Wie konnte der Holocaust passieren?
Die Juden als Fremdkörper
Etwas anders sieht dies bei der Vorstellung von einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft aus, in der die Ablehnung des Fremden oder des als fremd Erklärten die Hauptrolle spielte - in die also rassistische Ideen in einer weniger aggressiven Form eingegangen sind. Viele Untersuchungen sprechen dafür, dass sich die Idee der Volksgemeinschaft vor allem in der unteren Mittelschicht großer Beliebtheit erfreute und durch sie eine latente Bereitschaft zum Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft transportiert wurde. Sicherlich gibt es keinen direkten Weg, der von der Vorstellung der Volksgemeinschaft zu den Krematorien von Auschwitz und Maidanek führt, aber die Akzeptanz einer Politik, die auf das Verschwinden der Juden angelegt war, hat sie deutlich befördert - verbunden mit großer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal derer, die eben noch dazugehört hatten und nun nicht mehr da waren. Was die Rassevorstellung in offen aggressiver Form war, stellte die Idee der Volksgemeinschaft in abgeschwächter Gestalt dar, und zwar so, dass die dieser Idee Anhängenden sich oftmals nicht bewusst waren, worauf sie sich eingelassen hatten und was deren Konsequenzen waren. So konnten sie hinterher sagen, sie hätten von dem Mord an den Juden nichts gewusst und hätten ihn auch nie befürwortet. Und dabei hatten sie nicht das Gefühl, schamlos zu lügen.
Das Bedürfnis nach Gemeinschaft verweist auf die Schwierigkeiten, die viele Menschen mit dem Eintritt in die Moderne hatten. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat Gemeinschaft und Gesellschaft als zwei von Grund auf unterschiedliche Formen sozialen Zusammenlebens beschrieben. Die Gemeinschaft hatte dabei den Vorteil, romantisierbar zu sein, sodass Zwang und Kontrolle, Elemente einer jeden Gemeinschaft, als Geborgenheit erschienen, während die Gesellschaft als kalte, mechanische Organisation von nur auf ihren Vorteil bedachten Einzelnen erschien. Hinzu kam die verbreitete Vorstellung von den ungeordneten Massen in den Großstädten; gegen sie wurde die Idee einer geordneten, harmonischen Gemeinschaft gestellt - oder auch die der formierten Massen, wie sie auf den Nürnberger Parteitagen in Erscheinung traten. Romantische Sehnsüchte und Disziplinierungsbedürfnis verbanden sich damit auf eine verhängnisvolle Weise, denn diese Verbindung machte die Juden zum Fremdkörper.
Von diffuser Aggressivität zu systematischer Ermordung
Im Antisemitismus, dem Menschen jüdischen Glaubens gegenwärtig wieder in verstärkter Form begegnen, haben sich unterschiedliche Motivstränge gebündelt, und je nach der Zusammensetzung dieser Stränge erlangt dieser Antisemitismus eine unterschiedliche Ausprägung. Dass er in Deutschland, wo sich die Juden als ausgesprochen assimilationsoffen gezeigt hatten, zum Antriebsmoment des Massenmords an den europäischen Juden werden würde, hätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl kaum einer erwartet. In einer Reihe anderer Länder war der Antisemitismus damals sehr viel virulenter und aggressiver. Der verlorene Krieg und die Inflation mitsamt Entwertung der Vermögen, dazu der Verlust der gewohnten gesellschaftlichen Stabilität und die panische Angst der Mittelschicht vor der politischen Linken, schließlich die Wirtschaftskrise von 1929 und die anschließende Massenarbeitslosigkeit haben die aggressiven, auf Vertreibung, wenn nicht Vernichtung ausgerichteten Stränge des Antisemitismus in Deutschland gestärkt und ihnen den Einfluss verschafft, der zum Massenmord geführt hat.
Das ist keine Entschuldigung der Deutschen, sondern zeigt, dass kontingente Entwicklungen Einstellungen wirksam machen können, die man zuvor für randständig gehalten hat. Sie führten zu den Pogromen vom 9. November 1938. Und diese waren ein Schritt in Richtung Holocaust. Doch für die entscheidenden Schritte war eine Gruppe von bürokratischen Organisatoren verantwortlich, die eine diffuse Aggressivität gegen Juden in deren systematische Ermordung transformierten.
- Teil 1: Die systematische Entrechtung der Juden
- Teil 2: Die Juden als Fremdkörper