Oswalt Kolle: Der "Aufklärer der Nation"
Oswalt Kolle hat seit den 1960er-Jahren maßgeblich zur sexuellen Aufklärung der Deutschen beigetragen. In seinen Büchern und Filmen warb er für "eine neue Kultur der Zärtlichkeit".
140 Millionen Zuschauer weltweit - das klingt nach einem Blockbuster. Doch nicht Hollywood, sondern der deutsche Journalist Oswalt Kolle lockt Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre so viele Menschen in die Kinos. Zuvor müssen seine Filme nach tagelangen Diskussionen von den Zensoren der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) freigegeben werden. Denn es geht um sexuelle Aufklärung - damals ein heikles Thema.
Oswalt Kolles Weg vom Landwirt zum Klatschreporter
Dass Oswalt Kolle einmal zum "Aufklärer der Nation" avancieren würde, war nicht absehbar. Gegen den Willen seines Vaters, des renommierten Psychiaters Kurt Kolle, absolviert der am 2. Oktober 1928 in Kiel geborene Oswalt zunächst eine Ausbildung in der Landwirtschaft. Anschließend zieht es ihn Anfang der 1950er-Jahre zum Journalismus. In den ersten Jahren erarbeitet sich Kolle einen Ruf als Film-Kenner. Als Redakteur bei der neu gegründeten "BILD"-Zeitung verlagert er sich auf Klatschgeschichten. 1957 wird Kolle stellvertretender Chefredakteur der "Star Revue".
1960: "Dein Kind, das unbekannte Wesen"
Ab 1960 schließlich widmet er sich zunehmend dem Thema, das sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird: der sexuellen Aufklärung. Den Anstoß gibt die schwangere Frau seines Chefs, die sich über die mangelhafte Qualität der vorhandenen Bücher über Schwangerschaft und Kindesentwicklung beschwert. Kolle reagiert darauf mit der Serie "Dein Kind, das unbekannte Wesen", die in der Illustrierten "Quick" erscheint - und 1970 auch filmisch umgesetzt wird. Kolle, seine Frau und seine Töchter wirken darin selbst mit.
Aufklärungsserien in "Quick" und "Neue Revue"
Doch zunächst folgen weitere Aufklärungsserien in der "Quick" und in der "Neuen Revue". So befragt Kolle für die Serie "Alle Liebe dieser Welt" Menschen weltweit nach ihren Moralvorstellungen. In der prüden Zeit mit diversen sexualfeindlichen Gesetzen ist schon das ein Skandal. Kolles Wunsch ist es, "die Menschen mit meinen Texten von ihrer verklemmten Sexualität zu befreien". Ein wenig Wissen über Sexualität hilft Kolle bei seiner Mission: Mit 20 Jahren übersetzt er für seinen Vater Teile des Kinsey-Reports über das Intimleben der US-Amerikaner. Der Sexualforscher Charles Alfred Kinsey hatte 1948 und 1953 viel beachtete Untersuchungen über das Sexualleben von Männern und Frauen veröffentlicht. Auf diese Informationen kann Kolle nun zurückgreifen.
Aufklärung light: "Helga"-Filme mit Ruth Gassmann
Bereits 1967 schafft es ein Aufklärungsfilm in die Kinos: "Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens" von Erich F. Bender geht auf die Initiative der damaligen Gesundheitsministerin Käthe Strobel zurück und bringt ihr den Ruf der "Sex-Ministerin" ein. Der Film begleitet die Figur Helga, gespielt von Ruth Gassmann, von der Hochzeit durch die Schwangerschaft bis zur Geburt. Die Aufklärung besteht im Wesentlichen in den Ausführungen von Helgas Frauenärztin, die zwar viele Fremdwörter benutzt und die sexuellen Bedürfnisse und Vorstellungen von Frauen und Männern ausspart. Dennoch lockt der Film - wie auch zwei Fortsetzungen - Millionen Zuschauerin die Kinos.
1968: "Das Wunder der Liebe" im Kino
Diese Kino-Erfolge bringen Oswalt Kolle nun auch auf dieser Ebene auf den Plan: Aus seinen Serien werden Bücher, aus den Büchern schließlich Filme. Kolles Aufklärungsarbeit trifft den Nerv der Zeit. Die 68er diskutieren über Vietnam - und sie diskutieren über Sex und freie Liebe. Seine Bücher werden in zwölf Sprachen übersetzt, darunter Chinesisch. Illustrierte und Filme zeigen vermehrt nackte Haut und Sexszenen - wenn sie es durch die Zensur schaffen. Zwischen 1968 und 1972 lässt Kolle eine Reihe seiner Bücher verfilmen, angefangen mit "Das Wunder der Liebe", das am 1. Februar 1968 in Hamburg Premiere feiert.
Wissenschaftliche Aufklärung statt Pornografie
Der Film über die sexuellen Schwierigkeiten von zwei Ehepaaren wird schließlich von den Behörden zugelassen, weil Kolle glaubhaft vermitteln kann, dass es sich um wissenschaftliche Aufklärung und nicht um Pornografie handelt. Im Film wechselt sich eine Diskussion zwischen Kolle, einem Sexualwissenschaftler und einem Psychologen mit Spielszenen ab. Bei den Mitwirkenden handelt es sich keineswegs um Pornodarsteller, sondern zumeist um ausgebildete Schauspieler. Manfred Tümmler, der "Klaus" aus "Das Wunder der Liebe", wirkt später in zahlreichen bekannten Filmen und Fernsehserien wie "Tadellöser & Wolff" mit. Aus heutiger Sicht wirkt der Film konstruiert, die Dialoge erscheinen hölzern. Doch damals reagieren konservative Kreise und die katholische Kirche in Deutschland entsetzt.
Niederländer empfehlen Kolles Film
Kolle spricht von einer "Käseglocke von Moral", die in der BRD über einem offenen Austausch über Sexualität liege. "Das war die Regel: Unter keinen Umständen wird über Sex gesprochen", beschreibt der unermüdliche Aufklärer rückblickend die ungeschriebene Norm der Zeit. Ein ganz anderes Bild zeigt sich in den Niederlanden: Hier wird dem Film das Prädikat "Wichtig für die Volksgesundheit" verliehen und ein Kino-Besuch ausdrücklich empfohlen.
Oswalt und Marlies Kolle führen eine offene Ehe
Mit "Das Wunder der Liebe", das in der Bundesrepublik Deutschland sechs Millionen Zuschauer in die Kinos lockt, wird Kolle auf einen Schlag bekannt. Doch er fühlt sich in dieser Gesellschaft nicht wohl, geht mit seiner Familie für einige Zeit nach Italien, bevor er in die Niederlande auswandert und auch die niederländische Staatsangehörigkeit annimmt. Mit seiner Frau Marlies führt er eine offene Ehe, hat zahlreiche Affären und Flirts, unter anderem mit Romy Schneider. Auch zu seiner Bisexualität steht Kolle, der über die sexuellen Bedürfnisse von Frau und Mann aufklären möchte und Pornografie im Gegenzug strikt ablehnt.
Widerstand von rechts und links
In Deutschland dreht Kolle weitere Aufklärungsfilme, die allesamt große Erfolge im In- und Ausland werden. "Deine Frau, das unbekannte Wesen", "Dein Mann, das unbekannte Wesen" oder "Liebe als Gesellschaftsspiel" locken Millionen in die Kinos, lösen aber ebenso heftige Reaktionen aus. Während die katholische Kirche und konservative Kreise sich über nackte Haut empören, gilt Kolle der Studentenbewegung wegen seiner Bemühungen um die Ehe als Spießer. Erst im Jahr 2000 bekommt er auch ein wenig von der ersehnten offiziellen Anerkennung, als ihm die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung die Magnus-Hirschfeld-Medaille verleiht.
Buchautor und Talkshow-Gast
Ab den 1980ern wird Kolle ein beliebter Gast in Talkshows. Er schreibt zahlreiche Bücher, die sich seinen Herzensangelegenheit widmen. Unter anderem das Buch "Nach beiden Seiten offen", das sich mit Bisexualität auseinandersetzt. Zu diesem Thema hält Kolle 1996 eine viel beachtete Rede zur Eröffnung des 4. Symposiums Bisexualität (IBIS) in Berlin. Als der Privatsender RTL Kolles Aufklärungsfilme 1997 wiederholen möchte, überarbeitet er die Drehbücher. Das Thema lässt ihn nicht los: Noch 2008 dreht er die Serie "Sexualreport 2008" über das Sexualverhalten der Deutschen.
Kolle: "Sex ist in jedem Alter wichtig" - zur Not auch mit Viagra
Bis zu seinem Tod im Jahr 2010 schreibt Kolle Bücher - auch über die Liebe im Alter. "Ein Orgasmus bringt die Glückshormone in Schwung, deswegen ist Sex in jedem Alter wichtig", erklärt er 2005 im NDR Nordmagazin. Für ein erfülltes Sexleben befürwortet Kolle den Einsatz von Hilfsmitteln wie dem Potenzmittel Viagra. In einer Autobiografie blickt der unermüdliche Aufklärer auf sein Leben zurück. In "Ich bin so frei" berichtet er auch über die Sterbehilfe für seine krebskranke Frau, die im Jahr 2000 stirbt. Zwei Jahre später findet er in der Niederländerin Jose del Ferro eine neue Lebensgefährtin.
Kolle engagiert sich bis zum Ende für sexuelle Aufklärung
Während viele der Meinung sind, dass Kolle zu einer positiveren und toleranteren Einstellung der Deutschen zur Sexualität beigetragen hat, sieht der Aufklärer bis zuletzt viel im Argen liegen. Er beklagt den freien Zugang zu Pornografie im Internet und die damit verbundene Isolation der Menschen. Denn in seiner Vorstellung sollte Sex immer ein Miteinander und eine direkte, offene Kommunikation zugrunde liegen.
Doch Kolle engagiert sich bis zu seinem Tode nicht nur für Sexualaufklärung, sondern hat auch andere gesellschaftspolitische Themen im Blick. So fordert er 2008 in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" eine "globale Revolution" gegen Probleme wie Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. Oswalt Kolle stirbt am 24. September 2010 im Alter von 81 Jahren in seiner Wahlheimat Amsterdam.