Gerda Gidl: "Hinnehmen, was kommt - und das Beste draus machen"
Gerda Gidl, Jahrgang 1923, ist das älteste aktive Mitglied des THW Kiel. Sie blickt zurück auf ein Jahrhundertleben voll mit Sport und Engagement für die Familie. Bis Corona kam, war die Kielerin so aktiv, dass sie ihr hohes Alter kaum bemerkte.
Gerda Gidl war zuerst Dänin, ab 1932 Deutsche und ab 1948 Österreicherin. Das ist ihr aber alles nicht so wichtig. Dass sie bereits seit 1930 Mitglied beim THW Kiel ist, sicherlich schon eher. Denn Sport ist die Konstante im Leben der 99-Jährigen, die die meiste Zeit ihres Lebens in Kiel verbracht hat und auch heute noch dort wohnt. In der NS-Zeit spielte sie Handball auf Spitzenniveau, in den 70er-Jahren gründete sie mit ehemaligen THW-Profis wie Fritz Westheider, Fritz Weßling, Herbert Rohwer eine Volleyball-Freizeitmannschaft. Später entschied sich sich gegen ein ruhiges Rentner-Dasein, schmiss den Haushalt ihres Sohnes und zog ihre zwei Enkelkinder mit groß. Heute ist sie stolze Uroma, macht sich wegen der Klimakrise aber auch Sorgen um die Zukunft ihrer Urenkel, wie sie in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben" erzählt.
Dänische Bauern und norddeutsche Fischer als Vorfahren
Geboren wird Gerda Gidl am 14. Mai 1923 als Gerda Petersen in Norburg auf der dänischen Ostseeinsel Alsen. Ihre Vorfahren sind dänische Bauern auf der väterlichen Seite und Fischer aus Laboe auf der Seite ihrer Mutter. "Die sind nachts sind mit ihren Booten rausgefahren", erzählt Gidl. "Mein Großvater ist sogar noch um Kap Hoorn gesegelt - und sein Bruder ist dageblieben."
Gefunden hatten sich Gidls Eltern während des Ersten Weltkriegs in Laboe, als ihr Vater in einer Musikkapelle spielte. "Da haben sie sich beim Tanzen kennengelernt", sagt Gidl. "Meine Mutter ist dann mit ihm nach Dänemark gezogen, und da haben sie 1920 geheiratet.'' Bis zu ihrem dritten Lebensjahr wächst Gidl auf Alsen auf. Sie hat einen drei Jahre älteren Bruder und bekommt 1925 noch eine Schwester. Ihr Vater betreibt in Norburg ein Geschäft für Musikinstrumente und spielt als Organist in der Kirche. Ihre Mutter ist Hausfrau. "Im Haushalt konnte sie alles perfekt, egal, was es war", erinnert sich Gidl.
"Bei uns zu Hause war immer Musik"
1926 geht die Familie nach Kiel, zieht in eine Wohnung in der Schleswiger Straße im Stadtteil Hassee. "Mein Vater ist da nie so mit rausgerückt. Aber ich denke, dass ihm sein Neffe den Floh ins Ohr gesetzt hat, dass man in Schleswig-Holstein viel Geld verdienen kann mit Musik", vermutet Gidl. "Er ist dann auch die ersten Sommer in Westerland gewesen, hat mit einer Kapelle Konzerte gegeben und zum Tanz gespielt."
Auch in Kiel musiziert der Vater, spielt Akkordeon in Tanzkapellen und begleitet Ballettgruppen am Klavier. "Überall, wo Musik war, hat er mich mitgenommen", erinnert sich Gidl. Als sie älter wird, ist sie als Tänzerin mit dabei oder spielt Xylophon bei Varieté-Nummern. "Auch bei uns zu Hause war immer Musik. Mein Vater hat jeden Tag Klavier gespielt - und wir mussten das auch lernen."
Ebbe in der Haushaltskasse
Wenn der Vater keine Engagements hat, herrscht Ebbe in der Haushaltskasse. "Eine richtige Arbeitsstelle hatte er nicht", erzählt Gidl. So muss sich die Familie immer wieder einschränken: "Zum Wochenmarkt ist meine Mutter zu Fuß gegangen. Mit den vollen Taschen ging es dann mit der Straßenbahn zurück, das kostete 15 Pfennig. Aber die waren nicht immer drin." Obwohl sie arm aufwuchs, sagt Gidl: "Ich habe das nie so empfunden - wir haben nichts entbehrt."
Als klar wird, dass die Familie in Deutschland bleibt, nehmen Gidl und ihre Geschwister 1932 die deutsche Staatsbürgerschaft an - aus Dänen werden Deutsche.
"Wir wurden ja nicht gefragt, was wir wollen"
Nach dem Besuch einer Mädchenschule in der Nachbarschaft wechselt Gidl auf die Handelsschule. "Mein Bruder ging aufs Gymnasium - Oberrealschule hieß das damals. Wir Mädchen konnten die Realschule oder das Lyzeum nicht besuchen, denn jedes Schuljahr kostete für meinen Bruder 200 Mark." Ihre Eltern hätten es als selbstverständlich betrachtet, dass sie und ihre Schwester nach der Schule als Sekretärinnen im Büro arbeiten sollten. "Wir wurden ja nicht gefragt, was wir wollen." Gidl stellt die elterlichen Pläne damals nicht infrage. 1937, als 14-Jährige, schließt sie die Handelsschule ab und fängt beim Kieler Architekturbüro Schnittger als Schreibkraft an.
Machtübernahme der Nazis: Werft-Job für den Vater
Vier Jahre zuvor haben die Nationalsozialisten die Macht übernommen und sind nun dabei, die Demokratie über Bord zu werfen und die Gesellschaft im Sinne ihrer Ideologie in eine "Volksgemeinschaft" umzubauen. Ihr Vater, erinnert sich Gidl, sei "sehr für Hitler" gewesen. Er macht eine Umschulung und bekommt einen Job als Buchhalter bei den Howaldtswerken in Kiel. Die Aufrüstung der Marine sorgt für eine Belebung der Werft, nachdem sie durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 20er-Jahre am Boden gelegen hatte. Als dort am 8. Dezember 1936 das Schlachtschiff "Gneisenau" vom Stapel läuft, kommt Adolf Hitler nach Kiel. "Da haben wir ihn dann mal aus der Ferne gesehen", erinnert sich Gidl.
"Bei den Nazis war Sport ja hoch angesehen"
Gidls Jugend in der NS-Zeit ist vor allem geprägt durch Sport. Sie macht Geräteturnen, geht zum Rudern und spielt Handball - letzteres auf so hohem Niveau, dass sie bereits mit 14 in der Frauenmannschaft der 18- und 19-Jährigen des THW Kiel mitspielt. Von Aktivitäten des Bundes Deutscher Mädel (BDM), bei dem Gidl Mitglied ist, ist sie befreit. "Bei den Nazis war Sport ja hoch angesehen. Daher musste ich nicht zum Heimabend, wo sie Lieder wie 'Schwarzbraun ist die Haselnuss' gesungen haben."
Feldhandball: Bronzemedaille in Breslau
Gidl nimmt an Ruder-Wettbewerben teil und gewinnt bei den Reichsjugend-Handballmeisterschaften 1941 in Breslau mit einer Auswahlmannschaft aus Schleswig-Holstein die Bronzemedaille. Gespielt wird zu dieser Zeit auf dem freien Feld - das moderne Hallenhandball mit seinem kleineren Spielfeld, höherem Tempo und mehr Torchancen soll sich erst Jahre später durchsetzen. "Wie viele Kilometer wir da abgelaufen sind - das ging ja nur hin und her", erzählt die damalige Abwehrspielerin. Beim Spiel um den dritten Platz gegen die Auswahl aus Baden-Württemberg erinnert sich Gidl an einen Endstand von 5:3 - ein für Feldhandball übliches Ergebnis.
Obwohl die Nazis Veranstaltungen wie die Reichsjugend-Handballmeisterschaften damals zu Propaganda-Zwecken nutzen, sagt Gidl: "Wir haben beim Sport kaum darüber geredet." Zwar hätten sie BDM-Uniformen und Trikots mit Hakenkreuzen tragen müssen. "Aber ansonsten haben wir nie über Hitler oder so gesprochen."
Augenzeugin der Reichspogromnacht in Kiel
Am Morgen des 10. November 1938 wird Gidl auf dem Weg zur Arbeit im Knooper Weg Augenzeugin der Zerstörung, die die vom Regime gelenkte Gewalt in der Reichspogromnacht angerichtet hat. "Die jüdischen Herrenausstatter und Läden für Damenbekleidung - alles war zertrümmert, die Sachen auf den Bürgersteig geworfen. Ich habe habe mein Rad geschoben und bin stillschweigend weiter."
Kurz darauf kommt sie an der Synagoge an der Goethestraße vorbei. "Die hatte so ein schönes, goldenes Dach - und brannte lichterloh, als ich vorbeifuhr. Das war ganz schrecklich. Nebenan wurden die Juden aus ihren Häusern geholt." Die Kielerin erzählt vom Schrecken, der sie damals gepackt hat. Sie sagt aber auch: "Ich war da 15 Jahre alt. Warum die SA die Juden verfolgt hat, konnte ich eigentlich nicht sagen. Mir ist das nicht bewusst geworden. Mit 15 weiß man das noch nicht."
Im besetzten Polen: "Für mich wie im Frieden"
Gidl ist gerade von einer "Kraft durch Freude"-Reise zurückgekehrt, als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt. Ihr Bruder, gerade mit der Schule fertig, wird zur Wehrmacht eingezogen. "Abi und an die Front. Polen, Holland, Frankreich, Russland - der konnte nicht aufatmen damals."
Sie selbst kommt 1941 für ein halbes Jahr in die polnische Stadt Gdynia in der Danziger Bucht, die im Zuge der deutschen Besatzung im Jahre 1939 in Gotenhafen umbenannt worden war. Ihr Arbeitgeber, das Architekturbüro Schnittger, hatte einen Bauauftrag der Deutsche Werke AG erhalten. Die Kieler Großwerft war dabei, den Hafen der Stadt umzubauen, um dort Kriegsschiffe produzieren zu können. "Für mich war es dort wie im Frieden", erinnert sich Gild. "In Kiel war zu dieser Zeit ja schon alles abgedunkelt abends, damit die feindlichen Flugzeuge kein Licht sahen."
Schutz im Stollen vor der Fünf-Zentner-Bombe
Zurück in Kiel arbeitet Gidl zunächst in der Schnittger-Zentrale, später in einer Produktionsstätte der Walter-Werke am Tannenberg. Das von dem Ingenieur Hellmuth Walter geführte Unternehmen stellt unter großer Geheimhaltung Antriebe für U-Boote und Flugzeuge sowie Komponenten für die als V-Waffen bekannt gewordenen Raketen her. Dabei beschäftigt das Unternehmen auch Zwangsarbeiter.
"Wir hatten den Auftrag, dort etwas zu bauen", erinnert sich Gidl, die als Sekretärin für die Bauleitung vor Ort ist. "Sobald die Engländer oder Amerikaner das Werk gefunden hatten, gab es jeden Tag Alarm. Die ganze Belegschaft hat sich dann in so drei Stollen gedrängelt, mit 15 Metenr Erde darüber. Einmal ist eine Fünf-Zentner Bombe darauf gefallen. Sie hätten mal den Trichter sehen sollen. Da wären viele hops gegangen, wenn wir nicht den Stollen gehabt hätten."
"Meine Mutter ist nie in den Bunker gegangen"
Wenn sie bei Fliegeralarm zu Hause ist, geht Gidl mit ihrer Schwester und ihrem Vater in einen Bunker, der zehn Minuten Fußweg entfernt ist. Nur ihre Mutter bleibt zurück. "Die ist nie in den Bunker gegangen, immer nur in den Keller. Einmal sind ihr die ganzen Türen und Fenster um die Ohren geflogen. Aber das hat sie nicht gestört." Ihre Mutter, im Gegensatz zu ihrem Vater keine Hitler-Anhängerin, zieht sich während Krieges laut Gidl auch manchmal eine Wolldecke über den Kopf, um heimlich mit dem Volksempfänger "den Engländer" zu hören. Das im Dritten Reich verbotene britische Radioprogramm wird damals aus Großbritannien über Mittelwelle gesendet und soll die deutsche Bevölkerung in Opposition zum Nazi-Regime bringen.
Gidls erster Mann fällt im U-Boot-Krieg
Mit einer Episode aus der Kriegszeit tut sich Gerda Gidl noch heute schwer, über sie zu sprechen. "Als ich 20 war, habe ich geheiratet. Mein Mann Erich ist auf dem U-Boot gefahren. Die Heirat war am 18. Dezember 1943 - und am 4. Februar 1944 war ich schon Witwe. Das U-Boot war in der Ostsee auf eine Mine gelaufen. Heute frage ich mich: Wie kann man im Krieg heiraten?" Dass ihre Eltern das zugelassen hätten, könne sie noch immer nicht verstehen.
An ihren ersten Mann habe sie mittlerweile nur noch eine schwache Erinnerung. Lange hätte sie das Erlebte verdrängt, die gerade einmal sechs Wochen währende Ehe quasi aus dem Gedächtnis gestrichen. Und fügt nüchtern hinzu: "Ich bin auch überzeugt, dass das mit uns nie was auf Dauer geworden wäre."
"KZ Russee": Das "Arbeitserziehungslager Nordmark"
Im Frühjahr 1945 bekommt Gidl mit, wie eine Kolonne Zwangsarbeiter durch den Stadtteil Hassee in Richtung Innenstadt marschiert. "Kiel war ja zu 85 Prozent zerstört, und die mussten dann die Trümmer beseitigen. Halb verhungert waren die. Ich habe die einmal gesehen, das hat mir gereicht. Das war furchtbar." Durch diese Kolonne erfährt sie damals von der Existenz eines Straflagers am Kieler Stadtrand: Seit Juni 1944 ist im Stadtteil Russee das "Arbeitserziehungslager Nordmark" in Betrieb. Hauptsächlich polnische und russische Zwangsarbeiter sind hier untergebracht. Unter brutalen Bedingungen müssen sie in der Stadt Bombentrümmer entsorgen, Blindgänger bergen und Bunker räumen. "Vorher haben wir überhaupt nicht gewusst, dass es ein Lager in Russee gab. Von außen hat man nichts gesehen, überhaupt nichts." Umgangssprachlich wird das Lager damals als "KZ Russee" bezeichnet, auch wenn es nicht zum System der Konzentrationslager gehört. Gidls Mutter habe den abgemagerten Menschen heimlich Brot und Kekse zugesteckt.
Kriegsende: "Engländer haben uns Schokolade zugeworfen"
Anfang Mai 1945, eine Woche vor ihrem 22. Geburtstag, hört Gidl im Radio, dass der Krieg vorbei ist. Sie läuft zur Hamburger Chaussee, um "die Engländer in Empfang zu nehmen", wie sie sagt. Eine ihr endlos erscheinende Kolonne aus Panzern rollt in die Stadt. "Die haben uns Schokolade zugeworfen und gewunken. Und wir haben zurückgewunken." Die britischen Soldaten erinnert Gidl als sehr nett. "Auch über die Besatzung nachher konnten wir uns nicht beklagen."
Nachkriegszeit in Österreich als "Quietscherin"
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt Gidl kurz in Marburg und lernt dort ihren zukünftigen Mann, einen Österreicher, kennen. Am 9. Juli 1948 heiraten die beiden in der Kieler Michaeliskirche. Ein Brautkleid hat Gidl nicht, "die Läden waren ja alle leer." Schon Ende Juli ziehen die beiden nach Österreich. Das Ankommen in Linz ist nicht einfach für die Norddeutsche, die durch die Ehe Österreicherin geworden ist. Zum einen wird es finanziell eng, weil ihr Mann die zugesagte Stelle als technischer Zeichner doch nicht kriegt. Noch mehr zu schaffen macht Gidl allerdings die Ablehnung, die ihr als Deutsche entgegenschlägt. "Wir haben bei der Großmutter im Haus gewohnt. Und die Deutschen waren für die Österreicher die 'Quietscher'. So hieß ich dann im Haus 'die Quietscherin'". Bei Vorstellungsgesprächen merkt sie: "Sobald ich Hochdeutsch sprach, war die Stelle schon vergeben ... Die waren auf die Deutschen ganz, ganz schlecht zu sprechen. Wobei Hitler ja Österreicher gewesen ist."
Rückkehr nach Kiel
Über eine Freundin findet Gidl schließlich doch noch einen Job. Außerdem beginnt sie, zur Gymnastik und zum Tischtennis zu gehen. "Nach ungefähr einem Jahr haben sie mich akzeptiert", erinnert sie sich. Doch schon 1952 zieht das Paar zurück nach Kiel. Ihr Mann hatte zwar doch noch eine Stelle als technischer Zeichner in einem Stahlwerk gefunden, kam aber beruflich nicht voran. In Deutschland nutzt er die Möglichkeit, die Ingenieurschule zu besuchen, und macht später sein Diplom. Gidl wiederum fängt wieder bei ihrem alten Arbeitgeber an.
Geburt des Sohnes: "Durfte nicht mehr arbeiten"
Als das Paar 1956 seinen Sohn Stephan bekommt, hört Gidl auf zu arbeiten. "Ich durfte ja nicht mehr. Ich hätte sogar wieder bei Schnittger arbeiten können, aber mein Mann wollte, dass ich das Kind versorge. Das habe ich dann akzeptiert, aber ungern." Heute seien Frauen in der Hinsicht emanzipierter. "Die tun das einfach. Ich hätte es vielleicht auch einfach tun sollen, aber dann hängt ja der Haussegen schief." Ab 1957 war übrigens gesetzlich geregelt, dass Frauen auch gegen den Willen ihres Mannes arbeiten konnten - allerdings nur, "soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist", hieß es in dem Gesetz. Erst 1977 wurde diese Einschränkung gestrichen.
1976 geht die Beziehung des Paares auseinander. "Wir haben uns nicht getrennt, weil irgendjemand einen neuen Mann oder eine neue Frau kennengelernt hat. Es ging eben nicht mehr - das passiert." Scheiden lassen tun sich die beiden nicht. So bleibt Gidl mit ihrem, wie sie es ausdrückt, "getrennten Mann" bis zu seinem Tod im Jahr 2012 verheiratet.
Volleyball-Mannschaft mit Handball-Stars vom THW
Gidl, die ab 1972 wieder als Sekretärin arbeitet, bleibt sportlich aktiv. 1979 gründet sie mit anderen Frauen und Männern vom THW Kiel eine Volleyball-Mannschaft. Mit dabei sind auch ehemalige Handball-Profis wie Fritz Westheider, Fritz Weßling, Herbert Rohwer und Herbert Podolske. "Viele von denen hatten schon gar keinen Sport mehr gemacht, Handball spielen die meisten Männer nur bis etwa Anfang 30." Volleyball spielen die Mitglieder der gemischten Gruppe hingegen bis ins hohe Alter - Gerda Gidl fast 40 Jahre lang.
1986 geht Gidl - nach 14 Jahren bei ihrem letzten Arbeitgeber Unilever - in den Ruhestand. "Aber von Renten-Dasein war keine Rede", sagt sie trocken. Zunächst nimmt sie einen befristeten Job bei dem im Aufbau befindlichen Radiosender RSH an. "Wir saßen in Containern und ich habe mitgeholfen, die ganze Finanzierung zu schreiben", erinnert sie sich.
Die Enkel großgezogen: "Ich war ja frei"
Ab 1987 kümmert sie sich um ihr Enkelkind Jonas - sowie um den gesamten Haushalt und die zwei Hunde ihres Sohns und seiner Frau. "Die waren beide Lehrer und meine Schwiegertochter wollte auch bald wieder in die Schule - und ich war ja frei". Über Jahre geht sie fortan jeden Morgen in das Haus ihres Sohnes und der Schwiegertochter, macht die Wäsche, kocht das Essen, versorgt das Kind und die Hunde. 1990 kommt noch Enkelin Luisa dazu. "Wie ich das damals alles unter einen Hut gekriegt habe, kann ich heute nicht mehr sagen."
"Schön mit Butter, sonst schmeckt es ja nicht"
Die Drei-Generationen-Familie ist gut aufeinander eingespielt. Nur beim Kochen gibt es unterschiedliche Auffassungen. "Ich habe viel mit Butter gekocht, was ich aber eigentlich gar nicht durfte bei den Kindern", erinnert sich Gidl. "Ich kannte das so von zu Hause: Das Gemüse wurde schön mit Butter gemacht, sonst schmeckt es ja nicht. Aber mein Sohn wollte das nicht. 'Das ist nicht gesund', hieß es dann immer. Da hatte ich einige Diskussionen mit ihm. Aber später habe ich mich nicht mehr drum geschert, hat ja keiner gemerkt. Und die Kinder haben das gerne gegessen." Überhaupt, das Gemüse: "Für mich sind das Erbsen, Wurzeln, Bohnen und Porree. Die Gemüsesorten von heute kenne ich gar nicht mehr - die sind mir auch alle viel zu weich, wenn die gekocht sind."
Eine stolze Uroma - mit Sorgen um den Klimawandel
Dass sie mittlerweile auch drei Urenkel hat, macht Gidl stolz. "Bei den drei Kleinen finde ich gut, dass ich das noch erleben darf. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich noch Uroma werde. Und die sind auch immer ganz niedlich, wenn sie mich besuchen kommen." Wenn sie an ihre Urenkel denkt, mache sie sich allerdings auch Sorgen um die Klimaerwärmung. "Wer weiß, was in den 50er- oder 60er-Jahren dieses Jahrhunderts sein wird? Wenn die Regierung nicht genug macht für den Klimaschutz, weiß man nicht, was da noch alles auf sie zukommt."
Corona-Pandemie legt das soziales Leben lahm
Bis Corona zuschlägt, ist Gidl immer noch sehr aktiv. Sie fährt mit ihrem E-Scooter zum Chor, zum Karten spielen und zur Volleyball-Gruppe. Hier hat sie inzwischen die Rolle der Schiedsrichterin eingenommen. Doch die Pandemie legt ihr soziales Leben lahm - und mittlerweile findet sie es schwierig, wieder einzusteigen. Gerne aber besucht sie gelegentlich noch die Handball-Heimspiele ihres THW - dem Verein, dem sie als ältestes aktives Mitglied seit 1930 angehört.
Gidl fehlen die alten Freunde
Gleichaltrige Freunde hat Gidl heute nicht mehr. "Vom Singen, Volleyball oder Kegeln kenne ich ja noch viele Leute, die jünger sind als ich. Aber in meinem Jahrgang? Die gibt es nicht mehr. Auch aus der Anfangszeit vom Volleyball: Die sind ja alle gestorben." Eine Sache bedauert Gidl dabei sehr: "Ich kann mit diesen Leuten nicht mehr über den Krieg oder meine Jugendzeit sprechen. Und heute kann sich das keiner mehr vorstellen."
Das Rezept für ein hohes Alter
Sich mit Jüngeren umgeben, Kontakte pflegen, Sport machen - das scheint Gerda Gidls Rezept für ihr hohes Alter zu sein. Sie selbst denkt da aber eher an ihre Vorfahren: "Mein Großvater und meine Onkel und Tanten in Dänemark waren alle auf dem Bauernhof, haben körperlich gearbeitet." Auch die Laboer Fischer mütterlicherseits hätten an der frischen Luft schwer gearbeitet. "Ich denke, dass die alle gute Gene gehabt haben. Und ich glaube, dass ich davon zehre."
"Alles hinnehmen, was kommt"
Dass sie bald wirklich schon 100 Jahre alt sein soll, kann sie sich "überhaupt nicht vorstellen." Vor allem, weil sie vieles aus der Kindheit noch so erinnert, als wäre es gestern gewesen. "Ich kann Ihnen noch genau sagen, wie ich als Vierjährige in der Helgolandstraße gespielt habe. Auch die Wohnung von damals kann ich Ihnen genau beschreiben." Wenn man wie sie bis vor Kurzem immer unterwegs gewesen sei, "dann empfindet man es nicht so, dass man schon so alt ist. Und auf einmal steht man da und weiß gar nicht, wieso die Jahre dahin sind."
In dem Mietshaus, in dem sie schon lange wohnt, ist sie mittlerweile ins Erdgeschoss gezogen - ihre Beine wollten nicht mehr die Treppen rauf und runter. "So verbringe ich hier meine letzten Tage, so lange es noch geht." Von Jammern hält sie nichts. "Ich habe immer gesagt: Alles hinnehmen, was kommt - und das Beste draus machen."