Norderney: Vom "Schieberparadies" zum Touristenmagnet
Als Norderney am 5. August 1948 die Stadtrechte erhält, ist die Insel noch fest in britischer Hand. Soldaten der Rheinarmee verbringen ihre Ferien auf der Insel. Deutsche Gäste gibt es nur wenige - sie tauschen Schnaps oder Zigaretten gegen Urlaub.
Noch im Zweiten Weltkrieg gehört Norderney zur ersten Verteidigungslinie der deutschen Wehrmacht. Wie schon im Ersten Weltkrieg wird die Insel zum militärischen Sperrgebiet erklärt - und gleicht einer Seefestung mit Bunkern, Militäreinrichtungen, der Marinebahn zum Transport von Munition sowie dem Fliegerhorst. In den Dünen werden mehrere Flugabwehrbatterien gebaut, sie sollen feindliche Bomberstaffeln auf ihrem Weg zu den deutschen Großstädten abschießen. Die britischen Piloten bezeichnen das hochgerüstete, wehrhafte Eiland auch als "Hedgehog" ("Igel"). Für die vielen deutschen Soldaten und Offiziere werden umfangreich Kasernen und Wohngebäude errichtet - so entstehen die Nordhelmsiedlung, etliche Wohngebäude rund um die Mühlenstraße und die Sporthalle.
Insel ist im Zweiten Weltkrieg für Tourismus gesperrt
Gleichzeitig ist die Insel in den ersten Kriegsjahren noch Ort der Kinderlandverschickung. Stadtkinder sollten sich bei diesen Aufenthalten auf dem Land erholen. Doch als am Gründonnerstag 1941 bei Angriffen durch britische Tiefflieger Kinder ums Leben kommen, werden ganze Schulklassen aus Norderney evakuiert und bis nach Österreich "verschickt". Für Zivilpersonen ist die Insel ohnehin gesperrt, jeglicher Tourismus ist verboten. Dadurch erlebt diese Branche im Krieg einen vollständigen Einbruch.
Britische Rheinarmee errichtet "Leave Centre" auf Norderney
In der Nachkriegszeit prägen die Engländer zunächst das Inselleben. Die britische Rheinarmee errichtet ab 1946 ein Sommer-Erholungslager, ein sogenanntes Leave Centre, auf Norderney. Dafür beschlagnahmen die Briten die ersten Häuser am Platz, zum Beispiel das "Hotel Germania", das Kurhaus, die Schwimmbäder und den Golfplatz. Die bekannte "Milchbar am Meer" dient den Soldaten und ihren Familienangehörigen als "Tea- and Coffeeroom". In einem Strandkorb-Schuppen unterhalb der Georgshöhe bieten Offiziere ihren Landsleuten Reitgelegenheiten an. Schließlich wollen die Besatzer alle Annehmlichkeiten für sich beanspruchen - und sie nutzen dafür alle Möglichkeiten, die ihnen als Kriegsgewinnlern zustehen. So ist die berühmte Kaiserstraße, die erste Adresse auf der Insel mit Seeblick, bald vollständig in britischer Hand.
Engländer beschlagnahmen Hotels - und Haushaltgeräte
Aber nicht nur Hotels und Kureinrichtungen gehen in die Hände der britischen Besatzer über, auch Pensionen und Logierhäuser. Darüber hinaus beschlagnahmen sie je nach Bedarf auch Haushaltgeräte. Über alle Gegenstände führen sie ausführlich Buch: Auf einer Liste vom 22. Mai 1945 zum Beispiel werden 750 Matratzen, 750 Betttücher und 1.500 Teller aufgeführt, zwei Tage später 44 Flaschen Wein. "Und tatsächlich taucht hier in diesen Listen alles auf, auch wenn es noch so einen geringen Wert hat, wie ein Toast-Röster für eine Reichsmark Verkaufswert", erläutert Insel-Archivar Matthias Pausch in der NDR Dokumentation "Happy Birthday Niedersachsen" von Anfang Juni 2021.
Bis Anfang der 1950er-Jahre bleibt Norderney ein beliebtes Reiseziel für britische Soldaten und ihre Familien. Sie vergnügen sich an Stränden, die für Einheimische noch gesperrt sind. Das "Leave Centre" besteht noch bis 1952.
Schnaps und Zigaretten als Währung für den Urlaub
Noch während die Briten auf Norderney Urlaub machen, genehmigt die Militärregierung einen eingeschränkten Kurbetrieb. Doch für Erholungssuchende und Touristen aus dem eigenen Land ist nach Kriegsende zunächst kaum Platz auf der Insel, denn viele der Unterkünfte dienen der Unterbringung Hunderter Kriegsflüchtlinge und Vertriebener aus den ehemaligen Ostgebieten. Die ersten wenigen deutsche Gäste auf der Insel bezahlen ihren Urlaub in den Nachkriegsjahren oft mit Naturalien. Speck und Schnaps, aber auch Lebensmittelmarken sind beliebte Tauschwaren für Gästezimmer. Zumeist sind aber Zigaretten die gebräuchlichste Ersatzwährung für die wertlos gewordene Reichsmark. Für die Teilnahme an einer Tanzveranstaltung bestechen Urlauber auf diese Weise schon mal einen Portier.
Währungsreform 1948 trocknet den Schwarzmarkt aus
Zeitungen wie die "Berliner Illustrierte" betiteln den Schwarzhandel auf den Ostfriesischen Inseln als "Paradies der Schieber" und "trauriges Nachkriegskapitel". Es sei kein Geheimnis gewesen, dass tagtäglich diverse Schnapsflaschen und sonstige Güter den Besitzer gewechselt haben. Aber es müsse schon eine durchaus wilde Zeit gewesen sein, sagt Insel-Archivar Matthias Pausch mit Blick auf die damalige Versorgungslage. Versuche der Alliierten, den Schwarzhandel in Deutschland zu unterbinden, bleiben in der Regel erfolglos. Denn bis zur Währungsreform im Jahr 1948 sitzt das Geld bei den Deutschen knapp. Erst durch Einführung der D-Mark normalisiert sich in der Folge das Warenangebot, das schließlich den Schwarzmarkt austrocknet.
Wirtschaftswunder in den 50ern lässt Tourismus aufblühen
1952 geben die Briten die beschlagnahmten Kureinrichtungen wieder frei. Das ermöglicht einen geregelten Kurbetrieb für deutsche Erholungssuchende. Das Wirtschaftswunder und der Anstieg der Kaufkraft fördern die Lust am Konsum der Deutschen, auch am Reisen. In den 50er-Jahren zieht es viele Urlauber an die Nordseeküste, das lässt auch den Tourismus auf Norderney wieder richtig erblühen. Urlauber strömen aus Bayern, Hamburg oder dem Rheinland auf das Eiland. Aber auch Gäste aus dem Ausland zieht es auf die zweitgrößte der Ostfriesischen Inseln. Zu ihnen gehören unter anderem Schweden und Schweizer.
Insulaner vermieten ihre Schlaf- und Kinderzimmer
1959 geht als Wahnsinns-Sommer in die Geschichtsbücher Norderneys ein. Das gute Wetter löst einen regelrechten Insel-Boom aus, erstmals kommen mehr als 100.000 Kurgäste und Besucher. Anfang der frühen 1960er-Jahre hält sich dieser Trend, Fremdenbetten sind heiß begehrt. Die Insulaner sind findig und vermieten jedes Bett, das sie besitzen. Sie selbst ziehen in ihre Keller - und bieten den Urlaubern ihre Schlaf- und Kinderzimmer an. Das Wohnzimmer dient als Frühstücksraum. Da es keine Imbisse und nur wenige Restaurants auf der Insel gibt, stehen die Feriengäste Schlange, um zu essen. Jeder freie Platz wird besetzt, so dass Ehepaare oft nicht zusammensitzen können. Und die Menschen zeigen sich nach Jahren der Entbehrungen zufrieden: "Sie wollten essen, sie wollten auch satt werden - das war die Zeit des Nachholens. Hurra, wir leben noch!", schildert Tjark Gramberg die Situation in der NDR Dokumentation "Happy Birthday Niedersachsen". Er stammt aus einer alten Norderneyer Familie und ist Hotelier in der vierten Generation.
Touristen-Boom verändert das Stadtbild der Insel
Im Zuge des anhaltenden Touristen-Booms entstehen ab den 60er- und 70er-Jahren neue kastenförmige Appartementhäuser und Hotels auf Norderney. Sie verändern das Stadtbild - auch in der ehemals mondänen Kaiserstraße - nachhaltig, weil sie die alten Bädervillen und Logierhäuser zunehmend verdrängen. Am Nordstrand schießen außerdem zwei Hochhäuser in die Luft, am Weststrand fällt der Blick auf eine Reihe von mehrgeschossigen Hotels, die unmittelbar hinter den historischen Strandhotels stehen.
Norderney ist Tourismus-Magnet der Ostfriesischen Inseln
Seit 1947 ist Norderney "Staatlich anerkanntes Nordseeheilbad", ein Jahr später - am 5. August 1948 - bekommt die Insel die Stadtrechte. Norderney ist aktuell das führende Nordseebad in Ostfriesland: Die gut 6.000 Einwohner zählenden Insel registriert - nach der Corona-Pandemie - jährlich fast drei Millionen Übernachtungen. Zum Vergleich: Borkum, die größte der sieben Inseln, kommt auf gut zwei Millionen Übernachtungen. Der Tourismus ist der größte Wirtschaftsfaktor rund um die Ostfriesischen Inseln und dem niedersächsischen Nationalpark Wattenmeer.