Stand: 08.04.2020 06:47 Uhr

April 1945: Mörderische Hatz auf KZ-Häftlinge in Celle

Blick auf das Mahnmahl zur Celler "Hasenjagd". © NDR Foto: Uwe Day
Seit 1992 erinnert ein schlichtes Mahnmal in den Triftanlagen nahe des Celler Bahnhofs an das Massaker.

Celle am Nachmittag des 8. April 1945: Ein Güterzug mit offenen Waggons fährt in den Bahnhof ein, an Bord etwa 3.400 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Salzgitter-Drütte und Holzen. Die meisten von ihnen sind Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion und Polen. Das Ziel ist Bergen-Belsen. In Celle muss der Zug wegen technischer Probleme halten. Plötzlich tauchen alliierte Bomber auf. Eine amerikanische Bomberstaffel greift den Güterbahnhof an, um den Nachschub für die deutschen Truppen zu unterbrechen.

500 Häftlinge sterben im Angriff

Die KZ-Häftlinge versuchen, den Bomben zu entkommen, und flüchten. Unter ihnen auch Karl Tucht, der sich 40 Jahre später in einem Fernseh-Interview erinnert: "Die Waggons waren ein Stückchen offen. Ich bin dann rausgesprungen. Und die SS-Männer sind alle runter, haben sich hingelegt in den Graben." 50 Minuten dauert der Angriff, 500 Häftlinge sterben im Bombenhagel. Auch unter der Zivilbevölkerung von Celle gibt es Tote.

Verbrechen in der Endphase des Krieges

Das Massaker von Celle zählt zu den sogenannten Kriegsendphase-Verbrechen auf niedersächsischem Gebiet. Die SS hält angesichts der anrückenden alliierten Truppen an ihren Plänen fest, keinen der KZ-Häftlinge in die Hände des Feindes fallen zu lassen. So treiben bei den sogenannten Todesmärschen SS-Leute die völlig entkräfteten KZ-Häftlinge aus den Lagern. Manche Märsche gehen über mehr als hundert Kilometer. Viele der Häftlinge brechen erschöpft zusammen und werden von ihren Bewachern ohne jegliche Skrupel erschossen. Hier finden Sie eine Übersicht der Todesmärsche in Norddeutschland.

Wehrmacht befiehlt Jagd auf Entflohene

Am späten Abend hat die SS den Großteil der Geflohenen wieder zusammengetrieben. Doch viele halten sich noch versteckt, unter anderem im Neustädter Holz, einem Waldgebiet in der Nähe des Bahnhofs. Für den nächsten Morgen befiehlt der Stadtkommandant der Wehrmacht, Paul Tzschökell, die Jagd auf die Entflohenen. Am 9. April durchkämmen SS-Leute, Polizisten, Feuerwehrleute, Volkssturm-Männer, Hitlerjungen, aber auch Zivilisten wie der Boxer Otto Amelung die Gegend in der Nähe der Bahnlinie.

Häftlinge werden zum Abschuss freigegeben

Es ist der Beginn eines beispiellosen Massakers. Gegenüber der Bevölkerung lässt die SS verlautbaren, die Häftlinge seien plündernd unterwegs und zum Teil auch bewaffnet - und erklärt die entflohenen Häftlinge damit zu einer zum Abschuss freigegebenen Bedrohung. Viele aus der Celler Bevölkerung werden zu Augenzeugen. So erinnert sich in einem Fernsehbeitrag des NDR aus dem Jahr 1985 auch Adolf Völker, der 1945 ein Jugendlicher war: "Da bauten sich Soldaten in unseren Vorgärten auf zu einer Schützenkette. Diese Schützenkette hat die Häftlinge vor sich hergetrieben, die sich in den Gärten versteckt haben, und von beiden Seiten wurde mit Karabinern auf die geschossen, wenn die zur Seite weglaufen wollten."

Weitere Informationen
Jüdisches Denkmal, Obelisk und Inschriftenwand im Freigelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen © Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Foto: Juliane Hummel

Todesmärsche ins KZ Bergen-Belsen

Zum Kriegsende räumen die Nazis ihre Konzentrationslager. Sie schicken die Häftlinge auf sogenannte Todesmärsche. Albrecht Weinberg überlebt den Marsch nach Bergen-Belsen. mehr

Leichen werden von der Straße gesammelt

Die Täter gehen erbarmungslos vor. Wehrlose Häftlinge werden mit Kopfschüssen regelrecht exekutiert. 170 Häftlinge werden ermordet. Dem damals 13-jährigen Wilhelm Sommer aus Celle bietet sich ein erschreckendes Bild, wie er 1985 im NDR Fernsehen berichtet: "Am andern Tage, also am 9. April, fuhr der Bahnspediteur mit einem Rollwagen, zwei Pferden davor, durch die Straßen, eskortiert von SS-Männern und Häftlingen, die die Leichen wie Säcke auf diesen Wagen schmissen."

Manche Täter gelten später als angesehene Bürger

Am 12. April, drei Tage nach der Menschenjagd, nehmen britische Truppen die Stadt ein. Zu den ersten Ermittlungen der Alliierten kommt es bereits im Mai 1945. Es dauert bis zum Dezember 1947, bis ein Militärgericht 14 Männer des Mordes anklagt. Die meisten von ihnen leugnen die Vorwürfe. Die Urteile: sieben Freisprüche, vier Haftstrafen und drei Todesurteile, die später in Haftstrafen umgewandelt werden. Spätestens 1952 sind die Männer wieder auf freiem Fuß. Und manche führen danach wieder ein Leben als durchaus angesehene Bürger.

Weitere Informationen
Drei Holzkreuze sind Teil des Mahnmahls an die Celler Hetzjagd auf KZ Häftlinge. © NDR Foto: Uwe Day
3 Min

"Häftlinge wurden zum Abschuss freigegeben"

Noch kurz vor Ende des Krieges beteiligen sich Celler Bürger an der Jagd nach entflohenen KZ-Häftlingen. Der Historiker Reinhard Rohde berichtet über eine unfassbare Geschichte. 3 Min

Leichen werden wieder ausgegraben

Die Stadt verdrängt das dunkle Kapitel jahrelang. 1949 wird auf dem Waldfriedhof von Celle eine "Ruhestätte für die Opfer des Zweiten Weltkriegs" aufgebaut. Die Leichen der ermordeten Häftlinge waren nach dem Krieg verscharrt worden. Im Zuge der Ermittlungen des britischen Militärgerichts werden die Leichen ausgegraben und dann auf dem Friedhof bestattet. Später kommen Steine hinzu mit den Namen der Getöteten.

Entstehung des zynischen Begriffs "Hasenjagd"

Erst in den 1980er-Jahren werden kritische Stimmen laut, die Stadt möge die Vorfälle aufarbeiten und daran erinnern. Inzwischen ist von der "Celler Hasenjagd" die Rede, da manche Augenzeugen gesehen haben wollen, dass die KZ-Häftlinge wie Hasen zickzack über das freie Feld in den Wald geflohen seien und dabei von ihren Verfolgern erschossen wurden, erklärt Ortshistoriker Reinhard Rohde. So sei der zynische Begriff "Celler Hasenjagd" entstanden. Seit 1992 erinnert ein schlichtes Mahnmal in den Triftanlagen in der Nähe des Bahnhofs an das Massaker.

Weitere Informationen
Blick von einem Balkon auf den Todesmarsch durch Starnberg-Percha. (Foto: Benno Gantner, 28. April 1945)

Die Todesmärsche 1944/45

Es ist das letzte, weitgehend unbekannte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes: die Todesmärsche der KZ-Häftlinge. Das Kulturjournal spricht mit einem Überlebenden. mehr

Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

Chronik des Kriegsendes im Norden

Im Frühjahr 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wie verliefen die letzten Kriegsmonate? Welche überregionalen Ereignisse waren relevant? mehr

Wehrmachtssoldaten ergeben sich 1945 und halten weiße Tücher hoch. © picture alliance/akg-images Foto: akg-images

Dossier: Wie der Weltkrieg im Norden zu Ende ging

Am 8. Mai 1945 kapituliert die deutsche Wehrmacht. Viele Städte und Lager sind von den Alliierten da bereits befreit worden. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 08.04.2015 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Zweiter Weltkrieg

Mehr Geschichte

Bertha Keyser, der "Engel von St. Pauli" © Hauptkirche St.Michaelis

60. Todestag von Bertha Keyser: Der echte "Engel von St. Pauli"

Bertha Keyser hat sich ein halbes Jahrhundert lang um Arme und Obdachlose in St. Pauli gekümmert. Am 21. Dezember 1964 starb sie. mehr

Norddeutsche Geschichte