Helga Wienhöfer: "Für Kultur war in der DDR Geld da"

Stand: 01.01.2024 18:45 Uhr

Eigentlich sollte sie Lehrerin werden, doch Helga Wienhöfer aus Barth fand ihre Erfüllung in der Schauspielerei. Nach ihrer Ausbildung spielte die heute 95-Jährige an vielen verschiedenen Theatern. Ein Jahrhundertleben.

Helga Wienhöfer dürfte die älteste noch aktive Schauspielerin in Mecklenburg-Vorpommern sein - wenn nicht sogar im ganzen Norden. Am 2. Mai 1928 geboren, spielt sie immer noch auf der Barther Boddenbühne - im Sommer 2023 im Stück "Die Wikinger", zwei Aufführungen die Woche. Hinzu kommt dienstags der Keramik-Kurs, donnerstags die Physiotherapie. Seit Oktober stehen Proben für ein neues Stück an, das Silvester Premiere hat.

Sie wohnt allein in einem kuscheligen Häuschen mit steiler Treppe ins Obergeschoss. Als sie hier vor 26 Jahren einzog, hatte sie noch direkten Blick auf den Barther Bodden. Heute ist alles zugebaut. "Jeder Meter am Hafen teuer verkauft", sagt sie enttäuscht. Überhaupt regiere heute das Geld, die jungen Leute hätten keinen Biss mehr. Sie ist für ihren Traum, Schauspielerin zu sein, ständig umgezogen. Von Engagement zu Engagement.

Den Vater früh verloren

Ihr Großvater war Dreher, Sozialist. Als Bismarck das Sozialistengesetz erließ, musste die Familie weg aus Goldow in Pommern, in der Nähe von Stettin. In Fürstenwalde werden sie sesshaft, der Großvater gründet dort einen Konsum, so wurde ein Lebensmittelgeschäft früher genannt. Ihr Vater spielt Geige und Mandoline. Von Beruf war er Buchdrucker. Er stirbt mit 46 Jahren an Tuberkulose. Die Blei-Buchstaben haben seine Lunge geschädigt. Er fährt noch zur Kur nach Davos in der Schweiz, wird von Professor Ferdinand Sauerbruch persönlich operiert. Doch es ist zu spät. Für Helga ein schlimmer Verlust, war sie doch "Papa-Kind."

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Die Mutter verwöhnt ihr einziges Kind

Ihre Mutter wäre gern Lehrerin geworden, aber das ging damals nicht. Später ist sie mit Leib und Seele Konsumverkäuferin. Helga bleibt ein Einzelkind. Ihre Mutter ist ein zartes Persönchen, eine zweite Schwangerschaft hätte sie nicht überlebt. So wird Helga verwöhnt. Ihr Lieblingsspielzeug: eine Babypuppe, mit Augen, die auf- und zuklappen. Sie ist eine Leseratte, taucht in die Welt von Jack London ein. Sie träumt von einem Leben als Schauspielerin. Gedichte aufsagen, das hat sie in der Schule zelebriert.

Den Fliegeralarm während des Zweiten Weltkriegs sehen die Kinder positiv: Mathe fällt aus! Mit 15 Jahren muss sie sich entscheiden: ein Pflichtjahr auf dem Land oder bei der Kinderland-Verschickung als "Animateurin" helfen. Sie entscheidet sich für die Kinderbetreuung.

Drei Jahre Schauspiel-Ausbildung

Helga Wienhöfer aus Barth © Helga Wienhöfer
Helga Wienhöfer zieht die Schauspielerei dem Lehrerberuf vor.

Nach dem Krieg macht sie Scherenschnitte, um ein paar Mark zu verdienen. Eine Freundin nimmt sie mit ins Theater in Köthen, wohin die Familie mittlerweile gezogen ist. Der Chor sucht Nachwuchs. Sie wird Chorführerin, fällt durch ihre Darstellungen auf. Drei Jahre dauert die Schauspielausbildung. Ihre Eltern hätten sie lieber als Lehrerin gesehen. Lehrer werden nach dem Krieg gesucht, fast jeder hat eine Chance. Doch Helga lernt Ballett, Spiel, Singen Sie bekommt erste kleine Sprechrollen.

Die Lebensmittelkarten nach dem Krieg reichen nicht aus. Zum Glück hat sie einen Cousin, der in einer Zuckerfabrik arbeitet. Es wird geschoben und getauscht, sodass die Familie satt wird. Aus Haferflocken werden Bratheringe, Klopse, und Brei. Als Helga Augenprobleme bekommt, kaum noch sehen kann, verordnet der Arzt Butter. Alle müsse ihre Rationen Helga geben.

Shakespeares "Was Ihr wollt" ist eins ihrer Lieblingsstücke

Ihr erstes Engagement hat sie am Theater in Senftenberg. Ihre Lieblingsstücke "Die Patrioten" von Friedrich Wolf und Shakespeares "Was Ihr wollt". Alle zwei Jahre wechselt sie an ein neues Haus. Sie spielt in Köthen mit dem späteren "Derrick"-Darsteller Horst Tappert, mit Petra Hintze, der Frau von Dieter Mann. Manfred Krug findet sie toll, auch Armin Müller-Stahl. Als die Schauspieler in den Westen gehen, bekommt sie das kaum mit. Sie ist in ihrer eigenen Welt.

Zwei Söhne - Ehe scheitert

Mit 28 Jahren wird sie das erste Mal schwanger. Sie heiratet und bekommt eineinhalb Jahre später ihren zweiten Sohn. Es gab noch keine Pille. "Es ist einfach passiert." Die Ehe scheitert. Aber darüber redet sie nicht. Ja, es habe Männer gegeben, aber geheiratet hat sie nicht wieder. Selbstbestimmt will sie leben. Sie war und ist mit ihrem Beruf verheiratet. Einen Sohn hat sie schon verloren, sie hat Enkel und Urenkel - alle weit weg, aber innig verbunden.

Eins der ersten Sommertheater in Mecklenburg-Vorpommern

Helga Wienhöfer aus Barth © Helga Wienhöfer
Helga Wienhöfer in schicker Lederjacke und mit cooler Sonnenbrille.

1974 zieht sie mit ihren Kindern nach Barth und übernimmt das Kreiskulturhaus. Ihre Dienstwohnung ist über der Disco. Sie organisiert Veranstaltungen, Kurse und Lesungen. "Für Kultur war in der DDR Geld da", erklärt Helga Wienhöfer. 1988 wird sie offiziell Rentnerin. Doch sie arbeitet weiter und bringt das Kulturhaus über die Wendezeit. 1990 beginnt sie wieder, als Schauspielerin zu arbeiten. Mit der Barther Boddenbühne entwickelt sie eines der ersten "Sommertheater" im jungen Mecklenburg-Vorpommern. Bis heute steht WH, wie ihre Kollegen sie liebe- und respektvoll nennen, dort zwei Mal die Woche auf der Bühne - 2023 als "Seherin". Bei Lichtwechseln muss sie einen Moment zögern. Nach einem Tumor hat sie ein Glasauge. Das rechte Auge braucht jetzt ein bisschen länger, um den Verlust auszugleichen.

"Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer"

Sie war keine Sozialistin, aber der Staat heute, der ist nicht ihrer. Es gehe alles so ungerecht zu. Die Reichen würden immer reicher, die Armen immer ärmer. Es zähle nur das Geld. Den Kindern werde jegliche Vorfreude genommen. Früher sei Weihnachten ein Ereignis gewesen. Heute gebe es schon im August Weihnachtsmänner. "Wir werden zugeschüttet mit Informationen im Fernsehen, auf den Handys. Daddeln statt Sport" - so sieht sie die Jugend.

Disziplin hält sie am Leben

Helga Wienhöfer aus Barth © NDR
Helga Wienhöfer mag die "Tatort"-Kommissare aus Münster und Köln.

Kurz vor dem 90. Geburtstag bricht sie sich den Oberschenkel, liegt zwei Tage in der Wohnung, bis sie entdeckt wird. Mit eiserner Disziplin kämpft sie sich durch die Reha. "Ohne Disziplin würde ich mir schon die Radieschen von unten angucken."

Sie liebt den Münsteraner "Tatort" mit Börne und Thiel sowie den Kölner Ermittlern. Früher ist sie gern in der Ostsee oder im Bodden geschwommen. Das klappt jetzt nicht mehr. In ihrem Garten hat sie ein kleines "FKK-Eckchen". FKK war weit verbreitet in der DDR. "Es gibt so ein Gefühl von Freiheit", sagt sie.

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01.01.2024 | 18:45 Uhr

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