UFA-Star Lilian Harvey: Enteignet in Mecklenburg
Fast alle Kinos in Mecklenburg werden 1947 zu Unrecht enteignet. Betroffen ist auch Schauspielerin Lilian Harvey. Das zeigt eine Recherche des NDR im Bundesarchiv Berlin und im Schweriner Landeshauptarchiv. Dort lagern Tausende nicht gesichtete Akten.
Millionen sehen ihre Filme. Millionen kaufen ihre Platten: Lilian Harvey. Der UFA-Star ist in den 1930ern eine der größten deutschen Leinwandgöttinnen. Die Schauspielerin und Sängerin ist auch Kinobesitzerin. Im mecklenburgischen Waren gehören ihr zwei Kinos: das "Capitol" und die "Schauburg". Sie werden von Schwester Majorie und Schwager Richard Oskar Böhme verwaltet. Wenn Lilian Harvey damals an die Müritz kommt, spielt sie mit der Nichte und inspiziert ihre Kinos. "Teilweise hat sie sich auch an die Kinotür gestellt, Karten abgerissen und sich mit den Leuten unterhalten", berichtet Siegfried Weckwerth. Der Warener hat sich mit Harveys familiären Verbindungen nach Mecklenburg beschäftigt.
Kinos von Lilian Harvey in Waren enteignet
Lilian Harvey, die einen deutschen Vater und eine englische Mutter hat, verlässt 1939 Deutschland. Auch aus politischen Gründen. Von Frankreich aus wendet sie sich gegen das Nazi-Regime. Das entzieht ihr im Gegenzug die deutsche Staatsbürgerschaft. Nach dem Krieg hilft das der Schauspielerin nicht. Im Gegenteil: Im Sommer 1947 werden Lilian Harvey ihre beiden Warener Kino enteignet. Sie sei eine Unterstützerin der NS-Diktatur gewesen, so der Vorwurf. "Obwohl sie der NSDAP nicht angehörten, haben Sie den Nazisten das Ihnen gehörige Lichtspieltheater für deren faschistische Propaganda zur Verfügung gestellt", heißt es im Enteignungsbescheid.
Enteignungsbescheide betreffen rund 120 Kinos
Der Fall Harvey ist kein Einzelfall. Das wortgleiche Schreiben erhalten damals fast alle privaten Kinobesitzerinnen und -besitzer im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Rund 120 Kinos sind betroffen. Lediglich Namen und Adressen unterscheiden sich in den Enteignungsbescheiden. Der Vorwurf im NS-Staat NS-Filme gezeigt zu haben, ist abstrus - in der nationalsozialistischen Diktatur hatten Kinobetreiber gar keine Wahl, welche Filme sie spielen wollen und welche nicht. Sie waren Zwangsmitglieder in der sogenannten Reichsfilmkammer. Eine Weigerung Propagandafilme zu zeigen, hätte den Ausschluss aus der Kammer und damit ein Ende des Kinobetriebes bedeutet. Hinzu kommt: Im NS-Staat gab es keine unabhängige Filmindustrie. Herstellung und Vertrieb wurden von Goebbels Reichspropagandamisterium zentral gesteuert.
Landesregierung in Schwerin will Kinos verstaatlichen
Auch deshalb erhebt Majorie Böhme, als Treuhänderin ihrer Schwester Lilian Harvey, sofort Einspruch gegen die Enteignung. "Sie hat mehrfach dagegen protestiert. Sowohl mündlich als auch schriftlich", weiß Siegfried Weckwerth. Die nun erstmals durch den NDR systematisch gesichteten Unterlagen im Berliner Bundesarchiv und Schweriner Landeshauptarchiv belegen, dass Majorie Böhme sogar aktiv Widerstand leistet. "Wir nehmen davon Kenntnis, dass Frau Böhme gegen die Enteignung der Lichtspiel-Theater 'Schauburg' und 'Capitol' protestiert und wir gegen ihr Einverständnis die Inventar-, Personal- und sonstige Aufstellungen vornehmen", heißt es beispielsweise in einer "Bescheinigung" der Stadt Waren. Auch Lilian Harvey lässt die Sache nicht auf sich beruhen. In einem Brief an die Stadt Waren pocht sie auf ihr Recht: "Diese beiden Kinos sind in meinem, also in britischem Eigentum." Doch der Brief wird ignoriert, denn hinter der Enteignung steckt die Landesregierung in Schwerin. Sie will alle Kinos verstaatlichen. Um jeden Preis.
Sowjetischer Befehl als Grundlage für "wilde" Enteignungen
Wichtigste juristische Grundlage für die massenhafte Enteignung ist der "Befehl Nr. 124" der Sowjetischen Militäradministration. Er ordnet an, dass das Eigentum von "führenden Mitgliedern" der NSDAP und deren "einflussreichen Anhängern" zu beschlagnahmen sei. Doch wer war ein "einflussreicher Anhänger"? Die schwammige Formulierung führt mancherorts zu wilden Enteignungen - nicht nur bei Kinos. Im Land Mecklenburg trifft es, wie in der gesamten Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), Unternehmen aus allen Branchen. Unter anderem werden Möbelfabriken, Bauunternehmen, Eisengießereien, Tischlereien, sogar Bäckereien und Einzelhandelsgeschäfte den rechtmäßigen Besitzern weggenommen. Auch einige der größten Kinos in Mecklenburg-Vorpommern stehen auf Grund des SMAD-Befehls bereits ab Ende 1945 unter staatlicher Zwangsverwaltung.
Trotz "Unbedenklichkeit" erhalten Besitzer Kinos nicht zurück
Zu diesen zwangsverwalteten Kinos gehört das Schweriner "Capitol". Es ist damals eines der modernsten Kinos Deutschlands. Im Dezember 1936 eröffnet, war es im Jahr darauf Exponat bei der Pariser Weltausstellung. Eigentümer Willy Dürkop, dem auch die Schweriner "Schauburg" gehört, wird vorgeworfen, er sei hochrangiger Nazi gewesen. Ein halbes Jahr sucht ein Beamter intensiv, aber vergeblich nach Belegen dafür. Schließlich schreibt er eine Aktennotiz: "Der Beweis, dass Dürkop sich aktiv nationalsozialistisch betätigt hat, kann nicht erbracht werden. Trotz eingehenden Suchens meinerseits nach Material, welches ausreichen würde, um Dürkop nach Befehl 124 unter Beschlagnahme zu bringen. Ich muss deshalb vorschlagen, das Eigentumsrecht dem Besitzer wieder einzuräumen." Doch Willy Dürkop erhält seine Schweriner Kinos nicht zurück. Im Zuge der Kino-Enteignungsaktion im Sommer 1947 werden sie ihm endgültig genommen.
Sozialdemokraten als angebliche NS-treue Kinobesitzer
"Es wurde zu 100 Prozent enteignet. Ob sie nun eine Schuld auf sich geladen haben oder nicht. Ob sie Opfer des Nationalsozialismus waren oder nicht", sagt Berit Olschewski. Die Historikerin hat unter anderem über Enteignungen in der SBZ geforscht und eine Dissertation dazu geschrieben. Wie ungerecht das Vorgehen gegen die angeblichen NS-treuen Kinobesitzer war, zeigt sich im vorpommerschen Loitz. Dort gibt es 1947 zwei Kinos: das "Elysium" und die "Windmühle". Beide sind in Gaststätten untergebracht. Das "Elysium" wurde von der durch und durch sozialdemokratischen Familie Fleischhauer betrieben. Ihr Lokal ist vor 1933 Sitz des Ortsverein der SPD. Gewerkschafter, der sozialdemokratische Reichsbanner, die freie Turnerschaft und der Arbeiterradfahrclub treffen sich dort. Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft sind die Fleischhauers wieder SPD-, nach der Zwangsvereinigung SED-Mitglieder. Dennoch wird ihnen das Kino unter dem Vorwurf der NS-Mittäterschaft genommen.
Willkürliche Enteignung von Nazi-Opfern
Auch bei der "Windmühle", dem zweiten Loitzer Kino, wird der gleiche falsche Nazi-Vorwurf erhoben. Der Enteignungsbescheid ergeht an den "Kinobesitzer Anton Hoffmann". Das ist zynisch. "Der lebte ja nicht mehr. Weil er im März 1945 zum Tode verurteilt und gleich im Innenhof des Gerichtes in Demmin hingerichtet wurde", weiß Burkhard Kröger vom Loitzer Heimatverein. Tatsächlich hatte es zwischen Hoffmann und dem NSDAP-Bürgermeister in den letzten Kriegstagen einen Streit um die Belegung des Kinos mit Flüchtlingen gegeben. Perfide ist der Nazi-Vorwurf auch im Fall eines Kinos in Torgelow. Dort wird einer verfolgten jüdischen Familie das Kino entrissen. Zweieinhalbtausend Menschen unterschreiben eine Protestnote, in der die Enteignung als "großes Unrecht" bezeichnet und eine Rückgabe an die Familie gefordert wird. "Von Anfang an aussichtslos. Egal, was sie an Beweisen geliefert haben. Die Enteignung war von Anfang an klar. Das war alles vorgeschoben. Das war reine Willkür", weiß Berit Olschewski.
Staatsfirma "KUM" fungiert als Kino-Unternehmer
Die meisten enteigneten Kinos gehen an eine eilig gegründete Staatsfirma: "Kulturelle Unternehmungen Mecklenburg." Die KUM hat aus Sicht der Landesregierung zwei Vorzüge. Sie schöpft die zuvor privaten Gewinne ab und agiert gleichzeitig stramm auf SED-Parteilinie. Die Folge der Verstaatlichung zeigt sich schon bald. In den Schaukästen und Foyers der Kinos werden nun Propagandaplakate ausgehangen. Statt Fotos von Rühmann, Albers und Harvey hängen dort großformatige Bilder von Stalin und DDR-Politikern wie Ulbricht und Pieck. Über die Leinwände flimmern verstärkt Propagandafilme wie "Das siegreiche China" und sowjetische Streifen. Zum Missfallen der meisten Kinozuschauer. Die verirren sich freiwillig eher selten in die Vorstellungen, wie die erhaltenen und einst geheimen Besucherstatistiken der KUM zeigen.
Tumulte im Landtag um "Kinoentschädigungsgesetz"
Politisch ist die Enteignung der Kinos heftig umstritten. Im September 1947 kommt es im Schweriner Landtag zu tumultartigen Debatten als die SED ein sogenanntes Kinoentschädigungsgesetz einbringt. Das Gesetz soll das Vorgehen gegen die privaten Kinobesitzer nachträglich absichern. Doch Christdemokraten und Liberale wollen nichts legitimieren. Vor allem Paul Friedrich Scheffler, Fraktionschef der liberalen LDP, setzt sich vehement für die Kinobesitzer ein. Er verweist in der Debatte auf die Schwammigkeit des Vorwurfs NS-"Propagandist": "Jeder Briefträger hat sich zum Propagandisten des nazistischen Gedankengutes dadurch schuldig gemacht, dass er jeden Tag Hunderte und Tausende Briefe mit dem Hitlerkopf in das Volk hinausgetragen hat." Bei der Abstimmung votieren LDP und CDU geschlossen gegen das Gesetz. Mit 42 Ja und 34 Nein-Stimmen wird es trotzdem angenommen.
Der Einsatz von Scheffler habe viel Mut erfordert, sagt die Historikerin Berit Olschewski: "Wenn man sich wie Scheffler im Landtag gegen Enteignungen ausspricht, sich also gegen die herrschende Führung stellt, dann ist das praktisch wie Selbstmord." Tatsächlich wird Scheffler wenige Wochen später verhaftet. Trotz seiner Immunität als Abgeordneter. Der Vorwurf - er sei selbst ein Nazi gewesen. Nach monatelanger U-Haft wird die Anklage fallen gelassen, denn sie lässt sich nicht aufrechterhalten. Scheffler flieht in den Westen. So wie die meisten ehemaligen Kinobesitzer.
Kaum Entschädigungen für Kinobetreiber wie Harvey
Auch Lilian Harveys Schwester Majorie Böhme verlässt Waren. Zusammen mit Tochter Bettina geht sie nach Großbritannien. Trotz des beschlossenen "Kinoentschädigungsgesetzes" erhalten offenbar weder Ufa-Star Harvey noch die meisten anderen Kinobesitzer eine Kompensation - so zeigen es zumindest die überlieferten Akten. Nur in wenigen Härte- und Ausnahmefallen fließen eher symbolische Beträge, denn im Haushalt des Landes Mecklenburg sind dafür keine Mittel eingeplant. Nach der Gründung der DDR und der Abschaffung der Länder, werden Zahlungen bis weit in die 50er-Jahre verschleppt und irgendwann vergessen. Nach der Wende kommt deshalb Lilian Harveys Nichte noch einmal nach Waren. "Um die ganze Sache noch mal aufzurollen", berichtet Siegfried Weckwerth. "Aber da wurde dieser ganzen Angelegenheit kein Gehör gegeben."