VIDEO: Diekholzen erinnert an Explosion: Gedenken für Munitionsopfer 1944 (2012) (4 Min)

Diekholzen: Als es in der Munitionsanstalt plötzlich brannte

Stand: 26.08.2024 11:00 Uhr

Am 25. Juli 1944 sterben bei einem Brand in der Munitionsanstalt in Diekholzen bei Hildesheim 33 Menschen. Die meisten von ihnen sind Mädchen, die ihren Reichsarbeitsdienst leisten, aber auch Zwangsarbeiter. Das Gedenken im Ort ist lange ein schwieriges Unterfangen.

von Marc-Oliver Rehrmann, NDR.de

Agnes Leidenfrost ist eines von etwa 60 Mädchen gewesen, die im Sommer 1944 ihren sechsmonatigen Reichsarbeitsdienst (RAD) in der Heeres-Munitionsanstalt von Diekholzen leisten mussten. Tagsüber saßen die Mädchen - über mehrere Produktionshallen verteilt - in weißen Kitteln an langen Tischen und füllten Pulver in kleine Beutel. Für die Produktion von Panzergranaten. Die Nächte verbrachten sie in nahegelegenen Baracken. Die meisten von ihnen waren um die 18 Jahre alt oder etwas jünger.

"Keine halbe Stunde später geschah das Unglück"

Das folgenschwere Unglück in der Halle 5 am 25. Juli 1944 überlebte Agnes Leidenfrost nur durch einen Zufall. Ihre Aufgabe war es, an einem der acht Tische das Pulver zu wiegen. Damit genau die richtige Menge in den Beuteln landet. An dem Vormittag kam eine Aufseherin herein und forderte die 19-Jährige auf, mit ihr in eine benachbarte Halle zu kommen. So wechselte Agnes Leidenfrost den Arbeitsplatz. "Keine halbe Stunde später geschah das Unglück", erzählt ihre Tochter Silvia Höweling 80 Jahre später im Gespräch mit dem NDR. In der Halle 5 kam es beim Hantieren mit einer Munitionskiste zu einer Verpuffung. Innerhalb kürzester Zeit entstanden Temperaturen von bis zu 2.400 Grad. "Der Lärm schreckte in der benachbarten Halle alle auf. Meine Mutter und die anderen Mädchen rannten nach draußen, um zu sehen, was passiert war," sagt Silvia Höweling.

Was war der Reichsarbeitsdienst?

Seit 1935 war im NS-Regime der halbjährige Arbeitsdienst für männliche Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren obligatorisch, für weibliche freiwillig. Die deutsche Jugend sollte "kriegsfähig" gemacht werden. Wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurde die Pflicht zum Reichsarbeitsdienst (RAD) auch für weibliche Jugendliche eingeführt. Die "Arbeitsmaiden" oder "RAD-Maiden" mussten verschiedene Aufgaben übernehmen, beispielsweise in der Landwirtschaft, im öffentlichen Nahverkehr oder in der Waffen-Produktion. Für den sechsmonatigen Einsatz verließen die Mädchen meist ihren Heimatort, sie wurden in RAD-Lagern untergebracht. Männliche Arbeitsgruppen unterstützten im Krieg zumeist als Bau- und Instandsetzungs-Trupps die Wehrmacht oder standen an Flugabwehr-Geschützen.

Für viele gab es kein Entkommen

Was sie sahen: In Panik liefen Mädchen aus der Halle 5, oftmals mit schweren Verbrennungen. Viele schafften es aber nicht mehr rechtzeitig hinaus. 24 Mädchen vom Reichsarbeitsdienst kamen ums Leben. Unter den Todesopfern sind auch vier Zwangsarbeiterinnen und zwei Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion. Zudem wurden ein Aufseher und ein Mann, der zur Rettung eilte, getötet.

Agnes Leidenfrost musste später - zusammen mit anderen RAD-Mädchen - die Leichen aus der Halle holen und sie auf den Schultern zu einem Pritschenwagen tragen. "Meine Mutter sprach davon, dass sie diesen Anblick nie vergessen werde", sagt Silvia Höweling.

Lebenslang ein schlechtes Gewissen

Aber noch etwas machte Agnes Leidenfrost zeitlebens zu schaffen. Als sie kurz vor dem Unglück die Halle wechselte, nahm eine Bekannte aus Diekholzen ihren Platz ein: die Werkschreiberin Therese Drobietz, eine zivile Angestellte. Sie wurde so schwer verletzt, dass sie eine Woche später stirbt. "Dieses Erlebnis hat meine Mutter ihr ganzes Leben lang beschäftigt", sagt Silvia Höweling. "Sie hat es nie richtig überwunden, dass Frau Drobietz gestorben ist, nur weil sie ihren Arbeitsplatz übernommen hat. Dabei konnte meine Mutter ja nichts dafür."

War es womöglich Sabotage?

Ortsheimatpfleger Adalbert Schroeter weiß so viel über die Geschichte des Unglücks in der Munitionsanstalt (MUNA) wie kein anderer. "Das Verhängnisvolle war, dass sich die rückwärtigen Türen der Halle 5 nach der Verpuffung nicht mehr von innen öffnen ließen. Alle, die weiter hinten in der Halle waren, hatten keine Chance herauszukommen."

Der 90-jährige Schroeter lebt seit 1966 in Diekholzen. Er kennt auch die Geschichte von Gisela Hampe, einer der Überlebenden. Sie saß zum Zeitpunkt des Unglücks in der Halle 5. "Direkt nach der Frühstückspause brachten zwei junge Polen eine Pulverkiste in die Halle", schilderte Gisela Hampe später in der "Hannoverschen Allgemeinen" ihre Beobachtungen. "Sofort nach dem Abstellen sah ich eine Stichflamme. Wir rannten hinaus und einen Abhang hinter der Halle hinauf." Mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades kam Gisela Hampe ins Krankenhaus, wo sie vier Monate lang blieb. Ihren Berufswunsch Lehrerin musste sie aufgeben. "Ich bin der Meinung, das war Sabotage", sagte die Augenzeugin. "Es war fünf Tage nach dem Attentat auf Adolf Hitler - und es waren zwei junge Polen, die die Kiste hereinbrachten."

"Schon am folgenden Tag ging es mit der Arbeit weiter"

Sabotage oder ein Unfall? Was genau am Vormittag des 25. Juli 1944 geschehen ist, lässt sich bis heute nicht sagen. "Sabotage konnte nicht erwiesen werden", hielt der damals zuständige Feuerwerker Hans Kessel in seinem Bericht fest. "Da die Kisten mit Handbohrern geöffnet wurden, wird ein Abrutschen des Bohrers angenommen. Das Öffnen der Pulverkisten sollte allerdings in einem extra dafür vorgesehenen Raum geschehen."

Die Nationalsozialisten erklärten das Geschehen in offiziellen Schreiben zu einem "schweren Unglücksfall". Sie hatten kein Interesse daran, ein großes Aufheben um den Zwischenfall zu machen. Die Produktion in der Munitionsanstalt durfte auch nicht lange pausieren. "Für diejenigen, die es doch aus der Halle rausgeschafft haben, ging es am folgenden Tag gleich weiter mit der Arbeit", erinnerte sich Agnes Leidenfrost. "Über Nacht hatten sie ein anderes Arbeitshaus eingerichtet. Ein Mädchen, das das Unglück erlebt hatte, ist fortan bei jedem lauten Geräusch aufgeschreckt und wollte hinauslaufen."

Für die Angehörigen gab es eine NS-Trauerfeier

Bei der Trauerfeier für die Opfer des Unglücks in der Heeres-Munitionsanstalt in Diekholzen zeigen einige Uniformierte den Hitlergruß. © privat
Hitlergruß und viele Kränze: Auf dem MUNA-Gelände fand eine Trauerfeier für die Angehörigen der Opfer statt.

Für die Angehörigen der Opfer veranstalteten die Nationalsozialisten auf dem MUNA-Gelände eine Trauerfeier. Die Särge der RAD-Mädchen, die allesamt nicht aus Diekholzen stammten, wurden in ihre Heimatorte überführt.

Die sechs sowjetischen Zwangsarbeiter hingegen wurden an der katholischen St. Jakobus-Kirche im Ort bestattet. Ortsheimatpfleger Schroeter spricht von einer Heldentat des damaligen Pfarrers. "Zum einen weil er so verhindert dass, dass die Zwangsarbeiter einfach in einem Massengrab verscharrt wurden. Zum anderen war es für die damalige Zeit eigentlich undenkbar, dass orthodoxe Christen - wie es die Zwangsarbeiter waren - auf dem Friedhof einer römisch-katholischen Kirche beerdigt werden." Bis heute ist es üblich, von den "Russengräbern" zu sprechen. "Dabei kamen die getöteten Zwangsarbeiter aus der Ukraine, wie sich später herausstellte", sagt Adalbert Schroeter. Das Ehrengrab mit den Namen der sechs Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit existiert bis heute.

Lange Zeit kein Gedenkort für die deutschen Opfer

Was es über Jahrzehnte hinweg nicht gab: einen Gedenkort für die 24 getöteten RAD-Mädchen und die drei weiteren deutschen Opfer. "Auch bei der Gedenkfeier am 50. Jahrestag des Unglücks im Juli 1994 gab es kein Wort über die deutschen Opfer", sagt Adalbert Schroeter. Angehörige der verunglückten Therese Drobietz schickten daraufhin einen Brief an den Gemeinderat von Diekholzen: "Mit Befremden mußten wir feststellen, daß man die verunglückten Russen besonders gewürdigt hat, während man die deutschen Toten des Unglücks, welche durch ihren Kriegseinsatz fürs Vaterland gefallen waren, nur allgemein mit den Gesamttoten des Krieges erwähnte."

"Die Mädchen waren ja nicht freiwillig dort"

Es sollte weitere knapp zwei Jahrzehnte dauern, bis ein Gedenkort für die deutschen Opfer eingerichtet ist. Dies ist auch ein Verdienst von Adalbert Schroeter. Er vertiefte sich in die Geschichte des Unglücks und spürte den Schicksalen der verstorbenen Kinder und ihrer Familien nach. So sorgte er auch dafür, dass endlich im Ort über das Geschehene gesprochen wurde.

Das Ergebnis: Seit 2013 sind hinter der Grabstelle der sechs sowjetischen Zwangsarbeiter Steintafeln mit den Namen der deutschen Opfer an der Kirchenwand angebracht. Nicht alle waren davon begeistert. "Es fühlte sich für viele im Ort nicht richtig an, der Opfer und Täter zusammen an einer Stelle zu gedenken", sagt der Ortsheimatpfleger. Mit "Opfern" sind die Zwangsarbeiter gemeint, mit "Tätern" die "Nazi-Mädchen" und die Angestellten, die in der Munitionsanstalt im Einsatz waren. "So manches wurde einfach aus Unwissenheit behauptet", sagt Schroeter. "Viele sahen in den RAD-Mädchen Täter, weil sie für die Nazis Munition herstellten. Was man dabei aber vergessen hat: Die Mädchen waren ja nicht freiwillig dort, sondern weil sie kriegsdienstverpflichtet waren."

Ein Gebet und eine Grabkerze

Agnes Leidenfrost verbrachte ihr ganzes Leben in Diekholzen. Immer wieder ging sie an den "Russengräbern" an der Kirche vorbei - und später auch an den Gedenktafeln für die deutschen Opfer. "Sie hat dort immer ein Gebet gesprochen und stets darauf geachtet, dass eine Kerze brennt", erzählt Adalbert Schroeter. Denn die Geschehnisse rund um den 25. Juli 1944 haben das einstige RAD-Mädchen nicht losgelassen. Agnes Leidenfrost starb schließlich 2019 im Alter von 94 Jahren. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof der St. Jakobus-Kirche - nur wenige Schritte vom Gedenkort für das MUNA-Unglück entfernt.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 25.07.2012 | 19:30 Uhr

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