Stand: 17.01.2020 20:15 Uhr

Wie konnte der Holocaust passieren?

von Herfried Münkler

Vor bald 75 Jahren, am 27. Januar 1945, erreichen Soldaten der Roten Armee Auschwitz - und befreien Tausende Menschen, die dieses Vernichtungslager überlebt haben: ausgemergelt und krank. Bis zu 1,5 Millionen Menschen haben die Nazis in Auschwitz ermordet, etwa 90 Prozent der Opfer waren Juden aus ganz Europa. Auschwitz ist zu einem Symbol für den Holocaust geworden, dieses singuläre Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Nazi-Deutschland Millionen europäischer Juden in den Tod geschickt hat? Eine historische Betrachtung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.

Herfried Münkler © imago Foto: Christian Thiel
Herfried Münkler ist Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität.

Nicht jede der durchaus unterschiedlichen Varianten des Faschismus hat zum Holocaust geführt - und nicht alle Regime, die den Deutschen bei der Ermordung der europäischen Juden Beihilfe geleistet haben, waren im engeren Sinn faschistische Regime. Es ist deswegen sinnvoll, zwischen Faschismus und Nationalsozialismus zu unterscheiden und darauf zu achten, unter welchem der beiden Begriffe die Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland dargestellt wird.

In der DDR etwa, wo man vom Faschismus oder Hitler-Faschismus sprach, spielte die Verfolgung und Ermordung der Juden im Vergleich zur Unterdrückung und Einkerkerung der Kommunisten und Sozialisten eine nachgeordnete Rolle. Faschismus stand hier für eine aggressive und brutale Form des Klassenkampfes, wohingegen von den rassistischen Leitideen der Nazis und der ethnisch homogenen Volksgemeinschaft allenfalls am Rande die Rede war. Das gehörte zum Selbstverständnis der DDR als, wie es hieß, antifaschistischer Staat.

Die systematische Entrechtung der Juden

In der Bundesrepublik war es, als die NS-Forschung schließlich in Gang kam, tendenziell umgekehrt: Spätestens seit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess standen Rassismus und Judenverfolgung im Zentrum, und die inneren Machtkämpfe, die sich zwischen 1930 und 1934 abspielten, wurden unter dem Rubrum der Selbstzerstörung einer Demokratie und der Aushebelung des Verfassungsstaats behandelt. Die Entrechtung der deutschen Juden durch die Nürnberger Gesetze, präziser: die Konstruktion der Juden als eine der deutschen Volksgemeinschaft nicht zugehörige "Rasse", war ein Bestandteil dieser Entwicklung. Der Weg in den Holocaust begann mit der systematischen Entrechtung der Juden, auch wenn die Wenigsten anfangs befürchteten, dass diese Entrechtung im Massenmord enden würde.

Diese Forschungslinie wurde von den Nürnberger Gesetzen zu den Konzentrationslagern und von der Wannseekonferenz zu den Todesfabriken im Osten gezogen. Sie konzentrierte sich auf die Täter, auf die administrative Abwicklung der Verfolgung und Ermordung der Juden. Solange dieses Forschungsinteresse dominierte, spielte die deutsche Bevölkerung und deren Reaktion auf die Judenverfolgung keine große Rolle. Es ging ja vor allem um die Organisatoren des Holocaust sowie deren unmittelbare Helfer. Diese Forschungslinie war eng mit der Strafverfolgung verbunden, und was sie aufdeckte, war die eiskalte Sachlichkeit in Verbindung mit bürokratischen Routinen, die den Weg zum Massenmord an den europäischen Juden bahnte. Hannah Arendt hat das am Beispiel Adolf Eichmanns als die "Banalität des Bösen" bezeichnet.

Sozialneid auf die Juden

Daneben war freilich schon immer klar, dass trotz aller Geheimhaltung der Mordmaschinerie die Bevölkerung in Deutschland das allmähliche Verschwinden der Juden bemerkt haben musste: Wie hat sie darauf reagiert, wie hat sie sich dazu verhalten? Seit den 1970er-Jahren traten die ideologischen und sozialpsychologischen Fragen ins Zentrum der Forschung: Welche Rolle hat der Antisemitismus gespielt? Inwieweit ist dessen rassistische Prägung durch den bis ins Mittelalter zurückreichenden christlichen Antijudaismus - die Juden als Christusmörder - gespeist worden? Und in welchem Maße war der Antisemitismus durch einen dumpfen Antikapitalismus geprägt, bei dem vom kleinen Geldverleiher bis zum großen Finanzmagnaten die Organisatoren der Geldströme allesamt ein jüdisches Gesicht hatten. So wurden Ressentiments geschürt, und der Sozialneid wurde auf die Juden gelenkt. Julius Streicher, NS-Gauleiter von Franken, war derjenige, der diese Form des Antisemitismus besonders aggressiv betrieb, wobei er das antikapitalistische Ressentiment mit pornografisch aufbereiteter Sexualangst verband.

Der Antisemitismus, wie er von Streicher und anderen propagiert wurde, bediente die niedersten Instinkte und primitivsten Wünsche. Dieser Typ des Rassismus hat in Deutschland eine beachtliche Rolle gespielt, aber man wird kaum sagen können, dass er die Einstellungen einer überwiegenden Mehrheit geprägt hat. Er war das Antriebsmoment einer brutalen Fraktion im NS und diente dazu, diese Gruppe bei der Stange zu halten, nachdem die von Teilen der SA erhoffte "zweite Revolution", nämlich die Umverteilung des Volksvermögens, infolge von Hitlers Bündnis mit den konservativen Eliten nicht zustande gekommen war. Hier könnte man den Beitrag der DDR-Forschung zur Sozialpsychologie des Holocaust sehen: Weil nach der Machtübernahme sozial alles beim Alten blieb, wurden die von der NS-Bewegung geweckten Umverteilungserwartungen auf die Juden umgelenkt.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 19.01.2020 | 19:00 Uhr

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