Jo Brauner: 30 Jahre lang die Stimme der "Tagesschau"
Er verkündete am 9. November 1989 in der ARD-"Tagesschau" die Nachricht, dass die DDR ihre Grenzen öffnet. Für Joachim "Jo" Brauner war es die emotionalste Sendung seiner Karriere, die der Wahl-Hamburger am 9. Oktober 2004 beendete.
"Ich habe die Teilung Deutschlands miterlebt, meine Familie aus Schlesien hat unter der Trennung sehr gelitten. Als dieses gehasste Monstrum Mauer fiel, brachen auch bei mir die Dämme. Es war schwer in jenen Tagen, die Fassung zu wahren angesichts der tränenreichen Bilder und Verbrüderungsszenen", beschreibt Brauner in einem Interview mit dem Pressedienst "Kulturpolitische Korrespondenz" seine damalige höchst emotionale Gefühlslage.
Dass der Abend dennoch anders war, sehe man der Sendung heute noch an, so Brauner bei "tagesschau.de": "Ich sitze da mit einer offenen Jacke, die an der Seite sogar umgeschlagen ist. Das wäre normalerweise nie passiert, weil der Regisseur mir gesagt hätte, ich sollte die Jacke zuknöpfen." Dem Nachrichtensprecher gingen die Meldungen auch nach dem 9. November nahe: "Wenn da geweint wurde, musste ich den Regisseur bitten, den Ton herunterzudrehen, weil es mir so nahe ging. Ich bin nah am Wasser gebaut."
Neutralität als oberstes Gebot
Fassung wahren, konzentriert bleiben, nüchtern und sachlich die Nachrichten verlesen - so dürfte der heute 86-Jährige den Zuschauerinnen und Zuschauern der "Tagesschau" in Erinnerung sein. Neutralität sei für Nachrichtensprecher oder -sprecherinnen das oberste Gebot: Es gehe nicht darum, die Nachrichten zu bewerten oder zu beeinflussen, zum Beispiel durch ein markantes Lächeln oder das Hochziehen einer Augenbraue, erklärt der TV-Profi bei "t-online.de" und ergänzt: "Mir ist das in 30 Jahren 'Tagesschau' gut gelungen, möchte ich behaupten."
Brauner leidet bei der "Tagesschau" mit
Auch Jahrzehnte nach seinem Abschied vom TV-Bildschirm lässt ihn die Sendung nicht los. Das Telefon darf auf keinen Fall klingeln, wenn er die "Tagesschau" guckt - und das tut er immer noch, hochkonzentriert und mit viel Herzblut: "Wenn sich eine Kollegin oder ein Kollege verheddert und nicht weiterkann oder bei einem peinlichen Versprecher, dann leide ich mit", verrät er im September 2022 der "Apotheken-Umschau".
In der ersten Zeit nach seiner Pensionierung ruft Brauner bei grammatikalischen oder sachlichen Fehlern auch in der Redaktion an, damit er nicht im Nachrichtenblock der "Tagesthemen" wiederholt würde.
"Sobald die Tagesschau-Melodie erklingt, bin ich richtig involviert. Die Sendung ist und bleibt meine Heimat." Jo Brauner
Aber auch Brauner selbst ist nicht vor Versprechern gefeit: So verkündet er beispielsweise, die Terroristen der RAF seien im Gefängnis Stuttgart-Stammheim in einen "Hummerstreik" getreten. Zum Verhängnis wird ihm auch die Fluggesellschaft KLM: Um sie im niederländischen Original - "Koninklijke Luchtvaart Maatschappij" - richtig auszusprechen, übt und übt er. "In der Sendung habe ich es tatsächlich blendend hinbekommen und alle werden gedacht haben, der Brauner hat bestimmt einen holländischen Vater. Als nächstes kam eine Meldung über den Niedersächsischen Landtag in Hannover. Und ich sage: 'der niederländische Landtag'".
Vom Grundschullehrer zum Radio- und TV-Profi
Nachrichtensprecher wird der am 29. November 1937 im niederschlesischen Nimptsch (heute Niemcza/Polen) geborene Brauner über Umwege. Als Achtjähriger kommt er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Thüringen, macht 1958 das DDR-Staatsexamen am Pädagogischen Institut Leipzig als Grundschullehrer und flüchtet unmittelbar darauf über Berlin-West in die Bundesrepublik nach Hamburg. Weil sein Abschluss aber nicht anerkannt wird, arbeitet Brauner in der Hansestadt unter anderem in einer grafischen Kunstanstalt, dann als kaufmännischer Angestellter bei einer Versicherungsgesellschaft.
1964 bewirbt sich Brauner beim NDR und nimmt Sprechunterricht. Am 15. Mai 1965 liest er seine ersten Live-Nachrichten auf NDR 2. Im Oktober 1965 kündigt er seine Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft und wird hauptberuflich Sprecher in vielen Hörfunk-Abteilungen des NDR. Vorher hat er nur sonntags beim NDR gesprochen.
1967 nimmt Brauner auch eine Tätigkeit als On- und Off-Sprecher bei den "Berichten vom Tage" auf, am 9. Oktober 1974 liest er erstmals eine 10-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau", rund ein halbes Jahr später - am 30. April 1975 - erstmals die Hauptausgabe um 20 Uhr. Am 1. Januar 2000 tritt er die Nachfolge von Dagmar Berghoff als Chefsprecher von ARD aktuell an. Am 9. Oktober 2004, also auf den Tag genau 30 Jahre nach seiner ersten "Tagesschau", präsentiert Brauner letztmals die renommierte Nachrichtensendung, sein Nachfolger wird Jan Hofer.
Starke Nerven, Routine und Konzentration
Seine Disziplin und Seriosität am TV-Bildschirm lebt er auch im Privatleben: Seit 1969 ist er glücklich mit seiner Frau Ann verheiratet und ist Vater zweier erwachsener Töchter. Skandale sucht man bei ihm vergebens: "Man muss sich schon so verhalten, dass die 'Tagesschau' als ehrwürdige Sendung keinen Schaden nimmt. Da kann man nicht besoffen in der Kneipe sitzen und um 20 Uhr so tun, als erklärte man die Welt", sagt er "t-online.de". Für den Beruf brauche man starke Nerven, Routine und Konzentration.
Deshalb blendet Brauner Privatleben und Weltgeschehen auch während der Sendung aus: Im TV-Studio habe er "metaphorisch ausgedrückt" eine Tür hinter sich geschlossen: "Ich habe die Nachrichten verlesen und nach dem Ende der Sendung habe ich diese Tür wieder aufgemacht. Dann sprach man mit Kollegen und, später zu Hause, mit der Familie über die Ereignisse. Das hat geholfen, Belastungen von sich abzustreifen und Druck von sich abzuwenden."
HSV und Tennis: Auch abseits der "Tagesschau" im Einsatz
Aber der Wahl-Hamburger ist nicht nur in der "Tagesschau" zu sehen und zu hören. Von 1973 bis 1991 ist er Stadionsprecher beim Fußballverein Hamburger SV, auch beim Tennis-Turnier am Rothenbaum ist von 1979 bis 2001 seine sonore Moderatoren-Stimme zu hören.
Auch bei diesen Events mit - sagen wir - Show-Charakter lässt Brauner sich in seiner Seriosität nicht verbiegen. Als der damalige HSV-Vereinspräsident Jürgen Hunke aus dem Stadionsprecher mehr eine Art "Anpeitscher" machen will, gibt er den Posten ab: "Es wurde etwas verlangt, was meinem Verständnis eines Sprechers im Stadion nicht entsprach", erinnert sich Brauner im "Hamburger Abendblatt". In der Tat ist Nachfolger Carlo von Tiedemann zwar auch vom NDR, aber ein ganz anderer Typ.
Brauner will nicht riskieren, mit flapsigen oder falsch verstandenen Äußerungen negativ aufzufallen. "Ich möchte möglichst 'Everybody's Darling' sein und will es vermeiden, bei anderen anzuecken", erläutert er in der "Welt" seinen Weg des menschlichen Miteinanders. Dabei ist dem vor der Kamera zur emotionslosen Miene verpflichteten Nachrichtensprecher ein Schmunzeln oder herzhaftes Lachen nicht fremd, im Gegenteil: "Ich bin nämlich eigentlich ein furchtbar alberner Mensch."