Raketenschmiede Peenemünde: NS-Waffen und Welterbe-Debatten
In Peenemünde hebt am 3. Oktober 1942 das sogenannte Aggregat 4 ab. Die erste Rakete im Weltraum - ein Triumph der Wissenschaft. Doch die Nazis nutzen sie als "Vergeltungsrakete" V2. Unvereinbarkeiten für ein Welterbe?
Heller Anzug, wuchtige Zigarre, vor sich das Modell eines Düsenjets: In einer Fernseh-Doku von 1957 gibt sich Walter Dornberger als zupackender Unternehmer. Mit markigen Worten preist er Peenemünde auf Usedom als den "Geburtsort der Raumfahrt": Dort sei "mit 300 Millionen Mark eine Versuchsstelle geschaffen" worden, "die ihresgleichen in der Welt auch jetzt noch nicht hat. Wir hatten am Schluss dort eine Belegschaft von 14.000 Mann." Zur "Belegschaft" gehörten Tausende Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Hunderte von ihnen starben. Das verschweigt Dornberger im Interview. Mit der Wahrheit nahm er es offenbar nicht so genau.
Raketen aus Peenemünde werden zu "Vergeltungswaffen"
Peenemünde war kein normaler Betrieb und Dornberger kein normaler Manager. Nur wenige Jahre vor dem TV-Interview trug Dornberger noch die Uniform eines Wehrmacht-Generals. Als Leiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und des Raketen-Programms des NS-Regimes hatte er eine klare Aufgabe: die Entwicklung neuartiger Waffen. Mit Raketen aus Peenemünde sollte der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich entschieden werden. Doch die als "Vergeltungswaffen" propagierten V1 und V2 waren vor allem teuer und aus militärischer Sicht ineffizient.
Erste Rakete im All kommt aus Peenemünde
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt zunächst die Rote Armee, dann die Nationale Volksarmee der DDR das 25 Quadratkilometer große Gebiet der einstigen Heeresversuchsanstalt im Norden der Urlauberinsel Usedom. Bis 1990 ist der Ort, von dem aus am 3. Oktober 1942 die erste Rakete der Menschheitsgeschichte das All erreicht, Sperrgebiet. Das macht Peenemünde zu einem geheimnisvollen Ort und lädt ein zur Legendenbildung. Bis heute sind die Spuren der militärischen Nutzung auf Usedoms Nordspitze zu sehen: "Schon auf dem Weg dahin: Bombentrichter, Ruinen, Zäune mit Schildern, auf denen 'Munitionsbelastetes Gebiet! Betreten verboten!' steht", sagt Phillip Aumann. Er leitet das Historisch-Technische Museum (HTM) Peenemünde, das die Geschichte der vorpommerschen Raketenschmiede darstellt.
Privatschau schürt Legenden um "Geburtsort der Raumfahrt"
Der Vorläufer des heutigen staatlichen Museums ist einst eine privat organisierte Ausstellung ehemaliger NVA-Soldaten. Nach dem Zusammenbruch der DDR eröffnen sie im Kraftwerk Peenemünde ein kleines Museum. Draußen gibt es alte DDR-Militärtechnik zu sehen, drinnen ein Sammelsurium an Dokumenten und Objekten aus der NS-Zeit. Die Ausstellung knüpft an die Legende von Peenemünde als "Geburtsort der Raumfahrt" an. "Sie akzeptierten leichtfertig diese nationalistische, vereinfachende Schönfärberei und sie spielten die Militär- und die Nazi-Verbindungen des Ortes herunter", sagt Michael J. Neufeld. Der kanadische Historiker ist einer der weltweit renommiertesten Experten zur Geschichte Peenemündes. Er war lange Leiter der Raumfahrtabteilung des National Air and Space Museum in Washington.
Party in Peenemünde? Die Briten sind "not amused"
Im Oktober 1992 kommt es zum großen Skandal: Die ostdeutschen Ex-Militärs und die westdeutsche Luft- und Raumfahrtindustrie planen gemeinsam einen großen Festakt zum 50. Jahrestag des ersten Raketen-Starts. Party in Peenemünde? Vor allem in Großbritannien ist man "not amused". Dort sind V1 und V2 vor allem als todbringende Terror-Waffen in Erinnerung. Zwischen 8.000 und 12.000 Menschen kamen bei deutschen Raketenangriffen auf London und andere Städte in Großbritannien und Belgien ums Leben. Der geplante Festakt in Peenemünde wird von den Briten deshalb als skandalös empfunden. "Jetzt will Deutschland quasi seine Geschichte klittern, um sich wieder als Großmacht zu inszenieren und damit wieder eine Hegemonie in Europa anzustreben", fasst Phillip Aumann die damalige Kritik zusammen. Wegen des öffentlichen Drucks wird die Feier in letzter Minute abgesagt.
Krieg und Zwangsarbeit: Neustart mit kritischer Ausstellung
Vor Ort setzt nun langsam ein neues Nachdenken ein. Die unkritische erste Dauerausstellung wird ab dem Jahr 2000 durch eine neue, wissenschaftlich fundierte ersetzt. Sie schaut genauer hin, thematisiert die Verantwortung von Wissenschaft und Technik, blickt auf Zwangsarbeit und totalen Krieg. Sie macht Schluss mit dem Mythos vom "Geburtsort der Raumfahrt". Sie stellt sich der Wahrheit über den Waffen-Produktionsort Peenemünde. Für Museumsleiter Phillip Aumann hat die Schau bis heute vor allem ein Ziel: Besucherinnen und Besucher sollen sich ihre eigenen Gedanken machen. "Dann merkt man vielleicht auch, dass Geschichte eigentlich immer eine Sache von komplexem Nachdenken ist. Und man lernt, sich selbst, seine Vorannahmen, seinen ideologischen Rucksack immer ein bisschen infrage zu stellen."
2011 nimmt Peenemünde ersten Anlauf zum Welterbe-Ort
Peenemünde als zwiespältiger Ort, der die Gleichzeitigkeit von Fortschritt für die Menschheit und vom Rückschritt der Menschlichkeit zeigt: 2011 äußert Mecklenburg-Vorpommerns damaliger Kultusminister Henry Tesch (CDU) den Wunsch, Peenemünde zum Welterbe-Ort zu machen. Zusammen mit dem russischen Weltraumbahnhof Baikonur und dem amerikanischen Raketenstartgelände Cape Canaveral.
Auschwitz bis Hiroshima: "Kulturerbe auch schwierige Orte"
Was Tesch nicht im Sinn hat, ist eine Glorifizierung des Ortes. Ihm geht es darum, Peenemünde zum Welterbe zu ernennen, um auf diese Weise auch die dunklen Seiten und Brüche der Geschichte zu thematisieren. Denn auch dies, so Tesch heute, gehöre zur Menschheit: "Kulturerbe sind nicht nur Schlösser, sondern auch schwierige Orte. Die Natur des Menschen kann mitunter anders sein." Auch deshalb stünden das Konzentrationslager Auschwitzund Hiroshima auf der Welterbeliste der UNESCO. Doch Tesch kann sich mit seiner Idee nicht durchsetzen. Die Landesregierung, der er angehört, lehnt eine Bewerbung mehrheitlich ab.
Historiker Neufeld sieht Widerspruch zur Welterbe-Idee
Michael J. Neufeld, der für sein 1995 erschienenes und als Standardwerk geltendes Buch "Das Reich und die Rakete" als erster Historiker systematisch Akten und Dokumente zu Peenemünde ausgewertet hat, ist skeptisch, ob das Label Welterbe angemessen ist: "Es würde Peenemünde viel positiver erscheinen lassen, als es vielleicht sein sollte. Angesichts seiner Geschichte als Waffenproduzent, Waffenentwickler, als Ort der Zwangsarbeit. Ich denke, das wäre genauso problematisch wie die Bezeichnung Peenemündes als 'Geburtsort der Raumfahrt'".
Peenemünde, der komplexe, widersprüchliche und widerspenstige Ort - in einer Reihe mit der Akropolis, Notre Dame, Rom? Mecklenburg-Vorpommerns amtierende Kulturministerin Bettina Martin (SPD) versteht die Bedenken: "Wir haben ja in der Geschichte dieses Gedenkortes durchaus auch Debatten gehabt, die nach hinten losgegangen sind, wo vielleicht nicht der richtige Ton gefunden wurde."
Auf der zweite Anlauf zum Kulturerbe scheitert
Im Herbst 2021 unternimmt die Landesregierung, der Martin angehört, trotzdem einen zweiten Anlauf. Das Kabinett beschließt nun tatsächlich eine Bewerbung und möchte Peenemünde auf die deutsche Vorschlagsliste setzen lassen. Wenige Tage später wird die Idee wieder zurückgezogen. "Am Ende hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass wir noch nicht so weit sind. Der wissenschaftliche Beirat hat auch gesagt: 'Wenn ihr das macht, müsst ihr auch die Partner aus anderen Ländern mit einbeziehen", erklärt Bettina Martin das Hin und Her. Ob dies eine endgültige Entscheidung gegen einen Welterbe-Ort Peenemünde ist, vermag die Ministerin im Interview mit dem NDR Nordmagazin nicht zu sagen. Doch: "Jetzt ist die Idee erst mal vom Tisch."
Peenemünde: Ein Ort mit "global historischem Wert"
Der Peenemünder Museumschef Phillip Aumann verfolgt die Diskussion um den Welterbe-Status für die Raketenschmiede aufmerksam. Er bedauert die aus seiner Sicht häufig reflexartigen Reaktionen. Oft werde sofort abgelehnt oder aber gesagt: "Super! Machen wir, weil Peenemünde so toll ist." Er selbst ist sich sicher: "Diese Ruinen da draußen sind nicht einfach Betonbrocken, die irgendwie zufällig rumliegen, sondern die haben wirklich einen hohen Wert. Die haben global historischen Kulturwert."
Unterdessen arbeitet das Historisch-Technische Museum in Peenemünde gerade an einer neuen, der dritten Dauerausstellung. Sie soll sich mit Peenemünde als Ort beschäftigen, an dem sich Fragen von Menschheit und Menschlichkeit immer wieder stellen.