Stand: 08.02.2015 10:24 Uhr

Mit einer App durchs ehemalige KZ

von Vassili Golod

Die Vorstellung, mit einer App durch ein ehemaliges Konzentrationslager zu gehen, mag im ersten Moment irritieren. Bei einem KZ gehen die Gedanken an unendliches Leid, das Millionen von Menschen während des NS-Regimes widerfahren ist. Dagegen suggerieren Apps zunächst moderne Technik und Spaß. Dass die Technik auch für ein ernstes Anliegen genutzt werden kann, zeigt die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie nutzt eine App, um Besuchern das historische Gelände näherzubringen.

Der Praxistest beginnt

Kalter Wind, grauer Himmel, Regen. Aus der Lagerzeit ist auf dem mehrere Dutzend Hektar großen Gelände nicht mehr viel erhalten. Eine große Grünfläche und Bäume lassen es wie einen Park erscheinen. Aber Bergen-Belsen ist alles andere als ein Park. Zig Tausende Menschen sind an diesem Ort zu Tode gekommen, wurden von den Nationalsozialisten in den Tod getrieben. 13 Massengräber sind auf dem Gelände verteilt.

Warum Bergen-Belsen auf moderne Technik setzt

Historiker wie Stefan Wilbricht kümmern sich darum, dass dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte niemals vergessen wird. Doch das wird zunehmend komplizierter. "Wir haben ja zunächst mal das Problem, dass wir in diesem Jahr den 70. Jahrestag der Befreiung begehen", sagt Wilbricht. "Wir kommen dadurch immer weiter weg von dem Ereignis, um das es uns eigentlich geht. Jede neue Generation hat viel mehr Schwierigkeiten, sich mit diesen Ereignissen in Verbindung zu setzen."

App liefert virtuelle Rekonstruktion

Um neue Generationen zu erreichen, muss sich auch die Geschichtswissenschaft entwickeln, findet Wilbricht. Gemeinsam mit Historiker-Kollegen aus der Gedenkstätte und einem Informatiker-Team aus Barcelona hat er deshalb die Bergen-Belsen-App entwickelt. Diese App verortet die Besucher über ein GPS-Signal im Gelände und zeigt ihnen präzise an, wo sie sich befinden. Das Besondere: Die App liefert außerdem eine virtuelle Rekonstruktion des ehemaligen Lagers. In bewusst zurückhalternder Form werden die Standorte der ehemaligen Baracken sowie Zaunverläufe skizziert. So können sich Besucher die Dimensionen des ehemaligen Lagers besser vor Augen führen.

Auf Leih-Tablets vorinstalliert

An bestimmten Orten sind außerdem verschiedene historische Quellen hinterlegt. "Die App macht das Gelände ein Stück weit zu einem Archiv", erklärt der Historiker. "Der Benutzer hat die Möglichkeit, sich historisches Quellenmaterial wie Texte, Bilder, Zeichnungen oder auch Audios auf dem Gelände selber zu erschließen. Er erläuft sich im Prinzip historisches Material." Die Bergen-Belsen-App ist auf hauseigenen Tablet-Computern vorinstalliert. Zehn Geräte gibt es bereits, weitere sollen folgen.

Technik verändert Wirkung des Ortes

Der Screenshot zeigt eine virtuelle Ansicht des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. © NDR Foto: Vassili Golod
In bewusst zurückhalternder Form werden die Standorte der ehemaligen Baracken sowie Zaunverläufe skizziert. (Screeshot)

Ohne die App wäre etwa auch der Standort einer ehemaligen Latrine gar nicht zu erkennen. "Hier zum Beispiel haben wir auch eine Audioquelle verortet. Die ist aus einer Rede, die Jehuda Blum 2003 bei uns in der Gedenkstätte gehalten hat", erklärt Wilbricht. Er wechselt auf dem Tablet von der Kartenansicht auf den Menü-Punkt "Rekonstruktion des Jahres 1944" und klickt ein kleines Symbol neben der eingezeichneten Latrine an. Der Zeitzeuge beginnt zu sprechen - und spricht genau über den Ort, an dem wir heute stehen. Die Wirkung ist eine ganz andere als im Museum. Man fühlt sich der Geschichte plötzlich sehr viel näher.

App ersetzt weder Historiker noch Führungen

Die Historikerin Astrid Homann hat die App ebenfalls getestet und kritisiert die technische Einflussnahme. "Man hat immer eine Ebene, die dazwischengeschaltet ist und ist nicht mehr in der direkten visuellen Kommunikation mit dem Ort", stellt Homann fest. "Ich finde es durchaus auch produktiv, wenn nicht alles sofort verstanden wird und es Irritationen gibt oder überraschende Momente." Hier sei die pädagogische Vermittlung des Historikers gefragt. Doch die werde gar nicht infrage gestellt, betont der Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, Jens-Christian Wagner. Fragen und Gespräche werde es auch in Zukunft geben. Die App soll weder Historiker noch Führungen ersetzen, sondern ausschließlich bei ihrer pädagogischen Arbeit unterstützen. "Neue Medien sind immer nur ein Hilfsmittel", so Wagner. "Aber ein sehr gutes, um das Ziel unserer Arbeit umzusetzen: bei unseren Besuchern ein kritisches Bewusstsein und ein historisches Urteilsvermögen zu wecken."

App kommt bei Jugendlichen an

In der Praxis funktioniert das offenbar: Die Bergen-Belsen-App wurde bereits von verschiedenen Besuchern getestet, unter anderem von Schulklassen. In Kleingruppen haben die Schüler mit Hilfe der Tablets das Gelände erkundet und sich intensiv mit den verschiedenen Quellen auseinandergesetzt. Im Anschluss wurden die Ergebnisse diskutiert. "Während Senioren eher zurückhaltend reagieren, kommt der multimediale Zugang zur Geschichte gerade bei den jungen Menschen an", berichtet Wilbricht. Auch Familienangehörige ehemaliger Gefangener sind mit der App über das Gelände gegangen. Besonders berührt war der Historiker von der Reaktion eines jungen Paares, das einen Familienangehörigen in dem Lager verloren hat. Die App führte sie zu einer Gruppe von Bäumen. "Sie stehen an der Stelle der Baracke von damals. Sie haben jetzt einen viel konkreteren Ort, an den sie gehen können." Bei Weggehen habe das Paar gesagt: "We now have something like closure". Wir haben nun so etwas wie einen Abschluss.

Publizist Broder verurteilt die App

Die Bergen-Belsen-App polarisiert. Anerkennung auf der einen Seite und Ablehnung auf der anderen. Während technischer Fortschritt in der Naturwissenschaft nicht zur Debatte steht, tut sich die Geschichtswissenschaft schwer damit. Einige fürchten sich davor, in Zukunft womöglich ihre Jobs zu verlieren, andere werfen dem neuen Ansatz Voyeurismus vor. So hält beispielsweise der Publizist Henryk M. Broder wenig von dieser neuen Form der Aufarbeitung und verleiht seiner Meinung in aller Schärfe Ausdruck. Jüdische Austauschhäftlinge "sind keines virtuellen sondern eines realen Todes gestorben. Und keine App wird sie ins Leben zurückholen", schreibt er in einem Blog-Artikel von 2013. Broder hat die App, über die er urteilt, übrigens nie selbst getestet.

Gedenkstätte will sich nicht ausbremsen lassen

Populismus, pauschale Kritik und Ablehnung neuer Methoden - das ist keine Seltenheit für Stefan Wilbricht und seine Kollegen. "Einfach mal machen", lautete daher das interne Motto des Historiker-Teams. "Wir sind ein Ort der Vermittlung, wir sind ein Ort der Wissenschaft, wir sind ein Ort der Erinnerung, wir sind ein Ort der Aufarbeitung - das heißt, wir müssen uns auch weiterentwickeln. Wir müssen auch einfach mal verschiedene Dinge ausprobieren dürfen und können. Wir suchen den Diskurs, aber wir wollen uns davon auch nicht ausbremsen lassen", findet Wilbricht deutliche Worte.

App läuft noch nicht reibungslos

So richtig reibungslos läuft die Bergen-Belsen-App noch nicht. Ab und an kommt es vor, dass die GPS-Verbindung abbricht oder die App abstürzt. Trotzdem: Die Gedenkstätte Bergen-Belsen hatte offenbar den Mut für einen Schritt in die Zukunft. Obwohl die historischen Ereignisse immer weiter in die Ferne rücken, könnte die Erinnerungskultur mit Hilfe dieser neuen technischen Möglichkeiten gewahrt und sogar ein Stück weit erfahrbarer gemacht werden.

Wer die App selbst testen möchte, sollte sich am besten vorher in der Gedenkstätte anmelden. Bisher wurde die neue Technologie nur an ausgewählten Besuchergruppen ausprobiert und ist aufgrund der begrenzten Tablet-Zahl nicht immer spontan verfügbar.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | 27.01.2015 | 14:50 Uhr

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