Stand: 07.05.2020 19:56 Uhr

Vergessene Generation: Über das Leid von Kriegskindern

Der 8. Mai 1945 gilt als offizielles Datum für das Ende des Zweiten Weltkriegs. 75 Jahre liegt das zurück - und dennoch sind die Nachwirkungen noch bis heute zu spüren. Zum Beispiel in der Psyche von Kriegskindern und Kriegsenkeln. Ein Gespräch mit der Journalistin und Autorin Sabine Bode, die einige von ihnen interviewt und mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht hat.

Frau Bode, 2004 haben Sie Ihr erstes Buch über die "Kinder des Zweiten Weltkriegs" veröffentlicht, über die bis zu dem Zeitpunkt weitläufig geschwiegen worden war. "Vergessene Generation" daher auch der Titel. Warum wurde diese große Wunde so lange übersehen oder unter den Tisch gekehrt?

Sabine Bode © picture-alliance/dpa Foto: Oliver Berg
Sabine Bode hat ein Buch über Kriegstraumata geschrieben.

Sabine Bode: Ich glaube, in Kriegszeiten oder in Zeiten von Terror geht es allen Eltern auf dieser Welt so: Wenn sie ihre Kinder nicht schützen können, dann ist es das Allerschlimmste für sie. Und wenn alle überlebt haben, dann sagt man den Kindern: "Sei froh, dass du lebst, guck nach vorn und vergiss alles." Ich habe schon vor 25 Jahren nach den Erinnerungen gefragt. Mich hat interessiert, wie sie das verkraftet haben. Diese Frage konnten sie mir überhaupt nicht beantworten.

Wie haben Sie es geschafft, dieses lange Schweigen zu brechen?

Bode: Einfach durch Beharrlichkeit. Ich wusste, dass es ein ganz wichtiges Thema war. Es würde den Menschen selbst guttun, endlich wahrgenommen und getröstet zu werden, auch wenn sie schon ältere Menschen waren.

Was haben Sie in diesen Gesprächen erfahren? Was haben diese Erfahrungen im Krieg mit den Kriegskindern gemacht?

Bode: Das war die ganze Palette der psychosomatischen Einschränkungen: Ängste, Depressionen, Sucht. Aber das war vor allen Dingen dieses Leiden unter dem großen Unverständnis ihrer Altersgruppe und insgesamt der Bevölkerung: "Krieg haben wir doch alle erlebt - stell dich nicht so an!" Das war die gängige Reaktion, die sie damals erlebt haben, wenn sie es gewagt haben, das anzusprechen.

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Sie haben sich auch mit den Nachkommen dieser Kriegskinder beschäftigt. Diese Traumata werden häufig weitervererbt. Was passiert mit den Kriegsenkeln?

Bode: Die gängigen Kriegskinder halten sich nicht für eine ängstliche Generation - das sind eher die Reflektierten, die das bei sich mitkriegen. Die meisten haben es geschafft, das gut zu verdrängen und diese Kindheit mit ihrem ganzen Horror auf Abstand zu halten. Aber manchmal landet das bei den eigenen Kindern wieder. Und diese Kriegsenkel können sich nicht erklären, wieso sie zum Beispiel an diesen merkwürdigen Ängsten litten, wieso sie in ihrem Leben nicht weiterkamen, wieso sie keine Entscheidungen fällen konnten, Mühe hatten, mit dem Kinderwunsch klarzukommen, wieso sie beruflich nicht die Kraft hatten, die ihre Eltern hatten. Das ist nicht die Mehrheit dieser Jahrgänge, aber es ist eine große Minderheit, ungefähr 30 Prozent.

Und um diesen Teufelskreis des Weiterreichens von Traumatisierungen zu durchbrechen, können Erinnerungen helfen, richtig?

Bode: Das ist unterschiedlich. Den Kriegskindern hilft heute noch am ehesten, wenn sie im Gespräch wirklich wahrgenommen werden. Das ist mit den eigenen Kindern manchmal schwierig, weil solche Eltern ihre Kinder teilweise überschüttet haben mit Geschichten von der Flucht, und die Kinder konnten das nicht mehr hören. Das geht aber mit den Enkeln gut. Ich habe mal an einen unserer Bundespräsidenten geschrieben mit der Bitte, zum 8. Mai diese Kriegskinder in den Blick zu nehmen und etwas über ihre Lebensleistung, aber auch über das übersehene Leid zu sagen. Natürlich ist das nicht passiert - aber es hätte vielen geholfen.

Wenn Sie glauben, dass Erinnerungen heilen können: Meinen Sie, das trifft nur auf Einzelschicksale zu oder auch im größeren Sinne auf Gesellschaften?

Bode: Ich bin ein bisschen irritiert, dass die Erinnerung heilen kann. Es geht um die Beschäftigung damit und das Durchdringen dieser Erinnerung. Denn viele Erinnerungen sind auch schlichtweg falsch - das weiß jeder, der eine bestimmte Lebenserfahrung hat, dass man auch ab bestimmten Punkten wegguckt und sich fragt: Was passierte dann? Wieso weiß ich das nicht? Wieso haben sich meine Eltern damals so merkwürdig verhalten? Wieso konnte ich immer wieder nicht glauben, was sie erzählen?

Ich glaube, das Brechen des Schweigens ist etwas, was hilfreich sein kann. Zum Beispiel in Familien, in denen die Großeltern als Kriegserwachsene in das NS-Regime verstrickt waren: als Mittäter oder als Profiteure - und das waren wirklich viele. Die haben mit ihren Kindern so einen Schulterschluss gemacht: Darüber reden wir nicht; auf den guten Namen der Familie darf kein Schatten fallen. Und irgendwann fangen die Kriegsenkel an zu fragen, und dann winken die Eltern ab. Diese Art von Schweigen meine ich. Es wäre gut, wenn diese altgewordenen Kriegskinder, die sich noch an dieses Versprechen an die eigenen Eltern gebunden fühlen, die Kiste aufmachen und sagen, was sie da alles drin haben.

Das Gespräch führte Alexandra Friedrich

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 07.05.2020 | 19:00 Uhr

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