Wie Wilhelm Krützfeld die Neue Synagoge vor den Nazis rettete
In der Nacht zum 10. November 1938, der Reichspogromnacht, legten SA-Leute in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin Feuer. Durch das beherzte Eingreifen des Polizisten Wilhelm Krützfeld blieb das jüdische Gotteshaus nahezu unversehrt.
"Weil es Menschen wie Krützfeld gab, die sich aus Solidarität und Anstand widersetzten, fällt es uns leichter, unsere Geschichte zu ertragen." Björn Engholm, Ministerpräsident von Schlewsig-Holstein, auf einer Gedenkfeier 1988 für Krützfeld in Lübeck
Wilhelm Krützfeld kommt am 9. Dezember 1880 in Hornsdorf im Kreis Segeberg zur Welt. Mit 20 Jahren wird Krützfeld, der streng erzogen ist, Soldat. Bis 1907 verpflichtet er sich als sogenannter Kapitulant in der Preußischen Armee bei der Garde in Spandau. Dann tritt er den Polizeidienst ein. Nach einer längeren Dienstzeit im Landespolizeiamt und im Berliner Polizeipräsidium übernimmt Krützfeld in den 1930er-Jahren zunächst das Polizeirevier 65 am Prenzlauer Berg. Ab 1938 leitet er als Polizeioberleutnant das Polizeirevier 16 am Hackeschen Markt 1 im Bezirk Mitte. Krützfeld lebt mit seiner Frau Berta und den Söhnen Walter und Arthur in der Zelterstraße in Prenzlauer Berg.
Polizeireviere waren in den Händen der Nationalsozialisten
Die preußische Polizei ist in den 30ern überwiegend rechts gesinnt - sie hatte die Weimarer Republik nicht vor den Nationalsozialisten geschützt. "Die Polizeioffiziere waren durchweg konservativ, republikfeindlich. Ganze Polizeireviere waren in nationalsozialistischen Händen", heißt es in einer Studie des Berliner Staatsrechtlers Heinz Wagner. Anders als viele seiner Kollegen ist Krützfeld kein Parteimitglied der NSDAP. Im Gegenteil: Trotz Warnungen von SA-Leuten, keine Streife bei jüdischen Geschäften oder Kneipen zu gehen, geht Krützfeld persönlich hin - und warnt die Besitzer vor Verhaftungen. Er grüßt auch seine jüdischen Nachbarn, selbst zu dem Zeitpunkt, als es längst verboten ist. "Wilhelm Krützfeld hat seine, wenn auch begrenzte Macht dazu genutzt, um das Unrecht zu behindern", schreibt der Autor Heinz Knobloch in "Der beherzte Reviervorsteher".
Wilhelm Krützfeld rettet Neue Synagoge in der Pogromnacht
Beherzt greift Krützfeld auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ein: Er erfährt über Polizeikanäle, dass SA-Leute planen, um Mitternacht ein Feuer in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu legen. Krützfeld erscheint rechtzeitig mit einem Trupp seines Reviers, verjagt die Brandstifter - mit vorgehaltener Pistole und einem Aktendeckel. Darin befindet sich ein Schriftstück, dass das kulturell bedeutende Gebäude unter Polizeischutz stellt.
Schon seit der Zeit von Kaiser Wilhelm I. steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Gleichzeitig ruft Krützfeld die Feuerwehr. Die Löschzüge kommen und löschen den Brand, der sich bereits im Trausaal ausgebreitet hat. Das ist in diesen Zeiten durchaus ungewöhnlich, denn meist greifen die Feuerwehrmänner erst dann ein, wenn das Feuer auf nicht-jüdische Einrichtungen überzugreifen droht.
Jüdischer Häuserblock in Berlin-Mitte bleibt vom Feuer verschont
Zwar liegen nach der versuchten Brandstiftung überall beschmutzte Bücher und Scherben, aber das Gebäude brennt nicht aus. Wäre die Synagoge - wie von den Nazis geplant - heruntergebrannt, dann wären auch die jüdischen Nachbargebäude in Flammen aufgegangen: Museum, Krankenhaus und Gemeindeverwaltung. Ein ganzer Häuserblock.
Neun von 14 Berliner Synagogen brennen nieder
Am Abend des 9. November hatte Joseph Goebbels bei einem "Kameradschaftsabend" der NSDAP in einer antisemitischen Hetzrede dem Judentum die Schuld für die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris gegeben. Dem folgte ein Aufruf zur Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen. Die Aktionen wollte Goebbels als "spontanen Volkszorn" inszenieren, ausgeführt durch SA und SS. In einem Blitzfernschreiben des SS-Gruppenführers Reinhard Heydrich an Staatspolizei und Sicherheitsdienst hieß es, dass "die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern" seien. Jüdische Geschäfte und Wohnungen "dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden."
Von 14 Berliner Synagogen brennen allein in der Reichspogromnacht neun nieder. Die meisten der über 3.700 jüdischen Geschäfte sind zerstört, mehr als 10.000 Juden werden festgenommen - und ins KZ Sachsenhausen bei Oranienburg verschleppt.
"Auf den Straße Berlins war die Hölle los. Mit Äxten, Beilen und Knüppeln hatten die SA-Männer … die Fensterscheiben der durch Kennzeichnung leicht auszumachenden jüdischen Geschäfte eingeschlagen … Wir wussten schon, dass alle Synagogen von der 'spontanen Volkswut', wie es im Rundfunk geheißen hat, angezündet und niedergebrannt worden waren." Die jüdische Journalistin Inge Deutschkron, Zitat aus Heinz Knobloch "Der beherzte Reviervorsteher"
Verwüstungen der Pogromnacht sind kaum dokumentiert
Es gibt nur wenige Fotos von Zerstörungen aus dieser Nacht. Der Grund ist im Tätigkeitsbuch des Berliner Polizeireviers 174 mit Angabe des Datums "10. November" dokumentiert: verbotenes Fotografieren von jüdischen Geschäften. Wer dennoch fotografiert und erwischt wird, muss mit der Sicherstellung seiner Kamera und den Aufnahmen rechnen. Wer Notizen von zerstörten Geschäften macht, wird unverzüglich der Geheimen Staatspolizei übergeben.
Krützfeld entscheidet sich für Menschlichkeit und sein Gewissen
Gegen die Pogrome gibt es in der Bevölkerung keinen nennenswerten Widerstand oder offen artikulierten Unmut. Krützfeld und sein Untergebener Otto Bellgardt beweisen in der Nacht zum 10. November 1938 Mut und lebensgefährliche Zivilcourage. Krützfelds preußische Tugenden wie Fleiß, Gehorsam und Pflichtbewusstsein prallen plötzlich auf die Härte und Skrupellosigkeit eines totalitären Regimes. Er bleibt standhaft und entscheidet sich gegen Anweisungen von oben: für Menschlichkeit und sein Gewissen. Krützfeld verhält sich polizeilich korrekt, löst sich aber innerlich von den Nazis los.
"Er schämte sich für den Polizeipräsidenten"
Dem Berliner Polizeipräsidenten Wolf Heinrich Graf von Helldorf missfällt Krützfelds engagiertes Eingreifen. Der Beamte, gerade frisch im Amt, fungiert als Verbindungsführer der SA zur Polizei. Er brüllt den standhaften Revierleiter an: "Wie er es wagen könne, sich der Empörung des deutschen Volks entgegenzustellen! Warum er den gesunden Volkswillen behindert habe!", beschreibt Knobloch die Auseinandersetzung. Krützfeld kommt kaum zu Wort, erwidert aber: "Bei einer Horde in Zivilkleidung könne man wohl nicht von spontanem Volkswillen sprechen, wenn es sich um verkleidete Sturmmänner handelte", zitiert Heinz Knobloch Krützfeld.
"Ich habe meinen Vater, als er am Nachmittag nach Hause kam, noch nie so grau und weiß im Gesicht gesehen, so innerlich erregt über seinen Vorgesetzten. Es war nicht Angst, sondern Wut, auch schämte er sich für einen Polizeipräsidenten, der die gesetzliche Pflicht der Polizei leugnete." Sohn Walter Krützfeld in Heinz Knobloch "Der beherzte Reviervorsteher"
Da Krützfeld kein Dienstvergehen begangen hat, bleibt er zunächst im Amt. Zu Beginn des Krieges verliert Krützfeld seinen Posten im 16. Revier. Die Deportationen in dem Viertel am Hackeschen Markt bekommt er deshalb nicht mehr mit. Ab 1940 wird er mehrfach in andere Reviere versetzt, dort fühlt sich Krützfeld allein und von den Nazis überwacht.
Beschlüsse der "Wannsee-Konferenz" - Antrag auf Pensionierung
Als Krützfeld von den Beschlüssen der Wannsee-Konferenz über die "Endlösung der Judenfrage" erfährt, reicht er auf eigenen Wunsch und aus gesundheitlichen Gründen einen Antrag auf vorzeitige Pensionierung ein. "Man gewährte sie ihm gern, weil man froh war, den alten Querkopf los zu sein", schreibt Heinz Knobloch. In dem Antrag wird ihm für "seine dem Deutschen Volke geleisteten treuen Dienste der Dank des Führers ausgesprochen." 1943 geht der Revier-Oberleutnant nach 36 Jahren Polizeidienst in den Ruhestand.
Nach der Pensionierung verlässt Krützfeld Berlin und geht zurück in seine Heimat, nach Hornsdorf. Er bleibt bis nach Kriegsende in Schleswig-Holstein; im September 1945 kehrt er mit seinem jüngeren Sohn Arthur in die Hauptstadt zurück. Krützfeld meldet sich zum Wiederaufbau bei der Berliner Polizei, ab 1947 leitet er die Inspektion Mitte, die jetzt zum sowjetischen Sektor gehört.
Neue Synagoge liegt im sowjetisch besetzten Teil Berlins
Und was wurde aus der Synagoge? Mit Kriegsbeginn bekommt die goldene Kuppel der Synagoge einen grauen Farbanstrich, damit sie feindlichen Flugzeugen nicht als Orientierungspunkt dient. Dieser Akt findet zum Entsetzen jüdischer Mitbürger an einem der höchsten jüdischen Feiertage, dem Neujahrsfest, statt. Im April 1940 wird das Gebäude beschlagnahmt und von der Wehrmacht als Lagerhalle für Textilien und Lederwaren genutzt. Am 22. November 1943 fliegen britische Bomber Angriffe auf Berlin, dabei wird auch die Neue Synagoge getroffen und schwer beschädigt. Nach 1945 liegt die Ruine der Neuen Synagoge im sowjetisch besetzten Teil Berlins.
Über viele Jahre steht die Synagoge wie ein Mahnmal inmitten der Stadt, es gibt sogar Pläne, das Gebäude abzureißen. Erst kurz vor dem Ende der DDR ändert die SED ihre Haltung und entscheidet sich, jüdische Kultur zu erhalten. Am 10. November 1988, 50 Jahre nach den Pogromen, findet eine symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Ruine statt. Noch Ende desselben Jahres beginnt der Wiederaufbau des vorderen, erhalten gebliebenen Teils der Neuen Synagoge durch die Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum. Anfang Mai 1995 wird das Gebäude wiedereröffnet.
Wilhelm Krützfeld wird zu Lebzeiten nie geehrt
Wilhelm Krützfeld stirbt am 31. Oktober 1953. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der evangelischen Georgen-Parochialgemeinde in Berlin-Weißensee. 1992 wird seine letzte Ruhestätte zum Ehrengrab erklärt. Für seine Verdienste am 10. November wird Krützfeld zu Lebzeiten nie geehrt. Er hat sich auch nie um Anerkennung bemüht - aus Bescheidenheit, wie seine Freunde es beschreiben. Lange hat die DDR kein Interesse, an den couragierten Polizisten zu erinnern.
Neben der Neuen Synagoge erinnert seit 1995 eine Gedenktafel an das beherzte Eingreifen des ehemaligen Revierleiters. Das Land Schleswig-Holstein hat Krützfeld am 9. November 1993 durch die Umbenennung der Landespolizeischule in Malente in "Landespolizeischule Wilhelm Krützfeld" nachhaltig gewürdigt.
"Was Krützfeld an der Synagoge tat, war keine Heldentat. Nur Menschenpflicht." Heinz Knobloch "Der beherzte Reviervosteher"