KZ Wittmoor: Wo die Nazis auf Umerziehung setzten
Am 18. Oktober 1933 lösten die Nationalsozialisten ihr erstes Hamburger KZ schon wieder auf. In Wittmoor gab es noch keine systematische Folter wie in anderen Lagern. Heute ist von den Gebäuden nichts mehr zu sehen.
"Lieber Gott mach mich fromm, dass ich nicht nach Wittmoor komm'!" So raunten es sich Hamburger Arbeiter im Jahr 1933 zu. Gemeint ist das erste Hamburger Konzentrationslager: Das KZ Wittmoor bestand nur etwas mehr als sechs Monate - im Dorf Glashütte, im heutigen Stadtgebiet von Norderstedt. Am 18. Oktober 1933, lösten es die Nationalsozialisten schon wieder auf. Aber wie groß war das Grauen im KZ Wittmoor tatsächlich? Aus Zeitzeugen-Berichten weiß man heute: In dem Konzentrationslager war der NS-Terror noch nicht so ausgefeilt wie in späteren Lagern. Todesopfer sind nicht bekannt, systematische Folter kam nicht vor. "So richtig üble Schikane gab es nicht im Wittmoor", erzählte nach dem Krieg einer der Ex-Häftlinge. Die Eingesperrten hätten sogar mit der Wachmannschaft Fußball gespielt.
Ein Baumarkt und zwei Gedenksteine
Vom einstigen KZ Wittmoor ist nichts mehr zu sehen. Auf dem Gelände in Norderstedt steht heute ein Baumarkt mit einem großen Parkplatz. Nur das Moor ist noch da, in dem die Häftlinge den ganzen Tag über Torf stechen mussten. In dem heutigen Naturschutzgebiet erinnern zwei Gedenksteine an die unrühmliche und weithin unbekannte Geschichte eines der ersten Konzentrationslager im "Dritten Reich".
Eine ausgediente Torf-Fabrik
Gerade mal zwei Monate nach der Machtergreifung - am 31. März 1933 - hatten die Nationalsozialisten beschlossen, auf dem Gelände einer stillgelegten, verfallenen Torfverwertungsfabrik in Glashütte ein Lager für "Schutzhäftlinge" einzurichten. So nannten die Nationalsozialisten politische Gegner, die "zum Schutz von Volk und Staat" aus dem Verkehr gezogen werden sollten. Sie hatten vor allem Kommunisten im Blick, die am aktiven Widerstand gehindert werden sollten. Da jeden Monat Hunderte Männer verhaftet wurden, waren die Hamburger Gefängnisse schnell überfüllt. Also musste ein zusätzliches "Schutzhaftlager" her. Die Wahl fiel auf das Fabrikgelände, das praktischerweise Hamburg gehörte.
Die Gefangenen sollten umerzogen werden
Offizielles Ziel war die "Umerziehung" der Häftlinge. Den Männern sollte die nationalsozialistische Weltanschauung und Arbeitsfreudigkeit eingeimpft werden. So wurde es auch den Lager-Insassen bei ihrer Ankunft verkündet. Einer der Gefangenen konnte sich auch Jahrzehnte später gut an die Begrüßungsrede eines Polizeioffiziers erinnern: "Es wäre an der Zeit, dass wir Volksverhetzer und Faulenzer wieder arbeiten lernen würden", habe der Polizeioffizier gesagt. "Wir sollten uns ja nicht einbilden, dass es im Lager ein Zuckerschlecken gäbe. Bei Fluchtversuchen werde sofort geschossen." Das Konzentrationslager war der Hamburger Polizeibehörde unterstellt - und wurde nicht in SA- oder SS-Regie geführt. Aber die Wachmannschaften wurden von SA-Männern unterstützt.
Noch ging es nicht darum, die KZ-Häftlinge durch Arbeit zu vernichten - so wie es später in Hamburg besonders im KZ Neuengamme der Fall war.
Bis zu 140 Gefangene
Die ersten 20 "Schutzhäftlinge" kamen im April 1933 nach Wittmoor. Es waren ausgewählte Handwerker, die die maroden Gebäude erst einmal herrichten mussten. Im Mai waren es dann schon rund 100 Gefangene. Die höchste Zahl wurde im September 1933 mit 140 Gefangenen erreicht. Neben Kommunisten landeten aber auch unpolitische Männer im KZ Wittmoor, beispielsweise ein "Bibel-Forscher" und ein arbeitsloser Maurer. Das "Verbrechen" des Arbeitslosen: Er verkaufte auf den Straßen Obst mit dem Ruf: "Schöne rote Äpfel, schöne rote Äpfel, frei von braunen Flecken." Beinahe täglich wurden neue Verhaftete ins Lager gebracht. "Hin und wieder kam die Gestapo und holte sich welche heraus. Die haben sie dann unterwegs in der Landschaft fürchterlich verprügelt", erinnert sich ein Ex-"Schutzhäftling". "Im Lager jedoch geschah so etwas nicht."
Zeitungsreporter schildern ihren Besuch
Die Nationalsozialisten verheimlichten das KZ Wittmoor nicht. Wiederholt kamen Zeitungsreporter ins Lager. Der Tenor der Berichterstattung: Die Häftlinge werden gut behandelt. "Es sind weder Paläste noch Hütten, in denen die ehemaligen 'Soldaten Moskaus' ihre Nächte verbringen, sondern geräumige, gesunde Säle mit viel frischer Luft", schreiben die "Hamburger Nachrichten" am 26. Mai 1933 - ganz im Sinne der Nationalsozialisten. Mit den Mahlzeiten im Lager könnten "selbst Heißhungrige zufrieden sein".
Hungerstreik wegen schlechten Essens
Ganz so reichhaltig waren die Mahlzeiten aber nicht. Die Gefangenen berichteten von miserablem Essen: "Wassersuppen, kaum Kartoffeln darin und Fleisch schon gar nicht". Die Häftlinge wagten sogar einen Hungerstreik und verweigerten die Arbeit im Moor. Die Folge? Am selben Abend kamen SA-Männer mit einer großen Pfanne Bratkartoffeln und Spiegeleiern und solidarisierten sich mit den Gefangenen. Besuch von Familienangehörigen war zu bestimmten Zeiten erlaubt, es durften auch Pakete mit Essen und Zigaretten mitgebracht werden.
Fluchtversuch aus Heimweh
Zermürbend für viele Gefangene war, dass sie nicht wussten, wie lange sie im Lager festgehalten werden. Eines Nachts türmte aus diesem Grund ein Gefangener. "Es war ein Unpolitischer, der nicht wusste, warum er verhaftet worden ist", schilderte ein Augenzeuge später. "Er hatte ein derartiges Heimweh, dass er einfach abgehauen ist." Die anderen Gefangenen wurden geweckt und mussten den Entflohenen im Moor suchen. Erst Wochen später wurde der Entwischte gefasst und zurück ins KZ Wittmoor gebracht. Dies war der einzige Fluchtversuch, der überliefert ist. Dabei wäre es wohl recht leicht gewesen, sich vom Gelände zu stehlen. So schilderten es Ex-Gefangene. Es gab nur einen - nicht sonderlich hohen - Stacheldraht-Zaun. Die Wachen allerdings waren bewaffnet.
Reichsstatthalter Kaufmann: "Zu wenig geprügelt"
Hamburgs Reichsstatthalter Karl Kaufmann besuchte das KZ Wittmoor im August 1933. Er zeigte sich zutiefst unzufrieden mit der Behandlung der Gefangenen. Den Männern im Lager gehe es zu gut. Kaufmann beklagte, "dass dort zu wenig geprügelt werde". Zu dieser Zeit - im August 1933 - gab es noch Überlegungen, das KZ Wittmoor zu erweitern, um Hunderte weitere Gefangene unterbringen zu können. Aus Sicherheits- und Kostengründen gaben die Nationalsozialisten diesen Plan aber auf. Sie setzten fortan ganz auf das KZ Fuhlsbüttel im Hamburger Norden, das im September 1933 errichtet wurde.
Im Herbst 1933 wurde das Lager geräumt
Und so lösten die Nationalsozialisten das KZ Wittmoor auf - das Gelände war am 18. Oktober 1933 vollständig geräumt. Die Gefangenen wurden ins KZ Fuhlsbüttel überstellt. Von dort wurden noch einige Wochen lang Arbeitskommandos ins Wittmoor gebracht - weil noch ein Vertrag mit dem Pächter der Torffabrik bestand.
Karte: Die Lage des KZ Wittmoor
Härtere Gangart im KZ Fuhlsbüttel
"Zur Zeit des KZ Wittmoor befand sich das System der Konzentrationslager erst in den Anfängen", sagt Herbert Diercks von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg. Deshalb sei der Alltag dort noch nicht so sehr von Gewalt und Folter geprägt gewesen. Im KZ Fuhlsbüttel habe das dann ganz anders ausgesehen. "Dort stand die Misshandlung der Gefangenen im Vordergrund, um von ihnen Aussagen zu erzwingen", weiß Diercks.
"Sie haben sich über die Schutzhaft lustig gemacht"
Die Nationalsozialisten begründeten gegenüber den politischen Gegnern die neue, härtere Gangart so: "Ein großer Teil von Ihnen ist nicht gewillt, seine feindliche Einstellung dem neuen Staat gegenüber aufzugeben", sagte der Präsident des Strafvollzugsamtes, Max Lahts, am 4. September 1933 im KZ Fuhlsbüttel zu den "Schutzhäftlingen". "Insbesondere ist bekannt geworden, dass Sie sich über die Schutzhaft, wie sie bisher [im KZ Wittmoor] durchgeführt wurde, lustig gemacht, dieselbe mit einer Kleinkinderbewahranstalt verglichen und in den Gemeinschaftssälen die wüsteten Hetzreden gehalten haben." Diese unhaltbaren Zustände würden fortan "restlos beseitigt". Mehr als 250 Häftlinge sterben zwischen 1933 und 1945 im KZ Fuhlsbüttel - durch Mord, Misshandlungen oder weil sie in den Tod getrieben wurden.
Spurensuche in den 1980er-Jahren
Anders als das KZ Fuhlsbüttel geriet das KZ Wittmoor schnell in Vergessenheit. Als der Hamburger Willy Klawe sich in den 1980er-Jahren auf Spurensuche begab und 1987 ein Buch über die Geschichte des KZ Wittmoors veröffentlichte, war die Geschichte für die Norderstedter völlig neu. Sogleich kam die Diskussion auf, wie man des Lagers gedenken sollte. "Die Stadtverwaltung von Norderstedt war eher zurückhaltend", erinnert sich Klawe 2018 im Gespräch mit NDR.de. "Dort hieß es sinngemäß: So aufregend ist das Ganze nun auch nicht. Und es sei ja auch kein richtiges Konzentrationslager gewesen." 1987 stellte die Stadt Norderstedt dann aber einen Gedenkstein auf.
Zeitzeugen leben nicht mehr
Nur wenige Hundert Meter entfernt gibt es auf der Hamburger Seite des Naturschutzgebiets Wittmoor es einen ähnlichen Gedenkstein bereits seit 1986. Damals lebten noch ehemalige Häftlinge. Inzwischen sind alle verstorben. Einer der letzten Zeitzeugen war Helmut Warnke. Er war im Alter von 25 Jahren verhaftet und als einer der ersten "Schutzhäftlinge" in das Lager gebracht worden. "Die Leute, die direkt in der Nähe wohnten, taten so, als gäbe es das Lager gar nicht", erzählte Warnke. Aber in Hamburger Arbeitervierteln sei das Lager ein Gesprächsthema gewesen. "Dafür sorgten die Frauen, die ihre Männer im Lager besuchten." Sein Fazit in den 1980er-Jahren: "Wittmoor ist mit keinem der späteren großen Arbeits- und Vernichtungslager zu vergleichen. Das Konzentrationslager-System entwickelte sich in einem Prozess, der mit der Errichtung von relativ harmlosen Schutzhaftlagern, wie Wittmoor es war, begann und mit Vernichtungslagern und Todesfabriken endete."
Aber für viele Gegner des NS-Regimes begann mit ihrer Zeit im KZ Wittmoor ein jahrelanger Leidensweg. Und längst nicht alle von ihnen überlebten die Herrschaft der Nationalsozialisten.