Als in Heide gehandelt, getötet und diskutiert wurde
Bilder von früher im Vergleich mit Fotos von heute - möglichst aufgenommen von derselben Position: Das ist das zentrale Element der Serie "Schleswig-Holstein früher und heute". So wollen wir den Wandel der Städte im nördlichsten Bundesland dokumentieren. Ein interaktiver Foto-Vergleich macht das besonders deutlich.
von Katharina Kücke
Die Stadtführung beginnt vor der St.-Jürgen-Kirche in Heide, direkt neben dem Marktplatz. Hier war im Mittelalter das Zentrum einer Republik - der Bauernrepublik Dithmarschen. "Das kann man mit Europa vergleichen", erzählt Stadtführer Bernhard von Oberg. Die einzelnen Bezirke, erklärt er, wurden von Kirchspielen - also Kirchengemeinden - verwaltet, die selbstständig verhandelt haben.
Seit mehr als 500 Jahren findet auf dem Heider Marktplatz jede Woche ein Markt statt - heutzutage am Sonnabend. Das alte Foto ist 1902 entstanden, im Hintergrund ist die St.-Jürgen-Kirche zu sehen.
Grundstein für Heide wird 1434 gelegt
Wenn es Streit gab, beispielsweise mit Hamburg, habe das die anderen Kirchspiele - auch Döfften genannt - nicht interessiert. Sie waren ziemlich autark. Dennoch beschlossen die fünf Kirchspiele Überlieferungen zufolge, 1434 auf der freien Fläche - der Heide - zwischen den Dörfern eine Kapelle und einen Versammlungsort zu errichten. Hier wurde der Grundstein für Heide gelegt.
Die Heider Einkaufsmeile Friedrichstraße um 1905. Sie führt direkt zur St-Jürgen-Kirche und zum Marktplatz und ist auch heute noch beliebt.
Stadtführung in traditioneller Kluft
Die Stadtführung verläuft einmal ringsherum um die Kirche. Bernhard von Oberg kommt in traditioneller Kluft. Das gehört für ihn dazu. Seine Kleidung ist angelehnt an die mittelalterliche Volkstracht der Dithmarscher. Er trägt ein blaues Gewand mit einem Band als Gürtel, eine große Mütze und eine knöchellange Leinenhose. "Nur die Haare waren damals länger", schmunzelt er.
Von Oberg gräbt alte Geschichten aus
Von Oberg war jahrelang Pressesprecher vom Kreis Dithmarschen in Heide und ist seit etwa fünf Jahren im Ruhestand - oder auch Unruhestand, wie er selbst sagt. Er kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, lebt aber seit über 30 Jahren in Heide und gräbt gerne alte Geschichten aus, die in Vergessenheit geraten sind.
Die Anlage am Wulf-Isebrand-Platz mit dem Gebäude der "Dithmarscher Landeszeitung" im Jahr 1957. Die Redaktion ist auch heute noch in demselben Haus beheimatet.
Heides Wunder vom Dachdecker
Dass die Dithmarscher einst ziemlich religiös waren, zeigt eine Aufzeichnung des Chronisten Neocorus, den von Oberg gerne zitiert. Neocorus war Pastor in Wöhrden und Büsum und hat im 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts gelebt. In einer Schrift erinnert er an das Wunder von Heide. Es handelt von einem Dachdecker, der beinahe vom Kirchturm gefallen wäre.
Der Wasserturm gilt als Wahrzeichen von Heide. Er wurde 1903 errichtet, um die Stadt mit Wasser zu versorgen. Das Foto von der alten Österweide-Anlage ist im Jahr 1926 entstanden. Heute dient das Turmzimmer für Trauungen.
Eine Wolke und ein Kreuz erscheinen
Die Geschichte dazu: Als die Bauernrepublik 1559 ihre Unabhängigkeit verliert, brennt die St.-Jürgen-Kapelle vollständig ab. Als ein Dachdecker 1611 an der neu errichteten Spitze des Turms arbeitet, neigt sich der Turm plötzlich zur Seite.
Die Heider, die sich auf dem Marktplatz befinden, beobachten das Geschehen und bangen um ihn. Doch dann, so überliefert es Neocorus, erscheint eine Wolke über dem Dachdecker und ein Kreuz ist zu sehen. "Und alle sangen fromme Lieder und wir hatten ein Wunder", zitiert von Oberg.
Seit 1877 hat Heide einen Bahnhof. Er hat die Stadt mit Tönning, Husum, Neumünster und Meldorf verbunden, später auch mit Hamburg. Auf dem Foto von 1915 ist das alte Bahnhofsgebäude zu sehen, das 2011 abgerissen wurde. Heute befindet sich hier eine kleine Bahnhofsinsel.
Heides Marktplatz ist 4,7 Hektar groß
Die St.-Jürgen-Kirche liegt direkt neben dem größten Marktplatz Deutschlands. Mit 4,7 Hektar ist der Platz auch heute noch der größte unbebaute Marktplatz in der Bundesrepublik - nur Freudenstadt in Baden-Württemberg macht Konkurrenz.
Einkaufen ging einst nur am Wochenende
Im Mittelalter war der Platz an Markttagen immer voll. Man brauchte den Platz. Und es gab feste Orte für bestimmte Waren. "An der Ostseite standen die Ochsen", erzählt von Oberg. Und heute nur schwer vorstellbar: Einkaufen ging damals nur am Wochenende.
Von 1905 bis 1938 gab es nördlich vom Bahnhof Heide noch einen Kleinbahnhof. Eine Dampflok fuhr von hier aus nach Osten und schloss so die Gemeinden östlich von Heide an das Bahnnetz an. Das alte Foto ist 1927 entstanden. Heute wird das Gebäude unter anderem als Musikschule und Jugendzentrum genutzt.
Für viele Bauern war der Sonntag der einzige Tag in der Woche, an dem sie Zeit für den Einkauf hatten. Dafür nahmen einige sogar einen weiten Weg auf sich, wie von Oberg einem alten Briefwechsel entnimmt.
Als für 14- bis 60-Jährige die Wehrpflicht galt
Der Marktplatz hatte auch einen anderen Zweck: Hier wurden Piraten hingerichtet und er diente als Aufmarschplatz für das Militär. Noch heute legen viele Soldaten auf dem Platz ihr Gelöbnis ab.
Dithmarschen war vom 12. bis zum 15. Jahrhundert in fünf Wehrbezirke eingeteilt. Alle Dithmarscher Männer im Alter von 14 bis 60 Jahren waren wehrpflichtig. "Bis zu dem Zeitpunkt, wo sie mit dem Krückstock in die Kirche kamen", erzählt der Stadtführer.
Die Marktstraße am Marktplatz um 1953. Mittlerweile ist die Straße eine Verlängerung der Friedrichstraße und es gibt ein Restaurant.
Heide war beliebt: Zehn Jahre Friedhof mussten reichen
Zwischen Markt und Kirche gab es ab dem 16. Jahrhundert auch noch einen Friedhof. Heide war damals derart beliebt, dass die Liegezeit auf dem Friedhof auf der Rückseite der Kirche auf zehn Jahre verkürzt wurde. Zum Vergleich: In Wesselburen lag sie bei 40 Jahren.
Georgsbrunnen zeigt alle Ereignisse
Normalerweise steigt Bernhard von Oberg mit der Führung auf das Dach des Rathauses und auf den Wasserturm: "Von hier hat man einen tollen Blick über die Stadt." Das geht wegen Corona momentan aber leider nicht. Deswegen zeigt er anhand eines Brunnens in der Nähe der Kirche die Geschichte auf.
Der Georgsbrunnen sei der berühmteste Brunnen in Heide, erzählt von Oberg. Er wurde 1989 von dem Bildhauer Siegfried Assmann angefertigt. Auf dem Brunnen sind alle wichtigen Ereignisse rund um Heide zu sehen.
Die Stadtbrücke gibt es erst seit 1974. Sie wurde mit einem Umzug eingeweiht und verläuft oberhalb der Bahnschienen.
Die Eggen erinnern noch heute an die Kultur
Die Skulptur erinnert auch an die Eggen. Das waren bis zur Verleihung der Stadtrechte am 7. Juli 1870 Teilgemeinden, die auch heute noch existieren, allerdings nicht mehr selbst verwalten, sondern an die Kultur erinnern.
In Heide gibt es drei Eggen: Die Norder-, die Süder- und die Österegge. Die Westeregge gab es nur kurze Zeit. Auch heute noch erinnern die Eggen an Zusammenhalt und bewahren die plattdeutsche Sprache.
Das Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr im März 1955. Heute wird das Gebäude als Bürgerhaus genutzt. (Quelle der historischen Fotos: Stadtarchiv Heide)
Corona bremst auch den Stadtführer aus
Momentan finden fast gar keine Stadtführungen statt, sonst immer am Mittwochnachmittag und Sonderführungen am Wochenende. "Aber die Stadt läuft ja nicht weg", gibt sich Bernhard von Oberg optimistisch.
Er hofft, dass es im nächsten Jahr wieder richtig voll wird. Bis dahin hat er sicherlich wieder die ein oder andere Geschichte gefunden, die vor ihm schon lange keiner mehr erzählt hat.