Stand: 07.05.2020 11:30 Uhr

Kriegsende und 1945: Die Rolle der Kirchen

von Michael Hollenbach

Am 8. Mai 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende und Deutschland wurde vom Nationalsozialismus befreit. Die evangelische Kirche hatte bereits im Oktober 1945 das sogenannte Stuttgarter Schuldbekenntnis abgelegt, die katholische Kirche brauchte etwas länger, um sich dezidiert mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus und dem verbrecherischen Krieg auseinanderzusetzen. Seit den 1960er-Jahren ist das mehrmals geschehen - zuletzt Ende April im "Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Kriegsende".

Bischof Heiner Wilmer © NDR/ Florian Breitmeier Foto: Florian Breitmeier
"Schlussstriche zu ziehen ist irreal", sagt der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer.

Die katholischen Bischöfe hätten sich in den 1930er- und 40er-Jahren mitschuldig gemacht, weil sie dem Krieg kein eindeutiges Nein entgegenstellten. Vielmehr hätten sie den Willen zum Durchhalten gestärkt, so steht es in der aktuellen Erklärung der katholischen Oberhirten, die von der Kommission Justitia et Pax vorbereitet wurde. Vorsitzender von Justitia et Pax ist der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer.

"Aus einem kirchlich-traditionellen Obrigkeitsverständnis heraus hat man die Soldaten zu Gehorsam und Pflichterfüllung aufgerufen", so der Bischof. Die Protestanten hätten unmittelbar nach Kriegsende zwar ihre indirekte Mitverantwortlichkeit für nationalsozialistische Verbrechen erklärt, nach dem Krieg diese Einsicht aber teilweise relativiert: "Es wurde daneben gestellt, wir waren auch in einer großen Gemeinschaft des Leidens und die eigene Betroffenheit breit dargestellt", sagt Dorothee Godel, Oberkirchenrätin der evangelischen Kirche in Deutschland.

"Lange gebraucht, die Opfer-Perspektive einzunehmen"

Weite Teile des Protestantismus haben dem Nationalsozialismus positiv gegenübergestanden. Dass es sich bei dem Zweiten Weltkrieg um einen verbrecherischen Angriffskrieg handelte, verdrängten die meisten evangelischen Christen. "Es war sicher so, (…) dass die Soldaten wahrgenommen wurden als Menschen, die ihr Vaterland verteidigt hatten", sagt Godel und ergänzt: "Bis in die 60er-Jahre ist es vorgekommen, dass evangelische Geistliche auch selbst Kriegsverbrecher noch in Schutz genommen haben."

Heiner Wilmer beklagt rückblickend, dass sich die katholische Kirche in der Regel nicht an die Seite jener gestellt habe, die unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten hätten: "Grundsätzlich halte ich es für die wichtigste Lektion, dass wir die Wirklichkeit mit den Augen der Opfer sehen. Man hat lange gebraucht, die Perspektive der Opfer einzunehmen, auch jener Soldaten, die aus Gewissensgründen der Wehrmacht den Rücken kehrten. Das war lange verpönt."

"Dietrich Bonhoeffer galt als Vaterlandsverräter"

Christen, die den Krieg verweigerten oder sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten, wurden in beiden Kirchen auch nach 1945 lange Zeit verachtet oder nicht gewürdigt. Dorothee Godel nennt als Beispiel den Umgang mit dem evangelischen Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 hingerichtet wurde: "Als 1953 die erste Gedenkveranstaltung im KZ Flossenbürg abgehalten wurde, ist der bayerische Landesbischof Hans Meiser demonstrativ ferngeblieben und bis in die 70er-Jahre galt Bonhoeffer vielen als ehrloser Vaterlandsverräter. Und das hat sich völlig gewandelt: Inzwischen ist Bonhoeffer zum Vorbild geworden."

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Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

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Das Wort der katholischen Bischöfe zum Kriegsende fällt in eine Zeit, in der sich rund die Hälfte der Deutschen in einer aktuellen Umfrage dafür ausspricht, einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen. "Ich halte die Rede von Schlussstrichen für geschichtsvergessen", meint Hilmer und fügt hinzu: "Schlussstriche zu ziehen sind irreal, die Folgen des Zweiten Weltkrieges sind weiterhin anwesend und wer einen Schlussstrich zieht, versteht weder sich selbst noch seine Nachbarn."

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer betont, gerade für die Deutschen sei es wichtig, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und den Zweiten Weltkrieg wachzuhalten. "Als Deutsche können wir keine Schlussstriche ziehen. Wir wollen ein europäisches Friedensprojekt und den Frieden können wir nur dann anstreben, wenn wir Verständnis haben für die Verletzungen der anderen und wer hier Schlussstriche zieht, der beschädigt Europa."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 08.05.2020 | 11:40 Uhr

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