Grenzmuseum in Schlagsdorf © picture alliance/dpa Foto: Markus Scholz

Unterwegs mit einem ehemaligen DDR-Grenzsoldaten

Stand: 11.10.2019 18:28 Uhr

An die Glücksmomente nach dem Mauerfall im November 1989 wird oft erinnert. Aber wie geht es jenen, die als Soldaten der DDR-Grenztruppen jeden Fluchtversuch verhindern sollten? Wie kommen sie mit ihren Erinnerungen klar?

von Wolfgang Heidelk

Signalzaun, Kontrollstreifen, Beobachtungsturm, Streckmetallzaun - sie sind Teil des Museums im Grenzhus in Schlagsdorf. Hier befindet sich das Informationszentrum zur innerdeutschen Grenze im Norden, zu dem auch die nachgebauten Grenzanlagen am Ortsrand gehören.

Schlagsdorf in Mecklenburg: Ein Besucher läuft im September 2005 über den wiederaufgebauten Grenzstreifen auf der Außenanlage des Grenzhus-Museums. © picture alliance/dpa Foto: Jens Büttner
Der wiederaufgebaute Grenzstreifen vermittelt einen Eindruck von der ehemaligen Grenze.

Beim promovierten Historiker Reno Stutz werden hier Erinnerungen wach. Von 1980 bis 1982 war er Soldat der DDR-Grenztruppen und hat oft erlebt, dass am sogenannten Signalzaun Alarm ausgelöst wurde. Allerdings nicht von Menschen, sondern von Wild. Kamen Rehe, Wildschweine oder Kaninchen zu nah an den Zaun, wurde ein unangenehmer Ton beziehungsweise eine Signallampe ausgelöst. "So konnte man schon von Weitem erkennen, wo möglicherweise Kontakt mit dem Signalzaun war", erklärt Stutz, der in Pötenitz stationiert war.

Einen Abschnitt mit Minen gab es dort nicht. Aber solche Minenfelder im sogenannten Todesstreifen, einem breiten Kontrollstreifen entlang des Grenzzauns, existierten und wurden manchem Flüchtenden zum Verhängnis. Allerdings mag Stutz den Begriff Todesstreifen nicht. Für ihn stamme dieser aus der Zeit des Kalten Krieges. Zudem führe er zu einer Art Diffamierung aller Grenzsoldaten, die zwischen 1961 und 1989 an der Grenze gedient haben. "Und das waren ja insgesamt circa 600.000."

Umgang mit der eigenen Vergangenheit

Der Historiker Reno Stutz © picture-alliance/dpa Foto: Bernd Wüstneck
Der Historiker Reno Stutz war als Soldat an der innerdeutschen Grenze stationiert.

Das Informationszentrum im Grenzhus in Schlagsdorf versteht Museumsleiter Andreas Wagner als einen Ort, an dem sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen austauschen können. Auch ehemalige DDR-Grenzsoldaten sollen mit ihren Geschichten zu Wort kommen. Aber nur wenige seien bereit, sich zu äußern. Reno Stutz ist es mittlerweile wichtig, über den Alltag zu berichten, wie er ihn als junger Wehrpflichtiger bei den Grenztruppen erlebt hat. Das war jedoch auch schon anders. Als einer der profiliertesten Historiker im Land, wenn es um die Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns geht, sparte er seine eigene Geschichte dabei lange aus.

Kasernen-Alltag in Schattin

Das ehemalige Wald-Hotel in Schattin © NDR Foto: Wolfgang Heidelk
Das Gebäude diente als Kaserne für die DDR-Grenztruppen.

Nicht weit entfernt vom Ratzeburger See liegt Schattin, ein winziges Dorf südöstlich von Lübeck. Ein schmaler Betonweg führt zu zwei Plattenbauten, wohl einen Kilometer vom Dorf entfernt. "Wald Hotel" verkünden große grüne Buchstaben auf dem Dach des linken dreistöckigen Kastens. Aber das Haus wirkt verlassen. Die Betonstufen zum Eingang zerbröseln allmählich. Vor der Wende diente das Gebäude als Bataillonsstab und Kaserne der DDR-Grenztruppen. Reno Stutz war hier einige Monate als Grenzsoldat im Einsatz.

Der Historiker geht zielstrebig über die Flure. Im dritten Stock hinten rechts findet Reno Stutz das Zimmer, in dem er als Grenzsoldat lebte. Und in dem es ein Radio gab. Auf dem Radio seien die DDR-Sender mit einem kleinen Strich gekennzeichnet gewesen, erinnert sich Stutz. So hätte der diensthabende Offizier oder Unteroffizier sofort erkennen können, ob man DDR-Sender hörte oder Westsender. Auch nachts sei das Radio gelaufen, erzählt Reno Stutz. Nach dem Zapfenstreich Westsender. "Und bis morgens um sechs, wenn dann Wecken war, hörte man ganz leise im Hintergrund Westmelodien."

Ehemalige Grenze in Lübeck-Schlutup

Viele Autos am Grenzübergang in Schlutup am 10. November 1989 © NDR Foto: Friedrich Keller
Am 10. November 1989 stauten sich die Autos am Grenzübergang Lübeck-Schlutup.

Im November 89 reihten sich auf der Straße des Grenzübergangs im Lübecker Stadtteil Schlutup Kolonnen von Trabbis und Wartburgs bis ins Zentrum der Stadt. Heute ist die Straße kaum befahren. Ein flacher barackenähnlicher Bau liegt direkt an der einstigen Grenze. In den Räumen der ehemaligen Kontrollstelle West betreibt der Verein Grenzdokumentationsstätte Lübeck-Schlutup ein kleines Museum. Im Museum sieht der Besucher Fotos der Grenzanlagen, Uniformen von Grenzsoldaten und ein großes Modell des Grenzverlaufs. Ingrid Schatz, die Vereinsvorsitzende, zeigt auf ein Foto, auf dem ein Minenräumfahrzeug zu sehen ist, das auf östlicher Seite durch die Grenzanlagen rollt: "Da oben wurden die Minen wieder weggenommen. Und da muss ich sagen: Das war hier wie im Krieg."

Gewissensfrage Schießbefehl

Denkmal Grenzlinie © picture alliance/dpa Foto: Jens Büttner
Eine Tafel erinnert an den Verlauf der innerdeutschen Grenze bei Schlagsdorf.

Wie ins Grenzhus Schlagsdorf in Mecklenburg kommen auch in die Dokumentationsstätte Schlutup immer wieder Menschen, die ihre eigene Geschichte besser verstehen wollen. Ingrid Schatz erinnert sich, dass hier einmal zwei Grenzer zu Besuch waren, die sich lange über den Schießbefehl unterhalten hätten. "Hättest du geschossen, hättest du nicht geschossen. So ging das hin und her. Wir haben mit mehreren diskutiert. Bis die beiden in der Ecke gestanden und gesagt haben: Ich glaube, ich hätte geschossen, ich wollte nicht nach Schwedt." In Schwedt befand sich das berüchtigte Militärgefängnis der Nationalen Volksarmee.

Reno Stutz vermag nicht zu sagen, wie er reagiert hätte: "Man muss innerhalb von ein, zwei Sekunden eine Entscheidung fällen, die das eigene Leben verändert und möglicherweise ein anderes zerstört. Und wie man reagiert hätte, ich muss ehrlich sagen: Ich weiß es nicht."

Bevor man jemanden verurteilt, solle man wenigstens den Versuch unternehmen, sich in die Zeit eines 18-Jährigen um 1980 hineinzuversetzen, meint Stutz. "Was wusste der, welche Spielräume er hatte. Man war ja auch als Jugendlicher naiv." Ingrid Schatz betont: "Wir verurteilen niemanden. Das müssen Gerichte tun. Wir können darüber reden und für uns selbst denken: Wie hätten wir uns verhalten?"

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