Kriegskinder: Deutschland 1945, Syrien 2015
Wie wirken sich Grauen, permanente Alarmbereitschaft, Unsicherheit auf Kinder aus? Wie stark prägen sich die Bilder von verkohlten Leichen und Ruinen in ihr Gedächtnis ein? Der Krieg straft viele Kinder noch bevor sie laufen und sprechen können. Das Trauma ist universal.
Ob jüngst in Syrien oder vor sieben Jahrzehnten in Deutschland - die Kinder sind Kriegsopfer. Der Krieg nimmt ihnen in der Kindheit das Leben. Später träumen sie, bis ins hohe Alter von zerrissenen Kinderkörpern, zucken zusammen, wenn sie Sirenen hören, oder erschrecken, wenn der Silvesterböller unerwartet knallt. "Der Krieg ist noch lange nicht zu Ende, wenn er zu Ende ist", so Monika Jetter, die den Krieg als Kleinkind in Berlin erlebt hat. "Ich erinnere mich sehr, als ich im reiferen Alter war, dass ich geträumt habe, da liegen überall kleine Arme und Beine von Kindern rum. Das war ich selber! Kleine Teile von mir, die sich dann wieder zusammensetzen wollten - also: seelisch gesehen", erzählt die 75-Jährige.
Vergessen, verdrängen
Oft aber wird erst einmal verdrängt, damals wie heute. Viele Kinder erstarren erst einmal angesichts des Schreckens. Wie Silvy aus Aleppo. Sie ist drei Jahre alt. Sie spricht nicht. Kein Wort kommt ihr über die Lippen. Stumm und fragend sieht sie ihre Eltern an. Sie ist schwer traumatisiert. Klopft jemand - hier in Deutschland - an die Tür, rennt sie zu ihrer Mutter und klammert sich an ihr fest. Nachts weint sie.
Rayan (12) und Muath (14) aus Daraah kamen vor einem Jahr nach Deutschland. Sie wollen nur noch vergessen und nach vorne schauen. Sie sollen, so wünschen es die Eltern, unbedingt studieren, gute Berufe erlernen, damit die Flucht Sinn gemacht hat. Die Eltern betrauern den Verlust der Heimat - ihrer Identität - jeden Tag. Sie haben alles verloren, was ihnen Halt gab: den Beruf des Arztes, das Haus, Verwandte, Freunde.
Rayan und Muath wollen nun ihre Eltern glücklich machen, sie trösten - Muath will gar Zahnarzt werden wie sein Vater - und doch ist er maßlos überfordert. Eigentlich würde Muath auch gerne Fußballer werden.
Kinder, die die Eltern beschützen wollen
Verzweifelte Eltern, die ihre Kinder überfordern und deren Bedürfnisse dabei übersehen, seien ganz typisch für Kriegseltern, so die Psychologin Katharina Ohana. "Diese Kinder sind ohnmächtig. Sie sehen die Eltern schwach und verunsichert, und sie wollen dagegen etwas tun. Doch es ist nicht Aufgabe der Kinder die Eltern zu retten! Tatsächlich wollen ganz viele Kinder die Berufe der Eltern ergreifen und tolle Karrieren machen, immer in der Hoffnung, die Eltern mögen wieder gesund und stark und wieder typische Eltern werden - und sie beschützen."
Bilder im Kopf
Gleichzeitig kämpfen auch die Kinder gegen die Bilder im Kopf. Muath und seine drei Geschwister durchlebten jahrelang Bombardierung, Beschuss, Bedrohung. Auf der Flucht wären sie fast ertrunken. Der Krieg verdunkelt ihre Kindheit. Der Schatten wird bleiben, ahnt der 14-Jähringe. Er ärgert sich darüber, dass sich die Angst in seiner Familie eingegraben hat, "die Angst ist in uns", beklagt Muath. Eine ungebetene Begleiterin.
Monika Jetter hofft, dass wenigstens die Kinder psychologische Hilfe bekommen, damit es ihnen nicht ergeht wie ihr und so vielen Kindern nach dem II. Weltkrieg. Es ist in der Fachwelt Konsens, das unverarbeitete Traumata bis in die vierte Generation weitergegeben werden können. Es gibt ein transgenerationales Erbe, Lasten längst vergessen geglaubter Ereignisse, die noch immer das Leben der Kinder- und Enkelgeneration verdunkeln. Die Familienvergangenheit bestimmt bis in die Gegenwart die eigene Biografie, sie hat Auswirkungen auf Folgegenerationen. Viele Kinder spüren die Schatten auf der Familienbiografie, auch wenn über grausame Kriegserlebnisse eine Decke des Schweigens gelegt wurde.
Ruinen, die man in sich trägt
Stillschweigend lagerten die deutschen Kriegskinder ihren Schrecken bei den eigenen Kindern, also den Kriegsenkeln, ein. "Kriegskinder - die späteren Eltern - verhalten sich selten normal und sie verhalten sich auch nicht ihren Kindern gegenüber normal. Sie sind ängstlich, immer nervös, unsicher. Sie haben hohe Erwartungen an ihre Kinder. Sie selbst dagegen sind oft emotional erstarrt, verschlossen. Gleichzeitig reagieren sie ständig über, sind immer kurz vorm Drama und Zusammenbruch - wie sollen da Kinder normal groß werden? Selbst wenn sie die Bomben und die Flucht oder Vertreibung nicht erlebt haben, erleben sie die Eltern in ihrem Verhalten und das macht wiederum ihre Psyche aus", mahnt die Psychologin Katharina Ohana.
"Ja, das sind die alten Ruinen, die man mit sich selber trägt", bestätigt das einstige Kriegskind Monika Jetter. "Man ist ja selber ein kleines zerstörtes Haus, und diese kleine Ruine wird in dem Moment wieder lebendig, indem man Schmerz erlebt. Die alte Traurigkeit kommt wieder hoch."
Der Krieg ist irgendwann vorbei, aber die Ängste, die in den Seelen wurzeln, wachsen weiter, auch wenn Frieden herrscht. Der Kanonendonner hallt noch Jahrzehntelang nach.