Engelbert Humperdinck: Der musikalische Märchenerzähler
Engelbert Humperdinck, zu Lebzeiten als Komponist weltberühmt, kennt man heute vor allem für eine Oper: "Hänsel und Gretel". Vor 100 Jahren starb der Spätromantiker in Neustrelitz.
Mit knapp 40 Jahren gelang ihm der große Wurf: Die 1893 in Weimar uraufgeführte Märchenoper "Hänsel und Gretel" machte den Tonsetzer Engelbert Humperdinck schlagartig berühmt. "Wahrlich, es ist ein Meisterwerk erster Güte!", soll Richard Strauss gejubelt haben, der die Uraufführung dirigierte: "Welch blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie - und alles originell, neu und so echt deutsch!" Bis heute zählt die Oper zu den meistgespielten Musiktheaterstücken und steht alljährlich in der Weihnachtszeit in vielen Häusern auf dem Programm.
Vom unterbezahlten Musikdozenten zum Millionär
Der Kassenschlager "Hänsel und Gretel" brachte Humperdinck eine Vielzahl weiterer Engagements und machte ihn - nach einer jahrelangen künstlerischen wie monetären Durststrecke - zum Millionär.
Musikalisches Talent hatte er schon als Kind gezeigt. Humperdinck kam am 1. September 1854 in Siegburg als Sohn eines Gymnasiallehrers zur Welt. Besonders seine Mutter förderte ihn und führte gemeinsam mit seinen Schwestern die Kompositionen des jungen Engelbert auf. Die meisten frühen Werke Humperdincks gingen später bei einem Dachstuhlbrand verloren. Noch erhalten ist unter anderem ein Hochzeitsmarsch, den er 1871 anlässlich der Heirat seines Onkels schrieb.
Studienjahre und Stipendien
Nach dem Abitur in Paderborn setzte der junge Humperdinck seinen Wunsch durch, Gesang und Komposition zu studieren. Er bestand die Aufnahmeprüfung am Kölner Konservatorium. Anfangs musste er für seinen Lebensunterhalt nebenbei arbeiten, doch mit Fleiß und Talent gewann er mehrere Stipendien. Mit dem Frankfurter Mozart-Preis in der Tasche wechselte er 1877 ans Münchner Konservatorium. Hier schloss sich der Student dem "Orden vom Gral“ an, einer Art Richard-Wagner-Fanclub. Humperdinck war fasziniert von Wagner, dem Musiktheater-Erneuerer, und schwärmte für seine Werke.
Zusammenarbeit mit Richard Wagner
Als er 1879 den Berliner Mendelssohn-Preis gewann, reiste Humperdinck mit dem Geld nach Italien. In Neapel suchte er sein Idol auf, sprach an dessen Tür vor und erlangte, ausgewiesen als "Mitglied des Ordens vom Gral", tatsächlich Einlass. Richard Wagner engagierte seinen Bewunderer als Assistenten in Bayreuth. Er sollte die Vorarbeiten zur Uraufführung des "Parsifal" unterstützen - ein folgenreicher Schritt für den 28-Jährigen.
Denn bei den Proben zeigte sich, dass die Verwandlungsmusik im ersten Akt von "Parsifal" zu kurz war, um den von Wagner beabsichtigten Szenenumbau zu ermöglichen. Engelbert Humperdinck durfte eine kleine Erweiterung im Wagner-Stil dazukomponieren. Dass der Meister persönlich diese zwei Partiturseiten so anerkannt und tatsächlich hat spielen lassen, war für Humperdinck die höchstmögliche Auszeichnung und galt ihm mehr als sämtliche bisherige Kompositionspreise.
Künstlerische Krise und rastlose Jahre
Umso tiefer war das Loch, in das der aufstrebende Tondichter nach Wagners Tod im Folgejahr fiel. Er reiste viel und komponierte wenig, jahrelang konnte er nirgends richtig Fuß fassen. Durch Westeuropa bis hin nach Afrika führte sein Weg. Anstellungen wie etwa als Theater-Kapellmeister in Köln, Musikprofessor in Barcelona oder sogar musikalischer Gesellschafter des Industriellen Alfred Krupp waren nicht von Dauer. Manches befriedigte ihn künstlerisch nicht, andernorts war er als "Wagnerianer" nicht wohlgelitten. Über Wasser hielt er sich mit Tätigkeiten als Dozent beziehungsweise Musiklehrer - etwa für Wagners Sohn Siegfried -, als Lektor eines Mainzer Musikverlags, mit Musikkritiken für Zeitungen und gelegentlichen Auftragswerken.
Die Wende: Märchenspiel-Projekt "Hänsel und Gretel"
Neuer Schwung packte Humperdinck erst, als seine Schwester Adelheid 1890 mit dem "Hänsel und Gretel"-Projekt auf ihn zukam. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Arzt Herrmann Wette, hatte sie den volkstümlichen Stoff zu einem Märchenspiel für Kinder umgearbeitet und wünschte sich von ihrem Bruder die Musik für ihr Libretto. Das Endprodukt, aufgeführt im familiären Kreis, begeisterte alle, sodass Engelbert sich daranmachte, es zu einer Voll-Oper auszugestalten. Bekannte Volkslieder und neue Liedkompositionen wie "Brüderchen, komm tanz mit mir" verschmelzen darin melodisch zu einem Gesamtwerk, ein wagnerisch monumentales Orchester erzählt die Kindergeschichte klangfarbenreich. Der Erfolg der Uraufführung war sensationell. Bald spielten mehr als 50 Bühnen landauf, landab die Märchenoper.
Glückliche Zeit in Boppard am Rhein
Engelbert Humperdinck konnte seiner jungen Familie von den Tantiemen 1897 in Boppard, hoch über dem Rhein, eine schöne Villa kaufen - das sogenannte Humperdinck-Schlösschen. Während der Arbeit am Märchenstoff hatte er 1892 die evangelische Buchhändlerstochter Hedwig Taxer geheiratet, Sohn Wolfram und zwei Töchter waren bereits auf der Welt. Insgesamt bekam das Paar fünf Kinder, es führte eine glückliche Ehe.
Produktive Schaffensperiode
Beflügelt vom Welterfolg "Hänsel und Gretel" widmete Humperdinck sich dem Komponieren. Er war gut im Geschäft, es entstanden zahlreiche Werke unterschiedlicher Genres, darunter Lieder und Kammermusikwerke. Große Aufmerksamkeit wurde seiner Bühnenmusik zum Märchen-Schauspiel "Königskinder" (1897) von Ernst Rosmer alias Elsa Bernstein zuteil: Für diesen Stoff entwickelte er eigens eine neue Form, das "gebundene Melodram" als "innigste Verbindung von Musik und Sprache". Es forderte von den Schauspielern einen Sprechgesang, für dessen Notierung Humperdinck eine eigene Notenschrift erfand, die sich allerdings nicht durchsetzte. Jahre später arbeitete Humperdinck das Stück zur Voll-Oper um, sie wurde 1910 in der New Yorker Metropolitan Opera glanzvoll uraufgeführt.
Humpderdinck im Norden: Berlin und Usedom
Das "Schlösschen" behielt Humperdinck als Sommersitz bei, als er Ende 1900 nach Berlin an die Königliche Akademie der Künste berufen wurde. In seiner Berliner Zeit schuf er für Produktionen unter Max Reinhardt mehrere Bühnenmusiken, vor allem zu Shakespeare-Dramen. Für die Arbeiten zum Drama "Sturm" quartierte er sich mit seiner Frau 1906 in Heringsdorf ein, in der noch heute erhaltenen Villa "Meeresstern" auf der Anhöhe Kulm, um Eindrücke von Wind und rauer See zu sammeln.
Nachhaltiger Beifall sollte ihm jedoch nicht mehr vergönnt sein - weder mit den Märchenopern "Die sieben Geislein" (1895) oder "Dornröschen" (1902), noch mit der komischen Oper "Die Heirat wider Willen" (1905), die ihm so am Herzen lag, oder mit seinen späten Singspielen "Die Marketenderin" (1914) und "Gaudeamus" (1919).
Sohn Wolfram tritt in die musikalischen Fußstapfen
1911 erlitt er einen ersten Schlaganfall und war von da ab gesundheitlich angeschlagen. Der Tod seiner Frau fünf Jahre später traf ihn schwer. 1920 begab sich Humperdinck in den Ruhestand. Sein Herz hing am Rheinland, doch kam er nicht zurück: Bei einem Besuch in Neustrelitz, wo sein Sohn Wolfram Webers "Freischütz“ inszenierte, erlitt er einen erneuten Schlaganfall. Tags darauf, am 27. September 1921, starb Engelbert Humperdinck. Der Komponist erhielt ein Ehrengrab der Stadt Berlin auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf.
Nachwirken und Wiederentdeckung
In jüngster Zeit wird Humperdincks Schaffen zwischen Romantik und Moderne, auch abseits von Märchen und Volkslied, wieder neu entdeckt. "Erinnerung", eine Notenschrift aus dem Poesie-Album seiner Schwester Ernestine, ist das zweitälteste erhaltene Werk von Engelbert Humperdinck. Hinrich Alpers hat das kleine Klavierstück frisch eingespielt: eine leichte, süße Melodie - weniger Wagner, mehr Mozart.
Und noch einer entdeckte den deutschen Komponisten für sich - ihn allerdings faszinierte vor allem der skurril klingende Name: Popsänger Arnold Dorsey machte in den 1970er-Jahren unter dem Pseudonym Engelbert Humperdinck weltweit Karriere. In Deutschland kennt man den Schlagerbarden als Engelbert.