Doppelt frei am 9. November
"Cottbus, 9. November 1989: Der Strafgefangene Martin K. wird aufgrund des Beschlusses des Staatsrates der DDR [...] entlassen" - so steht es auf dem grauen Papier. Vor dem Zuchthaus Cottbus knallen an jenem 9. November die Sektkorken. Mit westdeutschem Sekt stößt Familie K. in aller Herrgottsfrühe auf die Freiheit an - in einem Lada mit Wismarer Kennzeichen. Endlich, nach anderthalb Jahren Kampf, Angst, Hoffen ist ihr jüngster Sohn frei. Fast anderthalb Jahre saß er hinter Gittern. Martin, der Einser-Schüler, der wie sein Vater Arzt werden wollte und dafür alles riskierte, sogar das Gefängnis.
Kein Armeedienst - kein Medizinstudium
Für seinen Traum vom Medizinstudium kämpft Martin schon früh: "In der 8. Klasse wollte mich mein Direktor für den NVA-Offiziersdienst anwerben", empört sich Martin noch heute. Doch der Junge stammt aus einem christlichen Elternhaus, eine Armeekarriere ist undenkbar. In der 10. Klasse steht Martins Zugang zum Abitur auf der Kippe: "[...] weil er nicht den hohen Ansprüchen gerecht wird, die wir an Bewerber für ein Medizinstudium stellen", schreibt sein Direktor damals. "Dass ich Klassenbester war, jahrelang bei den Pionieren und in der FDJ - all das zählte nicht."
Erst als sich Martin dem Druck beugt und zum Armeedienst verpflichtet, darf er Medizin studieren. Doch diese Zusage wird kurz vor Studienbeginn wieder einkassiert: "Dabei habe ich noch nicht einmal verweigert. Nur beim Wehrkreiskommando angefragt, ob ich nach der Hälfte der Zeit im Krankenhaus arbeiten kann, um mich aufs Medizinstudium vorzubereiten." Damals Grund genug für ein Studienverbot.
Keine Zukunft in der DDR
Doch Martin will seinen Traum vom Arztberuf nicht aufgeben, arbeitete als Hilfspfleger in der Wismarer Kinderchirurgie. Sein Vater schreibt Eingaben, droht sogar mit Ausreise der kompletten Familie. "Plötzlich wurde mir doch wieder ein Studienplatz angeboten." Doch Martin glaubt den staatlichen Behörden kein Wort. Für ihn steht fest: In der DDR hat er keine Zukunft mehr - erst recht nicht als Arzt. Ein Ausreiseantrag kommt für ihn nicht in Frage: "Jahrelanges Warten und tägliche Schikanen - das wollte ich mir und meiner Familie nicht antun."
Missglückte Flucht über Ungarn
Bleibt nur die Flucht. Im Sommer 1988 über Ungarn nach Jugoslawien und von dort irgendwie in den Westen, so ist Martins Plan. Wenige Kilometer vor der ungarischen Grenze wird der 20-Jährige jedoch geschnappt - von Soldaten mit Kalaschnikows im Anschlag. "In einem Brief habe ich die ungarischen Behörden noch angefleht, mich nicht auszuliefern, weil die DDR mit Leuten wie mir kurzen Prozess machen würde."
Ein langer Prozess
Vier Monate sitzt Martin nach seiner Auslieferung im Rostocker Stasi-Gefängnis in Untersuchungshaft. "Mit allem was dazu gehört, um Menschen zu brechen: Neun-Stunden-Verhöre, ständig Licht an, Licht aus, keinerlei Hinweise über Haftdauer oder Prozessbeginn." Das Urteil schließlich: 18 Monate Haft. Die meiste Zeit davon im Zuchthaus Cottbus, das wegen seiner Backsteinfassade auch "Rotes Elend" genannt wird. Hinter den teilweise verdunkelten Scheiben warten 1989 vor allem verurteile Republikflüchtlinge darauf, vom Westen freigekauft zu werden. "Für jeden Fünften kam schon nach wenigen Monaten der erhoffte Bescheid." Auch Martin rechnet fest mit seiner Freiheit - vergeblich.
Grenzenlose Wut: Sonderzüge für Botschaftsflüchtlinge
Von den Massenfluchten und Montagsdemos im Sommer 1989 bekommt er kaum etwas mit. "Der DDR-Fernseh-Konsum war für mich meistens gestrichen im Rahmen eines Erziehungsprogramms." Im Oktober 1989 sieht er dann die TV-Bilder der jubelnden Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau. Er fühlt grenzenlose Wut: "Leute wie ich, die was riskiert hatten, um rauszukommen aus der DDR, wurden jahrelang weggesperrt. Und für die Botschaftsflüchtlinge gab es Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn und freies Geleit?"
Endlich frei, einen Monat vor Haftende
Am 27. Oktober 1989 beschließt der Staatsrat der DDR eine Amnestie für alle illegal ausgereisten DDR-Bürger. Die inhaftierten "Republikflüchtlinge" sollen innerhalb von drei Tagen freigelassen werden. Zwei Wochen später wird Martin K. in die Freiheit entlassen. Am 9. November 1989, einen Monat vor seinem offiziellen Haftende. Als er abends in Wismar die Fernsehbilder vom Berliner Mauerfall sieht, will er am liebsten sofort aufbrechen: "Ich wollte raus aus der DDR. Immer noch und für immer. Dass dieses Land sich wirklich öffnet und verändert, habe ich damals nicht geglaubt." Über den Grenzübergang Lübeck-Schlutup verlässt er am 10. November die DDR, gibt dort dem NDR sein erstes Interview in Freiheit.
"Prügel-Wärter" können sich an nichts erinnern
Heute führt Martin K. seine eigene Facharztpraxis in Schleswig-Holstein. Gegen die Prügel-Wärter aus dem Zuchthaus Cottbus hat er 1993 Strafanzeige gestellt: Die Beschuldigten konnten sich jedoch an nichts mehr erinnern. Offiziell "nicht mehr auffindbar" sind auch Martins Universitätsakten, die den Entzug seines Studienplatzes und die Gründe dafür belegen.