VIDEO: Ingrid Haerder: "Da wusste man, dass alles weg ist" (19 Min)

Ingrid Haerder: "Der Himmel war schwarz, es brannte alles"

Stand: 08.02.2023 11:40 Uhr

Das Leben von Ingrid Haerder war voller Höhen und Tiefen. Im Zweiten Weltkrieg erlebte sie den Feuersturm auf Hamburg. Dann kam das Wirtschaftswunder. Im Januar ist sie im Alter von 97 Jahren gestorben. Davor hat sie dem NDR noch ihre Geschichte erzählt.

von Stefanie Grossmann und Heike Schieder

Kindheit und Jugend von Ingrid Haerder sind von einsamen und dunklen Momenten überschattet. Zu ihrem Kummer wächst sie als Einzelkind auf. Als junge Frau bekommt sie die verheerenden Luftangriffe auf Hamburg 1943 hautnah am eignen Leib zu spüren. Bei der "Operation Gomorrha" wird die Wohnung ihrer Familie ausgebombt. Das Geschehene hinterlässt Spuren bei Ingrid Haerder, bisher hat sie kaum über den Zweiten Weltkrieg gesprochen - weder mit ihrem Mann noch mit ihren Kindern und Enkeln. Für die NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben" hat sie sich geöffnet und bewegend ihre Erlebnisse und Eindrücke geschildert.

Eine Kindheit im Schatten der Weltwirtschaftskrise

Ingrid Haerders Vater fährt zur See. © privat
Ingrid Haerders Vater ist Schiffskapitän. Die Tochter bekommt ihn nur selten zu Gesicht.

Ingrid Haerder kommt am 30. Juni 1925 in Hamburg unter dem Mädchennamen Grabo auf die Welt. Die Familie lebt im Stadtteil Blankenese an der Elbe. Ihr Vater ist Kapitän bei der Deutschen Levante-Linie und fährt zur See. Er ist deshalb wenig zuhause. Ingrid wächst zunächst als Einzelkind auf. Als ihre Schwester geboren wird, ist sie bereits fünf. Doch das Geschwisterchen stirbt mit zwei Jahren - und Ingrid fühlt sich allein.

"Darunter habe ich sehr gelitten", beschreibt sie ihre damaligen Gefühle. "Ich habe meine Mutter immer angefleht, sie möchte mal eins adoptieren. Aber das konnte sie natürlich nicht." Die Mutter ist viel krank. 1931 kommt Ingrid zur Schule, bereits ein Jahr später fällt ihr die hohe Zahl von Arbeitslosen und die aggressive Stimmung in der Stadt infolge der Weltwirtschaftskrise auf. Hamburg steht damals kurz vor dem Staatsbankrott. Sie erlebt, wie Menschen auf die Straßen gehen und aus Protest eine Straßenbahn umschmeißen.

"Plötzlich gab es wieder Arbeit und Essen"

Über Politik wird in Ingrids Zuhause nicht gesprochen. Auch nicht, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernehmen und Adolf Hitler Reichskanzler wird. Ihre Eltern hätten sich neutral verhalten, keiner von ihnen sei in der NSDAP gewesen, erzählt Ingrid Haerder in der Rückschau. Aber sie registriert, dass plötzlich Autobahnen gebaut werden und die Menschen wieder Arbeit und auch zu Essen haben. Und wenn Hitler im Hotel Atlantic gewohnt habe, seien die Menschen dahin geströmt, führt sie ihre Beobachtungen von früher weiter aus.

Stigmatisierung von Juden "fand ich fürchterlich"

Ingrid Haerder aus Hamburg mit ihren Eltern 1939 im Harz. © privat
Seltene Momente zu dritt: Ingrid macht Urlaub mit beiden Eltern 1939 im Harz.

Ingrid Haerder erlebt auch die Kehrseite des NS-Regimes: Sie bekommt mit, dass einige Gleichaltrige einen "Judenstern" tragen müssen. "Das fand ich fürchterlich", kommentiert sie die Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung. Als Jugendliche muss Ingrid in den Bund Deutscher Mädel eintreten. Die wöchentlichen Treffen mit Singen, Handarbeiten und Filmschauen empfindet sie als Zwang. Auch das sonntägliche Marschieren. "Das fand ich nicht gut." Doch insgesamt sei es aus ihrer Sicht unmöglich gewesen, Widerstand zu leisten - "da wärst Du an die Wand gestellt worden."

Der Krieg kommt Hamburg immer näher, ab 1940 fliegen die Alliierten Luftangriffe auf die Hansestadt. Ingrid Haerder sucht immer wieder Schutz in unterirdischen Bunkern, zweimal wird sie dabei verschüttet, unter anderem in einem Bunker in der Nähe des Glockengießerwalls. "Wir kommen hier nicht wieder raus", habe es zunächst geheißen. Doch sie schafft es, sich mit den anderen Verschütteten aus der Dunkelheit ans Licht zu tasten. "So genau weiß ich das auch nicht mehr. Irgendwie sind wir rausgekommen", erzählt sie von dem traumatischen Erlebnis.

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Blick vom Kirchturm auf die zerstörte Innenstadt in Richtung Hafen nach den Luftangriffen auf Hamburg 1943 © Uwe Petersen Foto: Andreas Werner

"Operation Gomorrha": Feuersturm vernichtet Hamburg im Juli 1943

Die Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg erreichen in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 ihren Höhepunkt. Zehntausende sterben. mehr

Bomben auf Hamburg: Das Zuhause ist zerstört

Als im Juli 1943 Phosphorbomben auf Hamburg fallen, sei der Himmel schwarz gewesen, erinnert sich Ingrid Haerder an die gespenstische Szenerie. "Und dann brannte alles." Mutter und Tochter können nicht in die zerstörte Wohnung am Schwalbenplatz in der Nähe des Stadtparks zurück: "Wir wussten, dass am nächsten Tag alles weg ist." Sie können nur das retten, "was man tragen konnte" - die Kleider am Leib und einen Koffer, der in der unübersichtlichen Gemengelage allerdings auch noch verloren geht. Sie übernachten bei einer Freundin der Mutter in Berne in der Wesermarsch, dann geht es weiter nach Kellenhusen zu einer Tante.

Vom Meer in die Berge - Flucht quer durch Deutschland

Ingrid Haerder mit ihrer Mutter in Kellenhusen (1938). © privat
Im Ostseebad Kellenhusen erlebt Ingrid mit ihrer Mutter auf der Flucht eine kurze unbeschwerte Zeit.

Doch der Ort an der Ostsee bleibt nur eine Zwischenstation, nach einer Woche müssen Mutter und Tochter Kellenhusen verlassen. Die Flucht führt sie weiter bis in die Nähe von Magdeburg. An die dortige Zeit erinnert sich Ingrid Haerder mit Schrecken: "Das war fürchterlich." Sie fühlt sich damals wie eingesperrt. "Man durfte dort nur weg, wenn man nachweisen konnte, dass man irgendwo aufgenommen wurde."

Schließlich kommt sie mit ihrer Mutter bei einer Familie im bayerischen Ettal unter, wo bereits eine Cousine lebt. Der Aufenthalt währt ein halbes Jahr, dann packt Ingrid Haerder das Heimweh: "Nee, nur Berge, ich will wieder nach oben." Eine Freundin der Mutter nimmt beide übergangsweise auf. Ingrids Mutter fährt jeden Tag zur Zimmervergabe nach Blankenese und spricht dort vor. Schließlich mit Erfolg: Die Haerders bekommen eine Zweizimmerwohnung an den Elbterrassen.

Kriegsende: "Endlich hörte man keine Sirenen mehr"

Der Krieg wirbelt auch die Schul- und Lehrzeit durcheinander, 1944 besucht Ingrid die Höhere Handelsschule, im letzten Kriegsjahr arbeitet sie als dann Reichsangestellte beim Luftfahrtkommando. Bis zuletzt geht die damals 20-Jährige davon aus, dass die Deutschen den Krieg gewinnen werden. "Die 'V2' kommt noch", habe es ihr zufolge immer geheißen. Doch sie selbst ist froh, als der Krieg mit der Kapitulation zu Ende ist: "Endlich hörte man keine Kanonen und keine Sirenen mehr. Das war eigentlich das Schönste." Doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt: Eine Jugend habe sie nicht gehabt, so Haerders Fazit nach sechs Jahren Krieg.

Nachkriegsjahre: Liebe und Handel mit Selbstgemachtem

Ingrid und Klaus Haerder in den Flitterwochen 1947 © privat
Werden ein Paar in der Liebe und im Geschäftsleben: Ingrid und Klaus Haerder.

Im August 1945 lernt Ingrid Haerder ihren zukünftigen Mann in der S-Bahn kennen. Ihr Zukünftiger habe sich über ihren Hut lustig gemacht. Und: "Ich konnte gut mit den großen Augen kullern", erzählt sie amüsiert über die erste Begegnung. Klaus Haerder ist Überseekaufmann und vor Kurzem aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er lädt sie ins Café Schröder ein. Dort trifft sich das Paar von nun an häufiger.

Der Krieg ist kaum Thema zwischen den beiden: "Darüber haben wir nicht viel gesprochen", sagt Ingrid Haerder. Aus dem Liebespaar entwickelt sich in den Nachkriegsjahren auch ein Geschäftspaar. Sie bauen zunächst einen Kunstgewerbehandel auf, dort verkaufen sie Selbstgemachtes: Giraffen aus Blumendraht, Teller aus Messingblech und gestrickte Pullover.

Hochzeit 1947: "Ich habe gewusst, er ist der Richtige"

Hochzeitsfoto von Ingrid und Klaus Haerder aus Hamburg, 1947 © privat
Weil es nach dem Krieg nichts gibt, heiratet Ingrid Haerder in einem geänderten Kleid einer Cousine aus den USA.

Im November 1946 macht Klaus Haerder seiner Ingrid in der Nähe des Blankeneser Bahnhofs einen Heiratsantrag. "Und dann fielen so viele Sternschnuppen vom Himmel", erinnert sich Ingrid Haerder an den bewegenden Moment. Sie habe gewusst, dass er der Richtige ist.

Im Juli 1947 steigt die Hochzeit. Die Braut trägt ein amerikanisches Kleid, das aus dem Kostüm-Fundus einer Cousine stammt, die als Sängerin in Amerika lebt. Gefeiert wird im Haus von Ingrids Eltern. Das neue Zuhause des jung vermählten Paares wird eine Souterrain-Wohnung in einem Haus in Blankenese. Zwei Jahre später sind sie zu dritt: Tochter Dörte ist da.

Wirtschaftlicher Aufschwung durch Kaffee-Handel

Dörte Haerder steht vor dem ersten Auto der Familie. © privat
Erster Luxusgegenstand von Familie Haerder ist ein Holzauto. Auf dem Foto ist Tochter Dörte vor dem "DKW" zu sehen.

Auch wirtschaftlich geht es aufwärts für die Haerders: 1950 steigen sie in den Handel mit Kaffee ein, das Paar baut drei Geschäfte auf: "Wir haben uns langsam nach oben gearbeitet." Ingrid und Klaus Haerder erleben nach Jahren der Entbehrungen so etwas wie Luxus. Sie kaufen sich ihr erstes Auto, einen Dampfkraftwagen "DKW" aus Holz. Als der Sohn auf die Welt kommt, besitzen sie bereits zwei VW-Käfer. Die 50er-Jahre bringen auch das gesellschaftliche Leben von Ingrid Haerder und ihrem Mann in Schwung, mit Freunden feiern sie Kostümfeste und Partys. 1957 erwerben sie für 35.000 D-Mark ein Haus in Blankenese.

Doch mit den Jahren bekommen sie Konkurrenz im Kaffeegeschäft von Unternehmen wie der Familie Herz. 1960 steigt Klaus Haerder aus der Branche aus, arbeitet von nun an als Vertreter für Boehringer Ingelheim. Ingrid Haeder führt noch bis zum Verkauf ihres Kaffeehandels im Jahr 1964 die Geschäfte weiter. Im gleichen Jahr verkaufen sie das Reihenhaus in Blankenese für 100.000 D-Mark und ziehen in einen Bungalow nach Wedel. Später verkaufen sie auch dieses Haus und bauen für sich und Ingrids Eltern ein Haus mit Einliegerwohnung.

70 Jahre Ehe - und kein Gedanke an Scheidung

Ingrid und Klaus Haerder © privat
Gehen rund 70 Jahre durch dick und dünn: Ingrid und Klaus Haerder.

Auf ihre Ehe blickt Ingrid Haerder zufrieden zurück: "Wir waren beide unkompliziert, es gab nicht mein und dein", beschreibt sie das Zusammenleben mit ihrem Mann. Beide hätten jeweils den Wunsch des anderen toleriert und Kompromisse geschlossen. "Auch, wenn wir manchmal verquer waren." Als Klaus Haerder etwa ein Boot kaufen will, sei sie nicht so begeistert gewesen. Aber sie habe alles mitgemacht. "Dann haben wir das Boot wieder verkauft und ich war glücklich", schmunzelt Ingrid Haerder in der Rückschau. Als Klaus Haerder an Morbus Boeck erkrankt, einem entzündlichen Systemleiden, hilft seine Frau ihm durch die schwere Zeit. In rund 70 Jahren Ehe hätten sie "nie an Scheidung gedacht."

Das Projekt: Jahrhundertleben - Das Vermächtnis der 100-Jährigen

Vom Krankenhaus direkt in die Seniorenresidenz

2016 begleitet Ingrid Haerder ihren Mann in eine Klinik. Die zierliche Frau wird in der Notaufnahme so schwer von einer Automatiktür getroffen, dass sie einen Trümmerbruch im Becken erleidet. Auch sie muss nun im Krankenhaus bleiben. "Ich hatte nur eine Handtasche dabei", erinnert sie sich. Nach Behandlung und anschließender Reha zieht das Paar direkt in eine Seniorenresidenz - und Ingrid Haerder bereitet es kaum Kummer, nicht ins eigene Haus zurückzukehren: "Ich war froh, ein Bett zu haben." Um so schwerer trifft sie wenige Jahre später der Tod ihres Mannes. Die gemeinsame Wohnung in der Seniorenresidenz tauscht sie in eine kleinere, weil sie die Erinnerung an ihn nicht erträgt.

Außerordentliches Gedächtnis: Meisterin der Geburtstage

Ingrid Haerder aus Hamburg © NDR Foto: André Bacher
Mit 97 geistig fit: Ingrid Haerder freut sich über ihr besonderes Geburtstags-Gedächtnis.

Trotz ihrer 97 Jahre verfügt Ingrid Haerders über ein außerordentliches Gedächtnis: Natürlich kennt sie die Geburtstage ihrer Kinder, auch die der sieben Enkel und elf Urenkel. Aber auch die aller Angestellten sowie Bewohnerinnen und Bewohner ihrer Seniorenresidenz. Wenn sie das Datum einmal höre, vergesse sie es nie wieder, freut Haerder sich über ihr Erinnerungsvermögen.

"So alt wollte ich ja gar nicht werden"

In Ingrid Haeders Familie ist keiner so alt geworden wie sie. Großmutter und Vater starben mit 74, die Mutter mit 76. Sie selbst habe gar nicht so alt werden wollen - und fühle sich tatsächlich etwas allein, sagt sie noch im Spätsommer 2022: "Meine Kinder sind alle woanders. Und ich bin hier." An ein Leben nach dem Tod glaubt sie nicht. Aber sie weiß, wo sie schlussendlich sein möchte: "Mein Mann liegt unter einem Baum. Daneben ist ein Teich mit Äpfeln. Und da komme ich auch hin."

Dieser Wunsch wurde Ingrid Haerder erfüllt. Am 16. Januar 2023 ist sie im Alter von 97 Jahren in Hamburg gestorben und hat ihre letzte Ruhe nun neben ihrem Mann gefunden.

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Dieses Thema im Programm:

Doku & Reportage | 02.01.2023 | 22:00 Uhr

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