Vor dem Holstentor in Lübeck fahren Pkw entlang, aufgenommen 1965. © picture alliance/United Archives | Siegfried Pilz Foto: Siegfried Pilz

Lübecks Altstadt: Erst von Bomben zerstört, dann von Planern

Stand: 18.02.2024 00:00 Uhr

Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg beschließt die Lübecker Bürgerschaft am 17. Februar 1949 den Wiederaufbau der Altstadt. Doch zunächst verschwinden weitere historische Bauten. Erst später setzt ein Umdenken ein.

von Daniel Sprenger, NDR.de

"Die eigentlichen Zerstörungen in den von Bomben getroffenen Altstadtquartieren erfolgten nicht nur an Palmarum 1942, sondern durch die Aufräumarbeiten und die im Zuge des Wiederaufbaus realisierten städtebaulichen und baulichen Veränderungen." Hansestadt Lübeck, Abschlussbericht zur städtebaulichen Gesamtmaßnahme Altstadt

In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 bricht aus dem Nichts der Feuersturm über Lübeck los: Gegen 23.20 Uhr schlagen die ersten Bomben in der Altstadt ein. Rund 8.000 Stabbrandbomben, 400 Flüssigkeitsbomben und 300 Sprengbomben folgen in den kommenden Stunden. 234 Flugzeuge der britischen Royal Air Force überziehen die Stadt als erste im Deutschen Reich mit einem Bombenhagel - auch der Dachstuhl von St. Petri aus dem 13. Jahrhundert wird getroffen. Später stehen auch die Türme von St. Marien und der Dom in Flammen beim "Palmarum 1942". So wird der Bombenangriff in Lübeck auch genannt, weil er an einem Palmsonntag, dem Sonntag vor Ostern, stattfand. Dieser ist im liturgischen Jahr auch als Palmarum bekannt.

Mehr als 320 Menschen sterben in den Trümmern - die genaue Zahl der Toten ist unklar. Fast 800 Menschen werden verletzt, weit über 15.000 sind obdachlos. Fast 1.500 Häuser in der eng bebauten und von schmalen Gängen durchzogenen Altstadt sind völlig zerstört, 2.200 schwer beschädigt und weitere 9.000 in Mitleidenschaft gezogen - insgesamt gut die Hälfte der 22.000 Gebäude in der Stadt. Vor allem die westliche Altstadt wird heftig getroffen, hierdurch zieht sich eine 500 Meter breite Schneise der Zerstörung. Im Dezember 2020 zieht das Stadtplanungsamt der Hansestadt Lübeck Bilanz nach Jahrzehnten des Wiederaufbaus und geht mit den Städteplanern der Kriegs- und Nachkriegsjahre hart ins Gericht. Nachzulesen ist das im Abschlussbericht zur städtebaulichen Gesamtmaßnahme Altstadt.

Aufräumen beginnt schon während des Krieges

"Man begann unverzüglich mit dem 'Aufräumen', das heißt, die ausgebrannten Häuser wurden gesprengt, mit Maschinenkraft oder von Hand abgebrochen und später als Trümmerflächen planiert - zum einen wegen der drohenden Einsturzgefahr, noch mehr aber mit der hoffnungsvollen Vision einer alsbald auf den Ruinen neu zu erbauenden 'modernen' Stadt." Hansestadt Lübeck, Abschlussbericht zur städtebaulichen Gesamtmaßnahme Altstadt

Diese Vision der "modernen Stadt" wird bereits während der Kriegsjahre unter der nationalsozialistischen Herrschaft vorangetrieben. Bereits im Mai 1942 beginnt der städtische Baudirektor Hans Pieper mit der Planung für den Neuaufbau, der bewusst nicht als Wiederaufbau gedacht wird. Die Altstadt soll zu einem von Grünflächen durchzogenen Verwaltungs- und Geschäftszentrum werden. Für die Neuordnung des Verkehrs plant Pieper die Verbreiterung der Hauptverkehrsachsen. Es gibt laut der Rekonstruktion des Lübecker Stadtplanungsamts noch weitere Pläne, die sich alle am "historischen Geist" der Lübecker Altstadt orientieren, aber letztlich einen Neuaufbau mit einer neuen Grundstücksstruktur vorsehen. Bis Kriegsende bleiben die Pläne geheim.

"Erst nach Kriegsende begann eine öffentliche Diskussion um die Zukunft der Altstadt. Dabei stand im Mittelpunkt der Überlegungen das Ziel, eine verkehrsgerechte 'moderne' Stadt zu schaffen", so der Bericht des Stadtplanungsamts. Außer Frage habe einzig der Wiederaufbau der Kirchen gestanden.

VIDEO: Kirchturm in Lübeck wird erneuert (stumm) (1 Min)

Die Verkehrsplanung aus der Kriegszeit fließt später in den Bebauungsplan der Innenstadt ein, den Stadtbaudirektor Georg Münter 1949 vorlegt. Dieser sieht ebenfalls eine Verbreiterung der Hauptverkehrsachsen und eine weitgehend geschlossene Blockrandbebauung mit großen Innenhöfen in den zerstörten Teilen der Stadt vor.

Beschluss zum Wiederaufbau 1949: Historische Struktur bewahren

Die Lübecker Bürgerschaft fasst am 17. Februar 1949 jedoch einstimmig den Grundsatzbeschluss, beim Wiederaufbau die historische Struktur des Stadtgrundrisses zu bewahren. Den notwendigen Straßenverbreiterungen sollten keine denkmalgeschützten Häuser zum Opfer fallen. Um den Durchgangsverkehr aus der Innenstadt herauszuhalten, müssten bessere Umfahrungsmöglichkeiten geschaffen werden, so die Idee dahinter. Doch die Realität torpediert das hehre Ziel: "Dieser politische Anspruch wurde in der Folgezeit nur bedingt eingehalten", so die nüchterne Bilanz der Lübecker Stadtplaner 2020.

Abbrüche gehen dennoch weiter - obwohl Erhalt möglich gewesen wäre

Die Abbrüche der beschädigten Baumasse ziehen sich zum Teil noch bis in die Mitte der 1950er-Jahre hin. Dabei wäre ein Erhalt der Bausubtanz wohl möglich gewesen. Weil die Royal Air Force bei ihrem Angriff überwiegend Brandbomben eingesetzt habe, seien in den zerstörten Häusern meist die hölzernen Dachwerke und Decken bis auf die Kellerdecken durchgebrannt. "Die Giebel, die mittelalterlichen Brandmauern und wohl die meisten Keller jedoch waren unbeschädigt geblieben", bilanziert der Bericht des Stadtplanungsamtes. Doch: "Die unzerstörten Umfassungsmauern wurden nicht gesichert."

"Die 'zweite Zerstörung' der Altstadt durch die Sprengungen, als schon längst keine unmittelbare Einsturzgefahr mehr bestand, zeigt, dass trotz gegenteiliger Beteuerungen an einer Erhaltung des kostbaren städtebaulichen und architektonischen Erbes kein ernsthaftes Interesse bestand." Hansestadt Lübeck, Abschlussbericht zur städtebaulichen Gesamtmaßnahme Altstadt

Karstadt Sports in der Altstadt von Lübeck, aufgenommen im April 2015. © picture alliance / Robert B. Fishman
Auch dieses Kaufhaus in der Holstenstraße fügt sich nicht wirklich harmonisch in die Altstadt ein.

Doch nicht nur beschädigte Gebäude müssen bis in die 1960er-Jahre weichen. Die Bauverwaltung verfolgt mit ihrem Wiederaufbauplan das Ziel einer radikalen Modernisierung und einer City-Bildung der Innenstadt. "Sozialprestige und Wertschätzung der Altstadt sanken. Großflächige Abbrüche mittelalterlicher Hausreihen im Zentrum der Stadt - wie für das Textilkaufhaus C&A in der Mühlenstraße oder für das Karstadt-Kaufhaus an der Südseite des Schrangen - erschienen selbstverständlich und für die Modernisierung der Stadt notwendig", so das traurige Zwischenfazit der Lübecker Stadtverwaltung. Für den Brutalismus-Klotz des C&A-Kaufhauses werden noch 1967 elf historische Bürgerhäuser abgerissen.

Fehlendes Geld als bester Denkmalschützer

Doch große Teile der Altstadt sind allen Kriegsfolgen und mutwilligen Abbrüchen noch halbwegs intakter Baustrukturen zum Trotz heute noch erhalten. "Besonders in den dicht bebauten Gängevierteln und Querstraßen setzte sich der bauliche Verfall der Häuser und damit einhergehend auch eine Geringschätzung dieser Gebiete und deren Bewohner:innen fort, der schon im frühen 20. Jahrhundert begonnen hatte", heißt es in dem Bericht weiter. Dass heute dennoch viele Giebelhäuser und Gängeviertel Einheimische wie Touristen begeistern, ist zunächst nicht großem Engagement oder viel Geld zu verdanken - sondern im Gegenteil Desinteresse und zu wenig Geld: "Den fehlenden Investitionen und dem geringen Ansehen der übrigen Altstadtbereiche in jener Zeit verdanken wir heute die Erhaltung einer in Nordeuropa einzigartigen mittelalterlichen Stadt."

166 Millionen Euro Städtebauförderung fließen in die Altstadt

Das ändert sich erst in den 1970er-Jahren. 1971 beschließt der Bundestag das "Städtebauförderungsgesetz". Bereits ein Jahr später legt die Stadt Lübeck die ersten drei Sanierungsgebiete in der Altstadt fest. Mit Fördermitteln von Bund und Land Schleswig-Holstein wird die Bausubstanz instand gesetzt und dabei die historische Struktur beibehalten oder wiederhergestellt. Ein neuer Fokus wird auf das Wohnen in dafür besser hergerichteten alten Häusern gelegt, die soziale Komponente erhält Einzug in der Städteplanung.

In den folgenden knapp fünf Jahrzehnten werden insgesamt 25 Sanierungsgebiete definiert, in die 166 Millionen Euro Städtebauförderung fließen, wie Bausenatorin Joanna Hagen bilanziert. "Diese Fördergelder haben dazu beigetragen, dass zahlreiche Einzelobjekte instand gesetzt, von störenden Um- und Anbauten befreit und mit zeitgemäßer Technik ausgestattet wurden", resümiert Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau (SPD) 2020 nach erfolgtem Abschluss der Innenstadtsanierung.

"Gerade noch rechtzeitig erkannt, was verloren geht"

Die zerschmetterten Glocken der Ratskirche Sankt Marien in Lübeck © picture-alliance / Paul Mayall Foto: Paul Mayall
Die Glocken stürzten aus dem brennenden Süderturm der Marienkirche herab. Sie liegen heute noch genau an derselben Stelle wie damals - als Mahnmal.

Das staatliche Geld löst wiederum ein Vielfaches an privaten Sanierungsinvestitionen aus. "Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die stadtplanerischen Ideen der Nachkriegszeit hatten deutliche Spuren hinterlassen", schreibt Lindenau weiter. "Die Wertschätzung der Altstadt war gering und wertvolle historische Bausubstanz in weiten Teilen dem Verfall preisgegeben. Gerade noch rechtzeitig wurde erkannt, was verloren geht, wenn dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten wird."

Der Wiederaufbau des Doms endet 1982 mit der Wiedereröffnung der Paradiesvorhalle. Die UNESCO ernennt die Lübecker Altstadt im Jahr 1987 zum Weltkulturerbe - gleichwohl sind viele Kulturschätze seit der Bombennacht für immer verloren. In der Marienkirche waren im Feuersturm die Glocken des Süderturms herabgestürzt. Noch heute liegen sie dort - als Mahnmal und Erinnerung an das "Palmarum 1942".

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