Showdown auf der Ostsee: DDR-Flucht per Boot
von Jürgen Kopp und Carsten Vick
Es war wohl die spektakulärste Flucht in der deutsch-deutschen Geschichte. Auf einem Segelboot floh die Familie Gaeth am 15. Juli 1975 von Rostock-Warnemünde nach Neustadt in Holstein. Mitten auf der Ostsee kam es dabei zu einem Showdown, einer militärischen Konfrontation. Ost- und westdeutsche Grenzschützer standen sich schwer bewaffnet, Auge in Auge, auf ihren Militärschiffen gegenüber. Es begann der Kampf um ein Segelboot und um eine Familie, die aus dem Arbeiter- und Bauernstaat fliehen wollte.
"Alles zurückgelassen für die Freiheit"
Willi Gaeth ist nervös, er segelt außerhalb der 3-Meilen-Zone der DDR-Gewässer. Unerlaubt, denn er ist auf der Flucht. Raus aus dem Land, das ihn, wie er später sagt, eingeengt, kontrolliert und ihm auch noch die Segelerlaubnis entzogen hat. "Wir haben alles zurückgelassen. Und ich hab gesagt: Das ist der Preis für die Freiheit."
Mit an Bord sind seine Frau Brigitte und die beiden Söhne Klaus und Peter. Es ist kurz vor 18 Uhr, als Willi Gaeth durchs Fernglas schaut und ein Marineschiff erkennt, das sich mit hoher Geschwindigkeit nähert. Ein Streifenboot des Bundesgrenzschutzes, kommandiert von Claus Seekamp.
Bundesgrenzschutz gegen DDR-Marine
"Wir hatten den Auftrag, die Segeljacht dort an einem gewissen Punkt zu treffen", erzählt Seekamp. Sein Boot sei längsseits gegangen und habe die Familie an Bord genommen. "Dann wurden im Radar ein paar Objekte sichtbar, die sich uns mit hoher Fahrt näherten." Seekamp und seine Leute identifizieren sie als Boote der DDR-Marine vom Typ Kondor. "Die haben dann mit allen möglichen Schikanen versucht, uns die Jacht wieder abzuhaken."
Drei DDR-Boote kreisen den Schleppverband ein. Auge in Auge stehen sich die Männer aus Ost- und Westdeutschland bewaffnet gegenüber. Doch Hilfe für Kommandant Seekamp ist bereits unterwegs - zwei Schiffe des Bundesgrenzschutzes und ein Hubschrauber. Als sich auch noch ein schwerbewaffnetes Schnellboot der Bundesmarine ankündigt, drehen die DDR-Boote schlagartig ab.
Warum wurde Flucht so spät bemerkt?
Die Flucht der Familie Gaeth glückt, aber es bleibt eine Flucht mit vielen Fragezeichen: Warum zum Beispiel stand ein Boot des Bundesgrenzschutzes punktgenau bereit, als Willy Gaeth und seine Familie mit der Segeljacht die Hoheitsgewässer der DDR verließen? Und warum wurde die Flucht am helllichten Tag an der streng gesicherten Grenze erst so spät bemerkt?
Willi Gaeths Sohn Klaus ist sich heute sicher: Es war eine geplante, eine angemeldete Flucht - und er vermutet: Sein Vater war IM, Inoffizieller Mitarbeiter der Staatsicherheit.
Für die Stasi ist Willi Gaeth "Hans"
Im Lesesaal der Stasi-Unterlagen-Behörde in Rostock wird Klaus Gaeth fündig: Er entdeckt die Verpflichtungserklärung seines Vaters. In dieser verpflichtete sich Willi Gaeth, mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf inoffizieller Basis zusammenzuarbeiten. Unterzeichnet ist das Dokument einmal handschriftlich mit "Willi Gaeth" und darunter nochmals mit "Hans".
"Hans" ist sein Deckname bei der Stasi. Fünf Jahre lang, bis zur Flucht im Sommer 1975, arbeitete Willi Gaeth den Unterlagen zufolge für die Staatssicherheit. Doch was geschah danach? Schwor er dem DDR-Regime tatsächlich ab und hat versucht, sich im Westen eine bessere Zukunft aufzubauen? Oder hatte er noch Kontakt zur Stasi - oder zu einem bundesdeutschen Geheimdienst?
Militärischer Konflikt hätte weitreichende Folgen gehabt
Vor dem Hintergrund der 1975 deutlich entspannten Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und der KSZE-Verhandlungen in Helsinki scheint der Fluchtverlauf der Familie Gaeth plausibel, meint heute Volker Höffer, Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde in Rostock. Höffer bestätigt: Wäre es damals zu einer militärischen Auseinandersetzung auf der Ostsee gekommen, dann hätte die Gefahr bestanden, dass die gewünschte Zusammenarbeit zwischen DDR und BRD wieder zu Bruch gegangen wäre.
Willi Gaeth möchte nicht über Hintergründe reden
Über seine Zeit als "IM Hans" und über die Zeit nach der Flucht aus der DDR möchte Willi Gaeth nicht sprechen, das sei zu schwer für ihn. Aufschluss darüber werden wohl erst die Akten des Bundesarchives geben, die jetzt - nach und nach - geöffnet werden.