Willy Brandt: Aufgewachsen im Arbeitermilieu
Seine uneheliche Herkunft empfindet Willy Brandt lange als Makel. Zugleich prägt die Jugend im Lübecker Arbeitermilieu sein Verständnis von Politik und Gerechtigkeit maßgeblich.
"Eine unbehauste Jugend" - so überschreibt Willy Brandt das Kapitel über seine Kindheit in Lübeck in seiner Autobiografie "Erinnerungen". Jahrzehntelang fällt es ihm schwer, offen über diese Zeit, vor allem aber über seine uneheliche Herkunft zu reden - sogar, als der politische Gegner versucht, sie als vermeintlichen Makel im Wahlkampf gegen ihn zu benutzen: "Die Herkunft und die Nachrede, die daran ein langes politisches Leben lang knüpfte - darauf antwortete ich unbeholfen, weil ich nichts dafür konnte und einem doch ein Stachel eingepflanzt war. Die Hemmungen, die ich hatte, reichten tief, zu tief, als dass ich die Befangenheit hätte ablegen können", begründet Brandt dieses Schweigen.
Herbert Frahm wächst in einfachen Verhältnissen auf
Geboren wird er am 18. Dezember 1913 als Herbert Frahm im Lübecker Arbeiterstadtteil St. Lorenz. Den Namen Willy Brandt nimmt er erst später im Exil an. Seine Mutter, die unverheiratete 19-jährige Martha Frahm, arbeitet als Verkäuferin. Ihre Arbeitstage sind lang, und so kann sie sich kaum um ihren Sohn kümmern. Der kleine Herbert verbringt viel Zeit bei einer Nachbarin.
Als der Großvater Ludwig Frahm 1918 aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt, nimmt er den Jungen zu sich. Ludwig Frahm hat sich vom Landarbeiter zum Lastwagenfahrer bei den Lübecker Drägerwerken hochgearbeitet, wo er eine Werkswohnung am Gelände bewohnt. Dass Ludwig Frahm gar nicht sein leiblicher Großvater, sondern der Stiefvater seiner Mutter ist, erfährt Brandt erst während seiner Exil-Zeit.
Den Namen seines leiblichen Vaters erfährt Brandt erst 1948
Seinen leiblichen Vater lernt Brandt nie kennen. Das Thema ist in der Familie tabu: "Über meinen Vater sprachen weder Mutter noch Großvater; dass ich nicht fragte, verstand sich von selbst", schreibt Brandt. Erst 1948, als er den Namen des Vaters für seine Wiedereinbürgerung in Deutschland benötigt, erfragt er ihn bei seiner Mutter auf schriftlichem Wege. Er heißt John Möller, ein Buchhalter aus Hamburg, der zunächst als Lehrer arbeitete, aber wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung diesen Beruf ab 1933 nicht mehr ausüben darf. John Möller stirbt 1958 - dass sein Sohn Herbert und der Politiker Willy Brandt eine Person sind, hat er nie erfahren.
Die Arbeiterbewegung als zweites Zuhause
Für den kleinen Herbert wird der Großvater Ludwig zum Ersatz-Vater. Er nennt ihn "Papa", und auch im Abitur-Zeugnis hält er als Vater her. Der Großvater ist es auch, der den Jungen politisch prägt: Ludwig Frahm ist überzeugter Sozialdemokrat und wie die Mutter in der Arbeiterbewegung aktiv. Die Arbeiter-Jugendorganisationen werden für den Jungen ein zweites Zuhause: "Sie steckten mich, kaum dass ich laufen konnte, in die Kindergruppe des Arbeitersports, sodann in einen Arbeiter-Mandolinenklub. Bald bereicherte ich auch das einschlägige Bühnen- und Puppenspiel", so Brandt.
"Wir nehmen keine Almosen"
Ein Lektion in Arbeiterstolz erteilt ihm der Großvater, als Herbert etwa acht Jahre alt ist: Als die Belegschaft der Drägerwerke während eines Streiks ausgesperrt wird, läuft der Junge einem Direktor der Fabrik in die Arme, der ihn fragt, ob sie denn zu Hause genug zu essen hätten. Als der Junge zögert, kauft der Direktor ihm zwei Brote. Doch der Großvater befiehlt seinem Enkel, das Brot in die Bäckerei zurückzubringen. Man lasse sich nicht mit Almosen abspeisen: "Wir wollen unser Recht, keine Geschenke."
Der Großvater prägt nicht nur das politische Denken des Jungen, er erkennt auch dessen geistige Begabung und sorgt dafür, dass Herbert statt der Volksschule - dem üblichen Bildungsweg eines Arbeiterkindes - die Mittelschule besucht. Dort lernt er Hochdeutsch - zu Hause spricht die Familie Platt. Als "Aufstiegsschüler" wechselt er später auf das Realgymnasium Johanneum und muss kein Schulgeld bezahlen.
"Die Politik wird ihn ruinieren", warnt ein Lehrer
Schon als 14-Jähriger ist Brandt politisch aktiv, zunächst bei den Roten Falken, ab 1929 bei der Sozialistischen Arbeiterjugend. Bei seinen Mitschülern am Johanneum, "wo ein zweiter Arbeiterjunge nicht zu finden war", ist er schon bald unter dem Spitznamen "Der Politiker" bekannt. Seine politische Arbeit nimmt den Jugendlichen bald derart in Anspruch, dass die Schule darunter leidet: "Nachmittag für Nachmittag, Abend für Abend, Sonntag für Sonntag disputierte und organisierte (ich). Bald brauchte ich auch die Vormittage und schwänzte die Schule", schreibt Brandt über diese Zeit. Ein Lehrer rät der Mutter: "Halten Sie ihn von der Politik fern! Der Junge hat gute Anlagen, es ist schade um ihn. Die Politik wird ihn ruinieren."
Zusätzlich schreibt der engagierte Schüler für den "Lübecker Volksboten", eine SPD-Zeitung, dessen Chefredakteur Julius Leber ist. In dem SPD-Politiker findet er einen persönlichen Förderer und Mentor. 1930 tritt Frahm der SPD bei. Doch nur ein Jahr später kommt es zum Bruch mit den Sozialdemokraten. Der Jugendliche ist der Meinung, dass sich die SPD nicht entschieden genug gegen die erstarkenden Nationalsozialisten wendet: "Mir erschien das alles zu schwächlich, zu schlapp, zu wenig kämpferisch", erklärt Brandt 1988 seine damalige Entscheidung.
Brandts früher Austritt aus der SPD
Der 17-Jährige verlässt die SPD und tritt in die sozialistische Arbeiterpartei SAP ein, eine linke Abspaltung der SPD, deren Ziel es ist, eine Einheitsfront der Linken gegen Hitler zu bilden. Der Bruch mit der SPD hat für den Abiturienten empfindliche Konsequenzen: Er verliert das von Julius Leber in Aussicht gestellte SPD-Stipendium für das angestrebte Geschichtsstudium. Statt zu studieren, beginnt Herbert nach dem Abitur eine Ausbildung bei einem Schiffsmakler.
Brandt flieht vor den Nationalsozialisten ins Exil
Nach der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 ist schnell klar, dass Brandt in Deutschland nicht mehr sicher ist. Anfang April verlässt er das Land und geht zunächst nach Dänemark und dann ins norwegische Exil. Sein Großvater steckt ihm noch 100 Mark von einem Sparbuch zu, das er für den Enkel angelegt hat. Brandt wird den geliebten Großvater nicht wieder sehen. Krank und verzweifelt über die Nazi-Herrschaft nimmt sich Ludwig Frahm 1935 das Leben.
"Man kann doch nicht weg von dem, was einen bewegt"
Die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend prägen Brandts Überzeugungen ein Leben lang - auch wenn er über Jahre nur ungern über diese Zeit redet: "Das war sein Credo: Man muss nicht darauf achten, wo einer herkommt, welche Herkunft er hat, welche Hautfarbe er besitzt, welchen Status er besessen hat. Jeder sollte seine Chance haben sich zu entwickeln, seine Reife zu erlangen über Klassen- und Schichtengrenzen hinaus", erinnerte sich sich einst sein Parteifreund Björn Engholm.
Brandt selbst formulierte es wenige Monate vor seinem Tod 1992 noch einfacher: "Man kann doch nicht weg von dem, was einen von Kindesbeinen an bewegt hat: Für mehr Freiheit, für mehr Gerechtigkeit zu wirken."