Ein Foto von den Beatles bei einem ihrer ersten Auftritte im Nachtclub "Indra" liegt auf einem roten Untergrund. © picture alliance / dpa Foto: Malte Christians

1960 ging alles los: "Ohne Hamburg keine Beatles"

Stand: 17.06.2022 17:30 Uhr

Am 17. August 1960 stehen die Beatles erstmals auf einer Hamburger Bühne. Ein Erfolg ist das Konzert im Indra nicht - dennoch entwickeln sich die Liverpooler auf dem rauen Kiez zu Weltstars.

von Heiko Block, NDR.de

An diesem Tag wird in Hamburg Musik-Geschichte geschrieben: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison, Stuart Sutcliffe und Pete Best haben m 17. August 1960 ihren ersten Auftritt im Indra in Hamburg-St. Pauli. Es ist ihr erstes offizielles Engagement als The Beatles. Das erste Mal verdienen sie Geld mit ihrer Musik. Ein Erfolg ist der erste Auftritt allerdings nicht: Die Zahl der Gäste hält sich in Grenzen, das Repertoire der Band ist begrenzt. Eigene Lieder haben sie noch nicht. Sie spielen Rock-'n'-Roll-Songs der 1950er-Jahre - dafür sind sie auch gebucht. Dennoch: An diesem Abend vor 60 Jahren wird der Grundstein für ihre Weltkarriere gelegt, denn in Hamburg reifen die Beatles.

"Auf St. Pauli gab es einen wirklichen Bedarf"

"Damals gab es noch keine vernünftigen Rock-'n'-Roll-Bands in Hamburg", sagt Musikerin Stefanie Hempel, die bereits seit 2004 Beatles-Touren in Hamburg anbietet. "Aber auf St. Pauli gab es 1960 einen wirklichen Bedarf. Das hing zusammen mit dem Hafen, den Seeleuten - es war international. Viele kamen aus Skandinavien oder aus den USA - und die wollten hier ihre Musik hören. Es gab eine große Rocker-Szene in Hamburg, vor allem auf St. Pauli - auch die wollte Rock 'n' Roll hören. Jukeboxes gab es schon - zum Beispiel im Kaiserkeller. Deshalb sind die Leute da hingegangen." Und dann hatte Bruno Koschmider, Inhaber vom Kaiserkeller und dem Indra, die Idee, Rock 'n' Roll auf den Kiez zu holen.

VIDEO: Auf Beatles-Spuren in Hamburg mit Stefanie Hempel (5 Min)

Alle wollten echten Rock 'n' Roll - aber woher nehmen?

Koschmider probierte es zunächst mit deutschen Musikern. "Aber die Leute im Kaiserkeller fanden Peter Kraus oder Ted Herold damals furchtbar. Sie wollten echten Rock 'n' Roll", so Hempel. Aber woher sollte man Bands bekommen? Die USA waren zu weit weg - der kürzeste Weg war England. Als erstes kam Tony Sheridan mit den Jets aus London, ein paar Monate vor den Beatles. Dann wollte der Club-Besitzer neue Bands. Deshalb fuhr er nach London, um ähnliche Musiker zu finden.

Nur vierte Wahl: "Bitte nicht die Beatles nach Hamburg!"

In der 2i's Coffee Bar in Soho traf er zufällig Allan Williams aus Liverpool, der diverse Bands gebucht und ihnen Engagements verschafft hatte. "Williams sagte zu Koschmider: 'Du brauchst nicht weiter zu suchen, du kriegst meine Bands - für einen besseren Preis.' Die Liverpooler Bands waren günstiger, für sie war es damals die erste Möglichkeit, Geld zu verdienen, denn es gab noch keine Rock-'n'-Roll-Szene in Liverpool", erzählt Beatles-Expertin Hempel. "Der Cavern Club fing zum Beispiel erst 1961 an mit Rock 'n' Roll." Die Bands waren dankbar, irgendwo regulär spielen zu können, denn es gab kaum Gelegenheiten aufzutreten.

Zunächst kamen Derry and the Seniors von Liverpool nach Hamburg - und dann die Beatles. Als eine Band vierter Wahl. "Das ist ja auch so eine irre Geschichte: Nur weil drei andere Liverpooler Bands nicht konnten, wurden die Beatles als Notlösung gebucht", verrät die 43-jährige Hempel. "Saxophonist Howie Casey von Derry and the Seniors sagte damals zu Williams: 'In Hamburg läuft es gut für uns, schick bitte nicht die Beatles. Diese schlechte Band wird unseren Ruf versauen.'"

Aber die Beatles, die in Liverpool vorher in unterschiedlichen Konstellationen nur "kleine Gigs für ein Bier" oder Auftritte bei privaten Feiern hatten - sie kamen trotzdem.

Vertrag erst nach der Ankunft in St. Pauli richtig verstanden

Die Beatles erreichten Hamburg in der Nacht zum 17. August 1960. Ihr erster Auftritt war dann schon am Abend - an einem Mittwoch. Zunächst war es schwierig, weil die Beatles gar nicht wussten, dass sie den ganzen Abend und bis spät in die Nacht spielen sollten. "Den Vertrag haben sie erst kurz nach ihrer Ankunft in Hamburg so richtig verstanden", sagt Hempel. "Die kannten ja in England nur die Sperrstunde, wo um 23 Uhr fast alles zumacht. Sie hatten damals auch kaum Live-Erfahrung und nur für etwa eine bis eineinhalb Stunden Programm. John Lennon sagte später, dass sie jeden Song ausdehnen mussten."

"Schwarzes Loch" in Kino-Abstellkammer erste Unterkunft

Musikerin Stefanie Hempel steht vor dem ehemaligen Bambi-Kino in der Paul-Roosen-Straße in Hamburg. © NDR Foto: Heiko Block
Zwei kleine Räume im ehemaligen Bambi-Kino in der Paul-Roosen-Straße waren die erste Unterkunft der Beatles in Hamburg.

Nach dem Vertrag war die Unterkunft der nächste Schock. Koschmider gehörte auch das Bambi-Kino. Dort kamen die Jungs zunächst unter. Zwei winzige, feuchte Abstellkammern des Kinos ohne Fenster fungierten als erste Schlafstatt der Beatles, die sie selbst nur "schwarzes Loch" nannten. Unter Koschmider mussten die Beatles an Wochentagen viereinhalb Stunden pro Abend spielen, am Wochenende sogar sechs Stunden - so stand es im Vertrag. Einen Tag in der Woche hatten sie frei - immer montags.

Songs von Chuck Berry und Buddy Holly am ersten Abend

Mit welchem Song sie den ersten Konzert-Abend eröffneten, ist nicht bekannt. "Aber man weiß ziemlich genau, was für ein Programm sie damals hatten. Sie haben viele Stücke von Chuck Berry, Little Richard, Gene Vincent oder Carl Perkins gespielt. Und auch Buddy Holly, da konnten sie schön diese Dreistimmigkeiten machen" erklärt Hempel. "Howie Casey kam am ersten Abend ins Indra und guckte, ob die Beatles immer noch so schlecht waren. Sie waren ein bisschen besser geworden als er sie in Erinnerung hatte. Sie waren in seinen Augen keine gute Band - was ihn aber total beeindruckte, waren die Stimmen."

"Die suchten noch nach Akkorden"

Die Beatles waren an diesem ersten Abend noch sehr unerfahren. "Sie wussten nicht, wie man eine Performance macht und standen relativ steif da. Kann man sich ja auch vorstellen, weil sie nicht viel Programm hatten. Die suchten noch nach Akkorden und schauten auf ihre Finger", so Hempel. Die Anzahl der Besucher war überschaubar - es kamen aber einige Leute vom Kaiserkeller herüber, "um zu schauen, wie die neuen Engländer so sind".

Indra sollte mit Beatles zum neuen Kaiserkeller werden

Das Indra lag damals noch auf der dunklen Seite der Großen Freiheit, es gab dort keine Straßenbeleuchtung, deshalb lief es auch nicht so gut. "Es war eine Mischung aus Cabaret, Strip- und Liveclub. Es ging oft so lange, bis auch der letzte besoffene Seemann den Club verlassen hatte. Mit Livemusik wollte Koschmider den Laden aufwerten, die Beatles sollten aus dem Indra den neuen Kaiserkeller machen, der deutlich besser lief", so die Musikerin.

"Mach Schau!": Harter Druck auf dem Kiez

Die Liverpooler Jungs wurden in der Folgezeit vom Club-Besitzer Koschmider angetrieben, um dem Publikum auf St. Pauli einzuheizen - denn der Konkurrenzkampf auf dem Kiez war groß. "Der Druck war hart", erinnerte sich einst Paul McCartney: "'Mach Schau, mach Schau', sagte der Geschäftsführer immer. Die Leute guckten in dem Laden nach den Bierpreisen. Unsere Aufgabe war es, eine Show abzuziehen, sodass sie rein kamen und blieben. Wir machten also Schau." Oft war der Club leer. Laut McCartney warteten die Beatles dann, bis jemand reinkam und spielten dann Songs wie "Dance In The Street" von Gene Vincent.

Vom Indra in den Kaiserkeller

Dadurch, dass sie fast jede Nacht auftraten, wurde die Band schnell besser. Auch die Show der Beatles entwickelte sich, sie sangen gemeinsam und abwechselnd, damit ihre Stimmen durchhielten. Und Koschmider wagte es nach 41 Auftritten im Indra, sie in den Kaiserkeller zu bringen - auch nachdem es Beschwerden wegen Lärmbelästigung im Indra gegeben hatte. "Im selben Engagement sind sie deshalb rüber in den Kaiserkeller, auch weil sie mittlerweile gut waren und ihr eigenes Publikum hatten - und vor allem das gelernt hatten, was Koschmider von ihnen wollte", so Hempel. "Dieses 'Mach Schau!' ist ein totaler Begriff geworden in der Beatles-Geschichte." Im Kaiserkeller spielten sie dann 50 Nächte.

Freundschaft mit Künstler-Clique: Der Pilzkopf-Look entsteht

Fotografin Astrid Kirchherr steht im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe vor Bildern der Beatles und Zeitgenossen. © picture alliance / Stefan Hesse Foto: Stefan_Hesse
Die Hamburger Fotografin Astrid Kirchherr prägte den Look und das Image der Beatles entscheidend mit.

Außerdem wurden Stil und Image der Beatles maßgeblich in Hamburg entwickelt und geprägt. "Ohne Hamburg kein Pilzkopf", betont Expertin Hempel. Der Kunststudent und Musiker Klaus Voormann hörte die energiegeladene Musik auf der Straße und ging hinunter in den Kaiserkeller. Er erkannte die Qualität der Band und schleppte immer mehr seiner Studienkollegen an. Die Beatles schlossen schnell Freundschaft mit den "Exis", der Künstlerclique um Voormann und die Fotografen Astrid Kirchherr und Jürgen Vollmer. Die Studenten waren "die ersten, die die Schönheit und den Geist der Beatles einfingen" (John Lennon). Die Liverpooler wurden nicht nur inspiriert vom Lebensstil ihrer Hamburger Freunde, sondern sie übernahmen auch deren Look: den sogenannten Pilzkopf.

92 Nächte im Top Ten - Auftritt bei Star-Club-Eröffnung

Das zweite Engagement in Hamburg war dann im Top Ten Club. "Das war ihre beste Zeit damals. Sie haben dort 92 Nächte in Folge gespielt - keinen Abend hatten sie frei", betont Hempel. Danach waren sie drei Mal im Star Club engagiert, unter anderem auch zur Eröffnung am 13. April 1962. "Für die Hamburger Szene und den Star-Club war es wichtig, dass sie da gespielt haben. Für viele Hamburger waren sie die beste Band. Sie waren damals total beliebt durch ihre vielen Auftritte - unter anderem auch mit Tony Sheridan im Top Ten." Das erste Star-Club-Engagement dauerte von April bis Juni.

Beatles-Special
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Hamburg prägt die Beatles wie keine andere Stadt

Hamburg hat die Beatles wie kaum eine andere Stadt geprägt. "Mark Lewisohn, der wichtigste Beatles-Autor der Welt, sagte 'No Hamburg, No Beatles' - also ohne Hamburg keine Beatles. Das ist auch für mich vollkommen klar", so Hempel. "Besonders ohne das erste Engagement, ohne diese Möglichkeit, sich so zu entwickeln, wie sie das hier gemacht haben - musikalisch, menschlich und was den Band-Zusammenhalt angeht - hätten sie nicht lange existiert. Da bin ich mir sicher." Ohne die Auftritte in Hamburg hätten sie deutlich schlechtere Möglichkeiten gehabt. "Sie wurden hier zu einer professionellen Live-Band durch die langen Nächte. Sie haben hier Ringo Starr kennengelernt, weil er mit einer anderen Band im Kaiserkeller spielte und sie sich das Engagement geteilt haben. Auch der erste gemeinsame Auftritt mit Ringo war im Kaiserkeller." Als Pete Best ein paar Tage krank war, half Ringo Starr aus.

Grundstein für Hamburgs Club-Kultur und Musikszene gelegt

Auch die Bedeutung der Beatles für Hamburg ist groß. "Diese ganze Club-Kultur ging damals hier los durch Bands wie die Beatles oder Tony Sheridan. St. Pauli hatte diese einzigartige Musikszene, die in den 1960er-Jahren den Grundstein gelegt hat für Hamburg als Popmusik- und Rock-'n'-Roll-Stadt", sagt Hempel. "Hamburg war ja lange Zeit die Pop-Hauptstadt in Deutschland - und das hängt definitiv mit St. Pauli und den Beatles zusammen." Dadurch, dass die Beatles so schnell so berühmt wurden, zog es noch mehr Bands aus aller Welt nach Hamburg. Der Star-Club warb schon ab 1963 mit dem Slogan "Die Wiege der Beatles". In der Folge kamen beispielsweise Jimi Hendrix oder Ozzy Osbourne nach Hamburg, um im Star-Club zu spielen.

"Leidenschaft hört nicht auf"

Für Stefanie Hempel fühlen sich die Beatles mittlerweile fast wie Familie an: "Ich kann mir ein Leben ohne Beatles überhaupt nicht mehr vorstellen. Ich bin durch die Beatles zur Musikerin geworden. Ich habe mit zehn Jahren angefangen, Songs zu schreiben, weil ich total verliebt war in John Lennon und meiner Liebe musikalisch Ausdruck verleihen wollte." Zu ihren Lieblingssongs gehören "Here, There and Everywhere", "Strawberry Fields Forever" und "A Day In The Life", der sie am meisten bewegt. "Die Musik der Beatles gibt mir unheimlich viel Kraft und Energie. Und diese Leidenschaft hört einfach nicht auf."

1.200 Stunden auf Hamburger Bühnen

Eine Leidenschaft, die Besucher auf einer Tour mit Hempel erleben können. Seit 16 Jahren erzählt sie Besuchern aus aller Welt, dass die Beatles an keinem Ort der Welt häufiger gespielt haben als in Hamburg. In den zwei Jahren und viereinhalb Monaten von August 1960 bis Dezember 1962 standen sie 1.200 Stunden auf Hamburger Bühnen - bei 281 Konzerten und fünf Engagements in vier verschiedenen Clubs. Ab 1963 begann dann ihre Weltkarriere. Ihren letzten Auftritt in der Hansestadt hatten sie am 26. Juni 1966, als sie als Superstars zurück nach Hamburg kamen.

Lennon: "Aufgewachsen in Hamburg"

John Lennon bei einem Beatles-Konzert in Hamburg 1966 © Picture-Alliance
"In Hamburg sind wir erwachsen geworden", sagte John Lennon - hier beim letzten Konzert in der Hansestadt 1966.

Im Rotlichtmilieu - unter Seeleuten, Gangstern, Rockern und Prostituierten - wurden die talentierten Amateure unter harten Bedingungen zu Musikern mit Weltstar-Potenzial. "Durch Hamburg waren sie mit allen Wassern gewaschen, als sie dann die Welt erobert haben", sagt Hempel. Auch John Lennon betonte einmal: "Aufgewachsen sind wir nicht in Liverpool, sondern in Hamburg."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 17.08.2020 | 19:00 Uhr

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