Walter Proska (Jannis Niewöhner) wird im Wald überrascht - Szene aus Florian Gallenbergers Miniserie "Der Überläufer" nach Siegfried Lenz' gleichnamigen Roman © NDR / Dreamtool Entertainment

Deserteure: "Lenz war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus"

Stand: 14.04.2020 09:27 Uhr

Lenz' Roman "Der Überläufer", mittlerweile verfilmt, zeigt das Dilemma aus Pflicht und Moral. Wie realistisch ist das Szenario? Und wie blickt man heute auf Deserteure? Historiker Sönke Neitzel im Gespräch.

Zu heikel erschien dem Verlag Hoffmann und Campe Anfang der 50er-Jahre offenbar die Veröffentlichung des Romans "Der Überläufer" von Siegfried Lenz. Ein Soldat, der die Fronten wechselt, zum Deserteur wird - schwieriger Stoff im Deutschland der Nachkriegszeit, galten Überläufer doch weithin als Verräter. Posthum wurde der Roman 2016 schließlich doch veröffentlicht und vom NDR, ARD Degeto und dem SWR verfilmt. In der ARD-Mediathek ist "Der Überläufer" sowohl in Spielfilmlänge wie auch als vierteilige Serie zu sehen.

Im Spannungsfeld zwischen Pflicht und Gewissen

Der Plot rückt ein Phänomen aus jeglichen Kriegszeiten in den Fokus - das Spannungsfeld zwischen Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Moral und Gewissen. Wie nah ist die Geschichte des "Überläufers" an der historischen Realität im Zweiten Weltkrieg? Welche unterschiedlichen Motive lagen einem Frontwechsel zugrunde? Und wie hat sich der gesellschaftliche Blick auf Deserteure in den letzten Jahrzehnten verändert? Ein Gespräch mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel, dessen Schwerpunkt auf Militärgeschichte und der Kulturgeschichte der Gewalt liegt.

Herr Neitzel, Siegfried Lenz erzählt in seinem Roman von einem Deserteur, der in Polen zur Roten Armee überläuft und bei der sowjetischen Front-Propaganda eingesetzt wird. Ist das Szenario realistisch?

Militärhistoriker Professor Sönke Neitzel © Kai Bublitz
Der Historiker Sönke Neitzel hat seit 2015 den Lehrstuhl für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam inne.

Sönke Neitzel: Es hat solche Desertionen gegeben. Die Frontkommandos des Nationalkomitees Freies Deutschland bestanden aus deutschen Kriegsgefangenen, Überläufern und kommunistischen Emigranten. Sie wurden von der Roten Armee häufig in vorderster Linie eingesetzt, um Wehrmachtssoldaten über Lautsprecheransagen zur Kapitulation aufzufordern. Die DDR feierte die Mitglieder des Komitees später als Helden, auch wenn ihre Missionen wenig erfolgreich waren. In der jungen Bundesrepublik wurde ihre Agitation dagegen als Verrat betrachtet. Deswegen hat sich der Verlag Hoffmann und Campe damals nicht getraut, den Roman zu veröffentlichen. Welcher Leser sollte sich Anfang der 50er-Jahre mit solchen Abweichlern identifizieren?

Mittlerweile ist der Inhalt natürlich nicht mehr umstritten, er wirkt fast selbstverständlich. Die Hauptfiguren sind gegen den Krieg und stellen sich gegen das NS-System. Anstößig wäre heute ein Roman über einen Soldaten, der das Kämpfen und die Aufregung der Schlacht liebt. Das käme der Realität des Zweiten Weltkriegs zwar noch näher. Aber wahrscheinlich würden Verlage ein solches Manuskript aus denselben "stofflichen Gründen" ablehnen, die sie einst gegen den "Überläufer" aufboten. Siegfried Lenz war seiner Zeit mit diesem Roman um Jahrzehnte voraus.

Im Roman bewegt der Soldat Walter Proska Kameraden zur Aufgabe. Die Männer werden erschossen. Hat sich Proska schuldig gemacht?

Neitzel: Mit diesem Begriff würde ich niemals arbeiten. Unter heutigen Historikern hat sich die Sicht durchgesetzt: Alle Soldaten, die einen Beitrag dazu geleistet haben, dass dieser wahnsinnige Krieg aufhört, standen auf der richtigen Seite. Wenn 1944 alle deutschen Soldaten zur Roten Armee übergelaufen wären, dann wäre der Krieg sofort vorbei gewesen. Das hat man in der bundesdeutschen Gesellschaft aber noch Jahrzehnte nach dem Krieg völlig anders gesehen. Deserteure galten beinahe unisono als Feiglinge.

Wer wurde als Verräter bezeichnet?

Neitzel: Noch im Kalten Krieg herrschte die Meinung vor, wer als Soldat das Leben seiner Kameraden gefährdet, weil er zum Beispiel Stellungen preisgibt, ist ein Verräter. In der Bonner Republik gab es eine lange Diskussion über die Frage, ob man den Wehrmachtoffizier Hans Peter Oster als eine zentrale Persönlichkeit des militärischen Widerstands gegen das NS-Regime ehren soll. Als Oberst der Abwehr hatte Oster dem niederländischen Militärattaché den Angriffstermin auf die Beneluxländer und auf Frankreich verraten - und damit das Leben deutscher Soldaten aufs Spiel gesetzt. Anders liege der Fall bei Henning von Tresckow oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg, wie es damals hieß: Sie hatten versucht, Adolf Hitler zu töten, aber nicht mit dem Feind zusammengearbeitet. Diese Unterscheidung wird heute nicht mehr vorgenommen.

Sind die Motive der Deserteure bekannt?

Neitzel: Es hat in der Wehrmacht 30.000 Deserteure gegeben, überwiegend im Westen. Die meisten Soldaten sind Ende des Zweiten Weltkrieges desertiert, zu einem Zeitpunkt, als die Institutionen des NS-Staates zusammenbrachen. So wie im Roman geschildert, ist es meistens aus einer Zwangslage heraus zu Überläufen gekommen. Sie waren eher situativ als intentional begründet. Für die einen war es Fahnenflucht, die anderen begaben sich freiwillig in Gefangenschaft, um ihr Leben zu retten. Oder sie sind einfach nach Hause gegangen, weil sie gesehen haben: Der Krieg ist verloren, wir werden auf die Schlachtbank geführt.

Bei Kommunisten und Sozialdemokraten kamen politische Gründe dazu. So wie bei Alfred Andersch, der im Juli 1944 an der italienischen Front desertierte und die amerikanische Gefangenschaft wählte. Darüber berichtet er in seinem Buch "Die Kirschen der Freiheit", in dem er sich nicht immer an die Fakten hält. Er ist wahrscheinlich nicht als Einzelner getürmt, sondern in der Gruppe übergelaufen, bei der es sich - anders als geschildert - nicht um eine Eliteeinheit handelte. Ich finde es bemerkenswert, dass sich Andersch über den NS-Staat negativ und über die Wehrmacht positiv äußert. Für die sind die Fahnenflüchtigen alles in allem kein großes Problem gewesen. Denn mehr als 18 Millionen Deutsche erfüllten ihre militärischen Aufgaben bis zum Schluss.

Fühlten sich Millionen an den soldatischen Eid gebunden?

Neitzel: Dem soldatischen Eid wurde vor allem in der oberen Hierarchie eine große Bedeutung beigemessen. Höhere Offiziere, die den heiligen Eid auf den Führer Adolf Hitler schworen, fühlten sich meist auch der Institution Wehrmacht und dem Staat verbunden. Wir wissen aus verlässlichen Quellen, dass der Eid auch in den Kreisen des militärischen Widerstands eine große Rolle gespielt hat.

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Sind Deserteure in der NS-Zeit besonders brutal bestraft worden? 

Neitzel: Fahnenflucht war schon im Deutschen Kaiserreich eine Straftat, und sie ist es noch im heutigen Militärrecht. Junge Männer, die nicht zum Wehrdienst antreten oder sich unerlaubt entfernen, wurden von der Militärpolizei verfolgt und bestraft. Der große Unterschied zur NS-Diktatur liegt im Strafmaß. Im Kaiserreich hat es 48 Hinrichtungen wegen Fahnenflucht gegeben, im Dritten Reich waren es 20.000. Im Ersten Weltkrieg haben sich wahrscheinlich 100.000 Soldaten davor gedrückt, wieder an die Front zu müssen. Das wussten die oberen Stellen, aber man hat die Leute nicht liquidiert.

Adolf Hitler zog daraus Konsequenzen und erließ neue Vorschriften zur Bestrafung von Deserteuren. Darin wurde auch festgelegt, dass bei jugendlichen Delinquenten strafmildernde Umstände geltend gemacht werden können. Dieser Hitler-Erlass wurde 1943 von Großadmiral Karl Dönitz, dem Oberbefehlshaber der Marine, verschärft. Als Reaktion auf die angespannte militärische Lage bestimme Dönitz, alle "treulosen Schwächlinge" ohne Gnade an die Wand zu stellen.

Wer hat die Männer abgeurteilt?

Neitzel: In der Anfangsphase waren die Militärgerichte zuständig. In einem Fall, der Aufsehen erregte, war der Kommandant eines sinkenden U-Bootes als Erster von Bord gegangen und auf das feindliche Schiff gesprungen. Er wurde in einem Gefangenenaustausch befreit, in Deutschland vor ein Marinegericht gestellt und aus Feigheit vor dem Feind zum Tode verurteilt. Die meisten Fälle, die wir gemeinhin mit NS-Justizverbrechen verbinden, stammen aus der letzten Kriegsphase. In dieser Zeit ist vergleichsweise wahllos aufgehängt worden. Die Deserteure wurden von Standgerichten verurteilt, die den Namen nicht verdienten. Es fanden kurze Verhandlungen mit - falls überhaupt - drei, vier Offizieren statt, aber das Urteil stand vorher fest. Es kam zu Exzessen von Gewalt: Wer nicht spurte, wurde umgebracht.

Erst 1998 hat der Bundestag die Unrechtsurteile der NS-Justiz gegen Deserteure aufgehoben. Warum ist das so spät geschehen?

Neitzel: Weil die Wehrmachtsveteranen eine prägende Rolle in der Gesellschaft gespielt haben. Im Jahr 1969 hatten noch 60 Prozent der Bundestagsabgeordneten in der Wehrmacht gedient. Erst 1998 trat der letzte Veteran in den politischen Ruhestand. Eine neue Generation rückte nach, der Bundestag diskutierte über die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht". Sie dokumentiert die Komplizenschaft der Militärs an der Vernichtung der Juden, am Massenmord der Kriegsgefangenen und am Terror gegen die Zivilbevölkerung. Die Dimension der Verbrechen war vorher bekannt, aber in den Hintergrund gestellt worden. Jetzt wurde sie mit voller Wucht wahrgenommen.

Hans Filbinger musste 1978 als Baden-Württembergs Ministerpräsident zurücktreten, weil er als Militärrichter der Kriegsmarine Todesurteile wegen Fahnenflucht und Plünderei gefällt hatte. Die Affäre blieb ein Einzelfall. Warum schloss sich keine gründliche Untersuchung der NS-Justiz an?

Neitzel: Die Erkenntnis, dass die Justiz das Recht im NS-Sinne in empörender Art und Weise gebeugt hat, ist erst langsam durchgesickert. Zum Teil kommt erst heute heraus, wer alles Todesurteile unterschrieben hat. Eine aktuelle Studie über das Bundesjustizministerium und den NS-Staat zeigt, wie die NS-Richter nach dem Krieg weitergewirkt haben. Von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Ministeriums tätig waren, gehörten 90 der NSDAP und 34 der SA an. Das hatte schwerwiegende Folgen. Hohe Generäle bei der Bundeswehr, die in NS-Verbrechen involviert waren, wurden von Oberstaatsanwälten verhört, die früher selber verstrickt waren. Man hatte großes Verständnis füreinander.

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Warum sind nur so wenige Wehrmachtsoldaten desertiert?

Neitzel: Die Frage ist aus heutiger Sicht gestellt. 75 Jahre nach dem Krieg wissen wir um den Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht im Osten. Unser Fokus liegt auf den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darüber haben wir uns ein moralisches Urteil gebildet. Aber ist unser heutiges Wertesystem auf damals übertragbar? Was konnte der durchschnittliche Soldat wissen, der 1941 an der Front gekämpft hat? Für ihn war das Dritte Reich nicht ein zwölfjähriges, sondern ein 1.000-jähriges. Es war der gegebene Staat, auch in der Zukunft, und diesem zu dienen, war für ihn Gesetz.

An Gewalt war er früh gewöhnt. In seinem Alltag spielten die Verbrechen des Nationalsozialismus, sofern er nicht direkt an ihnen beteiligt war, nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptrolle spielte der Tod in der Hauptkampflinie, das Sterben der Kameraden, das eigene Überleben. Deshalb haben sich viele Soldaten nach dem Krieg als Opfer gesehen. In unserem Buch "Soldaten" plädiere ich mit dem Soziologen Harald Welzer dafür, verstärkt die Lebenswirklichkeit der Soldaten in den Blick zu nehmen und deren Logiken zu rekonstruieren. Wir müssen den Krieg mit ihren Augen sehen - und dann verstehen wir ihn.

Ist der, der überläuft, heute per se der Gute?

Neitzel: Das würde ich nicht so sehen. Ein heutiger Soldat, der in Afghanistan zu den Tablian desertieren würde, müsste sich bei seiner Rückkehr vor einem deutschen Gericht verantworten. Es gibt den Fall eines russischstämmigen Bundeswehrsoldaten, der sich 2014 in der Ukraine von der Truppe abgesetzt hat und zu den prorussischen Separatisten übergelaufen ist. Soldaten haben sich verpflichtet, dem Staat zu dienen. Wenn sie dagegen verstoßen, kann ein Straftatbestand vorliegen. Aber wegen Fahnenflucht würde man heute niemanden mehr zu einer langen Haftstrafe verurteilen.

Das Interview führte Helmut Monkenbusch, freier Journalist.

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Das Erste | 08.04.2020 | 20:15 Uhr

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