmer im Münchener Abkommen die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich. (Kershaw 2000: 162-182)

Kujau

TB 12.-29.9.1938: "12. (…) Blutige tschechische Provokationen in Karlsbad, Aussig, Eger, Teplitz-Schönau gem. Bald ist das Maß voll! 13. Verhängung des Standrechts über sudetendeutsche Bezirke. Die SDP stellt befristete Forderungen an den tschechischen Ministerpräsidenten. Am Abend, Abbruch der Verhandlungen. 14. Tschechische Belagerung und Beschießung sudetendeutscher Orte. Chamberlain möchte vermitteln, aber ich glaube es hat kaum noch einen Sinn, hätten die Briten das mal eher getan, oder die Tschechen nicht immer moralisch unterstützt. Nun ist der Jammer auf der Insel groß! 15. Tschechisches Militär beschießt in Eger das Hauptquartier der SDP. mit Artillerie und hat es gestürmt. Nun soll Herr Chamberlain nur kommen und sagen der Tscheche ist an der ganzen Kriese unschuldig. (…) 20. Der Flüchttingsstrom aus dem Sudetengebiet ins Reich reißt nicht ab. Die Zahl übersteigt schon die 1 000 000. (…) 22. Tschechische Truppen richten im sudetendeutschen Grenzgebiet ein Blutregiment an. (Nach Meldungen heute schon 50 Tote) Also sind die bereits zurückgezogenen tschechischen Truppen erneut eingerückt. (…) 23. Briefwechsel mit Chamberlain. Deutsches Memorandum über die Rückgabe des Sudetengebietes an uns. Tschechische Mobilmachung. Das war der größte Fehler den Benesch machen konnte. (…) 29. (…) Das Abkommen ist ausgehandelt! Kurz nach Mitternacht erfolgt die Unterzeichnung. Noch in der Nacht verabschiede ich den Duce. Die tschechische Regierung erklärt die Annahme der Bedingungen des gestrigen Abkommens. Erste Verordnung über die Anwendung des Strafrechts aus Anlaß der Besetzung sudetendeutscher Gebiete. Empfange Chamberlain in meiner Wohnung. Hat er mich doch bald überrumpelt, dieser aalglatte Engländer. Unterzeichnung einer Erklärung zur deutschenglischen Beziehung.

Privates - Da es meine Zeit kaum erlaubt, diese Zeilen zu schreiben, nur kurz. Es ist für uns das Möglichste beim Abkommen von München herausgekommen. Nun hat der Westen gesehen, daß das Deutschland von 1938 nicht das Deutschland von 1919 ist. Dem Duce und Daladier hätte ich noch ganz andere Bedingungen vorgelegt, aber diesen schlauen Fuchs von Chamberlain konnte ich das nicht! Adolf Hitler"

Anders als Kujau insinuiert, entstand die Entfesselung der Gewalt zwischen Tschechen durch die aggressive Politik der Sudetendeutschen unter Konrad Henlein, angestiftet von Hitler. Hitler wollte den Staat Tschechoslowakei, der als Folge des Versailler Vertrags existierte, eliminieren. Die Lage für die Regierung Benesch war auch deswegen bedenklich, weil nicht sichtbar war, ob die Verbündeten Frankreich und Großbritannien militärisch reagieren würden. Die Tschechen standen de facto allein. Es war ein weiterer Schritt Hitlers in Richtung außenpolitischer Okkupationspolitik, da er die Hoffnung auf ein Bündnis mit Großbritannien aufgegeben hatte. Vor diesem Hintergrund hatten sudetendeutsche Freikorps Unruhe gestiftet. Obwohl die sudetendeutsche Führung ihre Forderungen fast vollständig erfüllt bekam, provozierte sie immer weiter Spannungen. (Kershaw 2000: 162 f.) Erst gewissermaßen in der letzten Minute, nach einem Besuch von Chamberlain bei Hitler am 15. September und schwierigen Verhandlungen sowie einer zweiten Begegnung am 22. September, kam es - zugleich mit dem Druck der Briten und Franzosen auf die Tschechen nachzugeben - Ende des Monats zum sogenannten Münchner Abkommen.

"Reichskristallnacht" am 9. November 1938

Der staatlich gelenkte Pogrom, die "Reichskristallnacht", am 9. November 1938 kam nicht gänzlich überraschend. (Neumärker/Nachama 2018, auch im Folgenden) Schon im Oktober waren mindestens ein Dutzend Synagogen zerstört, Fensterscheiben von jüdischen Geschäften eingeworfen, jüdische Deutsche belästigt, misshandelt und in einigen Orten sogar aus ihren Häusern vertrieben worden. Am 28. Oktober waren 15.000 Jüdinnen und Juden nach Polen abgeschoben worden. Am 9. November bot dann das Attentat von Herschel Grynszpan auf den Botschaftssekretär vom Rath in Paris den willkommenen Anlass für die Nationalsozialisten, "Rache" zu üben. Der Pogrom vom November 1938 war aus Sicht des NS-Experten Peter Longerich keineswegs eine Antwort des Regimes auf das Pariser Attentat, sondern die Entladung einer seit Monaten aufgebauten antijüdischen Stimmung. (Longerich 2001: 61)

Unmittelbare Vorläufer des Pogroms gab es am 7./8. November in Kurhessen und Dessau. Am Abend des 9. November im Alten Rathaus in München nutzte Goebbels die Ausschreitungen in Kurhessen, um eine Anweisung an die Gliederungen der Partei zu richten, den Pogrom zu- und loszulassen. Hitler sei mit allem einverstanden, so Goebbels. An diesem Abend wurde ein Ventil für die ohnehin bestehende antisemitische Aggression weit geöffnet. Die Reaktionen in der Bevölkerung reichten von Schadenfreude über Denunziation bis zur Bereicherung und einer auf die "Sündenböcke" gerichteten Gewaltlust. Für die Juden in Deutschland ließ das Ereignis - als Katastrophe vor der Katastrophe - die ganze Tragweite des nationalsozialistischen Antisemitismus oft das erste Mal erahnen. Im Anschluss an die Ausschreitungen erfolgten Verordnungen und Gesetze, die die Lage der Jüdinnen und Juden in Deutschland dramatisch und gefährlich verschlechterten.

Die Tagebuch-Einträge von Joseph Goebbels aus dieser Zeit zeugen von einem unglaublich herablassenden, ja sadistischen Antisemitismus. Am 10. November 1938, also am nächsten Tag, notierte Goebbels:

"In Kassel und Dessau große Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten vom Rath gemeldet. Nun aber ist es gut. Ich gehe zum Parteiempfang im Alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstration weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisung an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln." (Zit. n. Reuth, 3. Bd., 1992: 1281 f.)

Bei Kujau finden wir dagegen kaum etwas über die Intention und Entschiedenheit in der Parteispitze, vielmehr eine platte Leugnung durch Auslassung. Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, Hitler sei besorgt gewesen über die Ausschreitungen. In der Realität hatte Adolf Hitler zusammen mit Göring und Goebbels die Lage in den Tagen vor, während und nach der "Reichskristallnacht" Zug um Zug verschärft. Er veranlasste in der Folge eine Kette von antijüdischen Maßnahmen, von denen Kujau dann z.B. am 11. und 12. November berichtet:

TB 9.-12.11.1938: "9. Feier zum 9. November in München. Meldung, Gesandtschaftsrat vom Rath seinen schweren Verletzungen erlegen. Spontane antijüdische Kundgebungen im ganzen Reich. 10. Die Kundgebungen gegen Juden im Reich nehmen überhand habe auch schon mit Göring, und Lutze gesprochen. Es geht nicht daß unserer Wirtschaft durch einige Hitzköpfe Millionen und aber Millionenwerte vernichtet werden, allein schon an Glas. Meldung, mir wird von einigen unschönen Übergriffen einiger Uniformträger gemeldet, an einigen Orten auch von erschlagenen Juden und jüdischen Selbstmorden. Sind diese Leute denn verrückt geworden? Was soll das Ausland dazu sagen? Werde sofort die nötigen Befehle herausgeben. Presserede in München. (…) Bekomme noch in der Nacht unschöne Meldungen über Ausschreitungen gegen Juden im Reich. Werde die Schuldigen bestrafen lassen, die weiter gegen meinen Befehl von letzter Nacht gehandelt haben. 11. (…) Verordnung gegen den Waffenbesitz der Juden. (…) 12. Ministersitzung bei Pg. Göring, betr. die gesetzliche Regelung der Judenfrage. Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben. Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit. Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben. Ausschluß der Juden von Besuch deutscher kultureller Veranstaltungen."

Der Zeitgenosse Klemperer schreibt: "Silvester 38, Sonnabend: Ich las gestern flüchtig das Tagebuch 1938 durch. Das Resümee von 37 behauptet, der Gipfel der Trostlosigkeit und des Unerträglichen sei erreicht. Und doch enthält das Jahr, mit dem heutigen Zustand verglichen, noch so viel Gutes, soviel (alles ist relativ!) Freiheit." (Klemperer, Bd. 1, 2015: 370)

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