Schloss Herrenhausen: Von der Welfen-Residenz zum Tagungsort
1943 wurde das Schloss Herrenhausen bei Angriffen auf Hannover zerstört. Jahrzehntelang stritten Experten und Enthusiasten über die Nutzung des Platzes. 2007 steht fest: Ein Nachbau soll her. Am 18. Januar 2013 feiern Politiker und Prinzessinnen Eröffnung.
Vom Podest der Freitreppe reicht der Blick über Glockenfontäne und Schwanenteiche bis zur Großen Fontäne - diese Aussicht ist heute wieder dieselbe, die einst der Welfe König Georg IV. von Großbritannien und Irland auf den Großen Garten in Hannover hatte. Denn der Nachbau von Schloss Herrenhausen wurde an genau der Stelle errichtet, an der bis in den Zweiten Weltkrieg hinein die Sommerresidenz des deutschen Adelsgeschlechts stand. Seither können Besucherinnen und Besucher der Anlage den Ausblick erleben. Zudem ist der großzügige Aufgang selbst ein beliebtes Motiv. Während des Festaktes für den Schlossnachbau am 18. Januar 2013 lassen sich Gastgeber und Gäste wie Hannovers damaliger Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD), Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) und die britischen Prinzessinnen Beatrice und Eugenie von York trotz winterlicher Temperaturen und in Baustellenatmosphäre dort ablichten.
Schloss Herrenhausen wird im Zweiten Weltkrieg zerstört
Zuvor steht der Platz fast 70 Jahre leer. Am 18. Oktober 1943 wird das Schloss bei alliierten Luftangriffen auf Hannover zerbombt. Nur die Treppe im Zentrum des dreiflügeligen Baus und die Mauern um den Eingangsbereich, der sogenannte Ehrenhof, bleiben stehen. Nach dem Krieg lässt die Stadt, der seit den 1930er-Jahren der Große Garten und das Grundstück gehören, die Ruine abtragen - Überreste der Freitreppe werden ab- und an anderer Stelle im Großen Garten als Erinnerung wieder aufgebaut. Auf dem Schlossplatz entsteht Raum für Gedankenspiele.
Leerer Platz im Barockgarten: Was soll dort entstehen?
Über Jahrzehnte hinweg diskutieren hannoversche Bürger, Politiker, Beamte und Architekten darüber, ob beziehungsweise wie der Platz an der Spitze der königlichen Barockgärten bebaut werden soll. Die einen fordern, dass die Fläche in Erinnerung an den Krieg und seine Zerstörung leer bleibt. Andere setzen sich für einen zeitgemäßen Neubau ein, wieder andere für teilweise oder exakte Rekonstruktionen des Schlosses. Die Stadt Hannover muss derweil als Eigentümerin zusammen mit den Ratspolitikern im Blick behalten, dass der barocke Große Garten europaweit einmalig und ein beliebtes Ausflugsziel ist und bleiben soll. Und dass die Kosten die Stadtkasse nicht über Gebühr strapazieren. Am Ende jeder Idee ist fast immer die Finanzierung der Knackpunkt.
Modernist Jacobsen entwirft Aussichtsplattform "Bella Vista"
In den späten 1950er-Jahren etwa wirbt der damalige Oberbaurat Karl Cravatzo für ein Schlosshotel, während der Architekt Otto Fiederling Entwürfe für ein Museum für bildende Künste samt Kunsthalle vorlegt. Einen der wohl radikalsten Vorschläge entwickelt Mitte der 1960er-Jahre der dänische Modernist Arne Jacobsen. Im Auftrag der Stadt entwirft er "Bella Vista" - eine Aussichtsplattform mit Café, die wie zwei übereinander schwebende Schalen aussieht. Für andere seinerzeit renommierte Architekten wie Friedrich Wilhelm Kraemer ist Jacobsens Vorschlag ein "Faustschlag ins Gesicht". Letztlich ist der Widerstand so heftig, dass sich die Stadt dagegen entscheidet. Während der 1970er-Jahre fordert der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, das Schloss wieder aufzubauen. Das ist im Sinne vieler Bürger, die - wie unter anderem aus Leserbriefen an die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" deutlich wird, "ihr" Schloss zurückhaben wollen.
Eine Rekonstruktion - aber welches Schloss soll es sein?
Diskussionen darüber, ob und - wenn ja - wie das Schloss rekonstruiert wird, kommen immer wieder auf. Doch welches Schloss Herrenhausen soll es werden? Das eine gibt es nicht. Auf dem Gelände in Herrenhausen stehen im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Häuser, die je nach Sanierungsbedarf und Zeitgeist umgebaut werden. Im 17. Jahrhundert lässt Georg Herzog von Calenberg dort zunächst ein sogenanntes Vorwerk mit Garten und mehreren Gebäuden anlegen. Der landwirtschaftliche Betrieb soll den Hof mit Lebensmitteln versorgen.
Später wird das Wohnhaus zur Sommerresidenz der Welfen umgebaut. Während des Barock erhält das Schloss ein neues, prunkvolleres Gesicht und wird durch den passend dazu entworfenen Großen Garten ergänzt. Ein Nachbau des Schlosses aus dieser Zeit erscheint deshalb naheliegend. Er ist jedoch unmöglich: Vom einstigen Barockbau gibt es keine Baupläne mehr. Die von Hofbaumeister Georg Ludwig Friedrich Laves, der dem Schloss von 1820 bis 1821 sein heute bekanntes klassizistisches Äußeres verlieh, sind jedoch erhalten.
Volkswagen Stiftung will 20 Millionen Euro investieren
Anfang der 2000er-Jahre sieht es so aus, als hätte sich ein Nachbau des klassizistischen Schlosses durchgesetzt. Der Förderverein für das Gartenkunstmuseum im Schloss Herrenhausen und die Bürgerstiftung Haus & Grundeigentum wollen das Gebäude von außen so errichten lassen, wie es bis 1943 ausgesehen hat. Innen soll ein moderner Bau mit einem Zentrum für Gartenkunst entstehen. Jahrelang sucht die Stiftung nach Investoren für das Projekt, als im November 2007 die Stadt Hannover überraschend verkündet: Die Volkswagen Stiftung will einen Nachbau für rund 20 Millionen Euro finanzieren und den Betrieb übernehmen. Auch sie plant eine historische Fassade mit modernem Kern. Kritik an der Entscheidung kommt unter anderem vom Bund Deutscher Architekten (BDA). Einem UNESCO-Memorandum entsprechend sollte Architektur die bestehende Bauweise respektieren, aber zeitgebunden sein, so der Verband.
Entscheidung für Nachbau: Laves-Fassade und moderner Kern
Doch die Entscheidung steht, auch der Architektenwettbewerb gibt als Rahmen den klassizistischen Baukörper nach Laves' Plänen vor. Das Hamburger Architektenbüro Jastrzembski Kotulla setzt sich mit seinem Entwurf durch. Der umfasst einen großen Festsaal, einen tageslichtdurchfluteten unterirdischen Hörsaal für 250 Gäste und ein Schlossmuseum in den Seitenflügeln. Im September 2010 beginnen die Bauarbeiten im Großen Garten. Wie so oft bei großen Projekten gibt es Verzögerungen, sodass die Gäste die Eröffnung am 18. Januar 2013 noch zwischen Baugerüsten und Schutt-Containern feiern.
Stelldichein von Präsidenten, Experten und Museumsbesuchern
Seither ist das neue Schloss Herrenhausen Veranstaltungs- und Tagungsort - 2016 unter anderem vom damaligen US-Präsident Barack Obama und dem britischen Premier David Cameron genutzt. 2022 haben dort die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder beraten und bei regelmäßigen Veranstaltungen diskutieren Expertinnen und Experten über aktuelle Themen. Hannovers Bürger und Touristen nutzen das Schloss hingegen für Besuche im Museum, in dem sie sich über die historischen Persönlichkeiten der Stadt informieren und barocke Schätze bestaunen können - und Fotos auf der Freitreppe.