Massensuizid in Demmin: "Wir wollten noch leben!"
Das Kriegsende bedeutet für viele, die es miterlebt haben, auch traumatische Erlebnisse. Brigitte Roßow war zehn Jahre alt, als sie Zeugin und Betroffene des beispiellosen Massensuizids zwischen dem 30. April und dem 4. Mai 1945 in Demmin wurde.
Für die ARD-Fernseh-Dokumentation "Kinder des Krieges" und das Nordmagazin im NDR Fernsehen hat Brigitte Roßow im Jahr 2020 nach 75 Jahren die Geschichte ihres Traumas erzählt.
Die Narben sind geblieben. Es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen, manche Sätze vollendet sie nicht. Jedes Mal, wenn ihr etwas aus der verkrüppelten Hand fällt, ist die Erinnerung wieder da. Bilder von einem Heuboden im Frühjahr 1945 lassen sie nicht los, verfolgen sie in Albträumen. Das Bild von der Frau, die sich erhängte, das kleine Kind, dem die Kehle zugedrückt wurde, wie sie selbst sich wehrte, weil sie nicht sterben wollte. "Das werde ich nie vergessen. Das ist bei mir im Gedächtnis drin. Ich war doch erst zehn Jahre alt. Ich war doch noch ein Kind", sagt Brigitte Roßow.
Flucht vor der Roten Armee in den Wald
Vom Krieg hat die junge Brigitte Roßow lange nicht viel mitbekommen. Im März 1945, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, wird sie zehn Jahre alt. Nur der Vater fehlt, er ist an der Front. Die Mutter ist allein mit drei Kindern, mit Brigitte, ihrem knapp 14-jährigen Bruder Winfried und der vierjährigen Schwester Sigrun. Schulunterricht, erzählt Roßow, findet schon länger nicht mehr statt, in der Schule ist ein Lazarett untergebracht. Doch in Demmin bleibt es ruhig, nur ab und zu sehen die Kinder Flugzeuge am Himmel.
Brigitte Roßow erinnert sich an Soldaten, die dann Ende April 1945 in der Nachbarschaft vor Kampfhandlungen warnen und raten, die Häuser zu verlassen. Die Familie packt eilig zusammen, was man unterwegs gebrauchen kann, und flieht mit anderen Frauen und Kindern vor der anrückenden Roten Armee in den Wald.
Ein Bauer nimmt die Gruppe kurz auf, versorgt sie mit Milch. Und: Die Mutter von Brigitte geht einmal mit einem Russen mit und sagt, sie solle so lange auf die kleine Sigrun aufpassen.
Demmin brennt - Junge Frauen geben Rasierklingen aus
Aus der Ferne sieht Brigitte, wie der Himmel sich rot färbt. Demmin brennt lichterloh. Die Brücken sind hinter ihnen gesprengt worden, der Rückweg in die 15.000-Einwohner-Stadt ist versperrt. Der Waldboden bebt. "Wir haben gehört, wie die Panzer nah kamen, wir wollten wieder raus aus dem Wald, wir haben Angst bekommen, weil der Boden, alles gezittert hat", erinnert sich Brigitte Roßow. Eine Frau schlägt vor, sich bei einer Verwandten zu verstecken. Dort angekommen krabbeln alle auf einen Heuboden. Oben sind bereits junge Frauen mit einem kleinen Kind. "Ach Mensch", ruft Brigitte Roßow aus, "die waren ganz verrückt und haben Rasierklingen ausgegeben".
Die Cousine schneidet sich und ihrem Sohn die Arme auf
Roßows Erinnerung zufolge sind damals auf dem Heuboden ungefähr 15 bis 17 Menschen in Panik. Sie glauben, die Russen nehmen die Kinder mit. Auch eine Cousine von Brigitte Roßow ist auf dem Boden, sie lässt sich von der Hysterie anstecken, schneidet sich und ihrem kleinen Sohn mit einer Klinge die Unterarme auf. Eine alte Frau versucht, sich zu erhängen, erzählt Brigitte Roßow, "und die hat dann gejammert da oben und dann haben sie gesagt: 'Ruhig! Du holst die Russen hier hoch!' Dem kleinen Jungen haben sie die Gurgel zugedrückt, weil der anfing zu weinen. Ich hab' das nie verstanden, das konnte ich nicht verstehen - damit das Kind keinen Krach macht!"
"Ich habe nicht stillgehalten, als meine Mutter geschnitten hat"
Die ältere Dame, die sich selbst erhängte, ist tot. Ebenso wie das Kind, dem die Kehle zugedrückt wurde. Brigitte Roßow stockt und ist den Tränen nahe, als sie weiter erzählt: Die Cousine sagt, ihr Junge stirbt ihr weg. "Und mit einem Mal, als der Kopf von dem Jungen meiner Cousine so beiseite fiel, da hat Mutti es dann auch gemacht." Brigittes Mutter beginnt, ihren Kindern und sich selbst mit einer der Rasierklingen die Pulsadern zu öffnen. Setzt die Schnitte jedoch falsch und nicht tief genug. Und: Brigitte hält den Arm nicht still, windet sich: "Ich wusste nur: Ich wollte nicht sterben. Und ich habe auch nicht stillgehalten!". Auch ihr Bruder Winfried wehrt sich und flieht. Er springt vom Heuboden hinunter. Brigitte erinnert sich an ein großes Durcheinander, an ein Handgemenge, an die Frauen, die Winfried aufhalten wollen. Und daran, dass ihr Bruder in Begleitung sowjetischer Soldaten zurückkehrt.
Die Soldaten versorgen die Wunden
Sein Arm ist verbunden. Die Soldaten sind aufgebracht, drohen damit, Brigittes Mutter zu erschießen. Winfried stellt sich mit seinen Schwestern schützend vor sie, die kleine Sigrun in der Mitte, und sagt, dann sollten sie ihn erschießen - aber nicht seine Mutter. "Und dann haben sie ihn gestreichelt", erzählt Roßow. "Sie waren sehr böse, dass meine Mutter uns die Pulsadern aufgeschnitten hat." Die Soldaten versorgen die Wunden, desinfizieren sie. Sigrun brüllt dabei wie am Spieß, Brigitte verweigert sich. Später wird sich ihre Verletzung entzünden und eitern, Hausmittel wie Hühnerfett helfen nicht. Nie ist sie zu einem Arzt gegangen, sie hat sich damit abgefunden. Der kleine Finger der rechten Hand lässt sich kaum bewegen, das Schreiben fällt nicht leicht. "Da müssen Sehnen durchgeschnitten worden sein", sagt sie und dreht ihr vernarbtes Handgelenk. Sie hat einfach lernen müssen, die linke Hand zu Hilfe zu nehmen.
Über das Geschehene sprechen konnte man nicht
Im zerstörten Demmin lebt die Familie weiter. 1946 kehrt der Vater aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Bruder hat sie später je über die Ereignisse gesprochen, man konnte einfach nicht. "Mutti fühlte sich wohl sehr schuldig und hat sich Vorwürfe gemacht, dass sie das gemacht hat", sagt Brigitte Roßow und ringt um Fassung. "Wir hingen aneinander, meine Mutter war die wichtigste Person in unserem ... das ist doch klar."
Oft hat sie nach einer Erklärung gesucht, hat sich gefragt, ob ihre Mutter vergewaltigt worden ist, wie so viele Frauen in jenen ersten Tagen im Mai. Die Mutter hat das immer verneint. Bis heute fragt sich Brigitte Rossow, was wohl jenen jungen Frauen widerfahren war, die auf dem Heuboden die Rasierklingen verteilten. Ob sie vorher geholt worden sind? Es bleibt ein Rätsel.
Ertränkt, erhängt, erschossen, vergiftet
Auch wie viele Menschen sich im Frühjahr 1945 in Demmin selbst töteten, ist unklar. Das Totenbuch, Anfang Mai von der Tochter des Friedhofsgärtners angelegt, verzeichnet Hunderte Tote. An die Tausend Tote, wenn nicht gar mehr, dürften es tatsächlich gewesen sein, die sich beim Kriegsende in Demmin das Leben nahmen. So viele wie an keinem anderen Ort. Die Menschen haben sich ertränkt, an Fensterkreuzen erhängt, erschossen oder vergiftet. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Mütter gingen mit ihren Kindern an der Hand ins Wasser - mit mit Steinen beschwerten Rucksäcken und ihren Babys auf dem Arm. Leichen trieben in Tollense, Trebel und Peene, sie wurden in Massengräbern beigesetzt. Verzweiflung und Scham, aber auch ideologische Schuld, Patriotismus und durch die NS-Propaganda geschürte Panik trieben die Menschen massenhaft in den Tod.
"Die Menschen sind nicht mehr normal gewesen"
Brigitte Rossow hat den Heuboden überlebt, sie ist in Demmin geblieben. Wenn Neonazis die Ereignisse von 1945 instrumentalisieren und jedes Jahr am 8. Mai durch Demmin marschieren, wagt sie sich nicht vor die Tür. Diese Bilder kennt sie nur aus dem Fernsehen und aus dem Dokumentarfilm "Über Leben in Demmin" von Martin Farkas. "Ich wäre nie rausgegangen, weil ich das überhaupt nicht verstehe. Da werfen sie Kränze auf die Peene! Und das machen sogar Kinder! Das ist so ein Quatsch!" Was ihr jedoch gefällt, ist das auf dem Gedenkstein auf dem Friedhof angebrachte Zitat aus dem Tagebuch einer Lehrerin, die am 1. Mai 1945 notierte: "Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden". Brigitte Roßow nickt dazu. "Das ist wahr. So ist es wirklich so gewesen", sagt sie. Als Kind hat sie erleben müssen, wie ansteckend Verzweiflung ist und was Panik anrichten kann.
Die Erinnerung an das Unvorstellbare lässt sie nicht los. "Die Menschen sind nicht mehr normal gewesen. Ich kann mir das anders nicht erklären. Vielleicht waren wir Kinder noch normaler, denn wir wollten noch leben!". Und fügt hinzu: "Ich weiß nur: Ich wollte nicht sterben. Und ich glaube, Mutti wollte es auch nicht."