Hildesheim: Als Bomber in wenigen Minuten das Stadtbild zerstörten
Mit seinen vielen Fachwerkhäusern gilt Hildesheim einst als "Nürnberg des Nordens". Doch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zerstören die Alliierten die Altstadt. Besonders verhängnisvoll ist der Luftangriff am 22. März 1945.
Der Tag, der in Hildesheim alles verändern sollte, beginnt verheißungsvoll. Am 22. März 1945 herrscht strahlendes Frühlingswetter. Daran erinnert sich auch Gerlinde Picker. "Es war ein herrlicher Frühlingstag, warm und voll Sonne. Die Knospen der Trauerweiden im Garten waren aufgebrochen", erzählt sie später in einem Gespräch mit der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" (HAZ). Als am Mittag der Vollalarm ausbricht, liegt sie gerade im Garten ihrer Freundin auf einem Liegestuhl. Sie rennen in den Keller des Hauses. "Was dann kam, war die Hölle! Das elektrische Licht ging aus, der Keller schwankte durch die Bomben-Einschläge wie ein Vogelkäfig. Im Schein der angezündeten Kerze war der Raum in einen Kalkschleier gehüllt. Ich hatte Todesangst."
Plötzlich reißen Soldaten die Tür auf und rufen: "Raus, raus, über euch brennt das Haus!" Gerlinde Picker ergreift ihr Gepäck und läuft nach draußen. "Draußen war es dunkel. Durch die ungeheure Feuersbrunst war der Tag zur Nacht geworden."
Nach einer Viertelstunde sind die Angriffe vorbei
Kurz nach 13 Uhr hat der Angriff der Alliierten begonnen. Der Auftrag lautet: Zerstörung der bebauten Fläche mit Industrie und Eisenbahnanlagen. Zunächst werfen Flugzeuge aus großer Höhe Zielmarkierer ab: Zielmarkierungsbomben sind mit bunten, kaskadenartig in der Luft herausfallenden Leuchtstäben gefüllt, die wie glühende Tropfen aussehen. Die Bevölkerung hält diese Bomben irrtümlich für Phosphorbomben. Dann klinken 200 britische und kanadische Bomber ihre Fracht über der Stadt aus. Mehr als 1.000 Tonnen verschiedener Bombentypen richten verheerende Schäden an. Nach einer Viertelstunde endet der Angriff. Aber es kommt zu einer Feuerbrunst. Die Rauchwolke steigt bis zu 4.580 Meter hoch. Sie wird von den Bomber-Besatzungen noch in 300 Kilometer Entfernung gesehen.
"Das Haus zu löschen, war nicht möglich"
Nach dem Ende des Luftangriffs macht sich Gerlinde Picker sogleich auf den Weg durch die brennende Stadt zu ihrem Elternhaus. "Je näher wir unserem Haus kamen, desto mehr schwand alle Hoffnung, es unbeschadet zu sehen. Die Häuser, der Ostbahnhof, die Waggons, die Bäume, alles, alles brannte!" Auch ihre Elternhaus bleibt nicht verschont. "Wir standen vor unserem Haus, aus dessen Fensterhöhlen die Flammen rasten. Mein Großvater versuchte vergebens, etwas aus dem Keller zu retten. Seine Kleidung war durch Funkenflug durchlöchert. Kaninchenstall, Hühnerhaus, Sauerkirsch-Bäume und Flieder, Büsche und Zäune, alles brannte." Das Haus zu löschen, ist nicht mehr möglich. Gerlinde Picker erinnert sich: "Ein schaurig-schöner Anblick war es, als die Etagendecken des Hauses mit Krachen einstürzten und einen Feuerwerksfunkenregen erzeugten."
85 Prozent der Fachwerkhäuser sind zerstört
So wie Gerlinde Picker und ihre Familie verlieren damals viele Hildesheimer all ihr Hab und Gut. Laut amtlicher Statistik werden 52 Prozent der Wohngebäude vernichtet. Rund 34.000 Einwohner sind nun obdachlos. Und 85 Prozent der alten Fachwerkhäuser, darunter das weltbekannte Knochenhauseramtshaus aus dem Jahr 1529, gehen verloren. Schlimmer noch: Hunderte Tote werden aus den Trümmern gezogen und auf dem Zentralfriedhof zur Identifikation aufgereiht. Allein bei dem Luftangriff an diesem Tag werden 1.006 Menschen getötet.
Insgesamt kommen bei dem Luftkrieg in Hildesheim nach offiziellen Angaben 1.645 Menschen ums Leben. Denn schon in den Wochen, Monaten und Jahren zuvor hatte es weitere sechs Luftangriffe auf Hildesheim gegeben. Der erste Angriff erfolgte am 9. Oktober 1943, im Jahr 1944 folgten zwei weitere. Und im letzten Kriegsjahr fielen vier Mal Bomben auf die Stadt: am 22. Februar sowie am 3. und 14. März - und schließlich zum letzten Mal am 22. März 1945.
"Die Brandbomben schlugen in unmittelbarer Nähe ein"
Für die Hildesheimer bleibt vor allem der 22. März 1945 in Erinnerung. Auch für Werner Beckmann ist der Tag ein einschneidendes Erlebnis, wie im "Hildesheimer Kalender 2005 - Jahrbuch für Geschichte und Kultur" nachzulesen ist. Als zwölfjähriger Junge wird er außerhalb der Altstadt von den Luftangriffen überrascht - zusammen mit seiner Mutter. Sie legen sich neben einem Acker flach auf den Boden. "Wir hatten das Gefühl, durch die Erschütterungen, die von den Einschlägen und Explosionen verursacht wurden, jeweils einige Handbreit aufwärts geschleudert zu werden, um dann wieder herunterzusacken.
Ich wagte es, einige Augenblicke himmelwärts zu schauen: Tonnen ähnlicher Bomben torkelten nieder, ebenso ganze Bündel von Stabbrandbomben. Augenzeuge Werner Beckmann
Werner Beckmann beobachtet auch, wie ein Flugzeug der Allierten über der Stadt explodiert. "Plötzlich ereignete sich eine ungeheure Explosion über uns: Ein Bomber war zerplatzt und seine Wrackteile und Trümmer zerstoben glühend und brennend in alle Richtungen, bizarre Rauchschleppen hinter sich herziehend. Die Metallteile und auch Brandbomben schlugen in unmittelbarer Nähe von uns ein." Das Flugzeug war versehentlich von der Minenbombe eines über ihm fliegenden Bombers getroffen worden. Werner Beckmann und seine Mutter überleben den Luftangriff.
"Alt-Hildesheim ist dahin, nur ein ödes Trümmerfeld"
Die Stadt Hildesheim ist nicht wiederzuerkennen. Tagelang steht die Stadt in Flammen. Als die amerikanischen Truppen Hildesheim am 7. April 1945 erreichen, ist vom historischen Stadtbild nicht mehr viel geblieben. Der Zeitzeuge und Domkapitular Hermann Seeland notierte damals in seiner Chronik: "Alles zerstört und vernichtet. Alt-Hildesheim ist dahin, nur ein ödes Trümmerfeld."
Nach dem Luftangriff am 22. März 1945 führen die Gestapo und die SS Massenhinrichtungen gegen angebliche Plünderer durch. Dabei werden auf dem Marktplatz und im Polizei-Ersatzgefängnis auf dem Nordfriedhof vor allem ausländische Zwangsarbeiter exekutiert. Im einem Massengrab auf dem Nordfriedhof liegen 208 unbekannte Männer und Frauen.
Und dann blüht der Rosenstock am Dom
Gerlinde Picker verbringt die Monate nach Kriegsende außerhalb Hildesheims. "Die zerstörte Innenstadt habe ich erst im Herbst 1945 gesehen, als der Schulunterricht wieder begann. Aber wir freuten uns, als wir hörten, dass der Rosenstock am Dom unter dem Schutt wieder ausgeschlagen hatte. Als Hildesheimer Kind kannte ich ja die alte Sage gut, dass Hildesheim bestehen wird, solange der Rosenstock am Dom grünt."
Wiederaufbau Hildesheims in den 1950er-Jahren

Hildesheim hatte zu Kriegsbeginn gut 60.000 Einwohner. Am Kriegsende sind es nur noch knapp 40.000. Doch das sollte sich schnell wieder ändern. Ende 1947 sind es wieder 66.000 - und zwei Jahre später zählt die Stadt 71.172 Einwohnern, davon 7.000 Flüchtlinge. Die Stadt wächst also schnell über ihre Vorkriegsgröße hinaus.
Nach Kriegsende beginnt schon bald der Wiederaufbau. Im Juni 1945 werden die ersten ersten Ruinen abgerissen und die ersten Häuser wieder aufgebaut. Im Februar 1947 sind 350 Wohnhäuser wieder errichtet. Bis heute prägt vor allem der Wiederaufbau in den 1950er-Jahren das Bild der Innenstadt. Der schwer beschädigte Dom und die Andreaskirche werden ebenfalls in den 1950er-Jahren wieder aufgebaut. In den 1980er-Jahren beginnt die Stadt dann einen Teil des historischen Marktplatzes zu rekonstruieren. Von 1986 bis 1989 entsteht auch das Knochenhaueramtshaus aus dem Jahr 1529 neu - für rund 15 Millionen D-Mark. Im Herbst 2007 fällt die Entscheidung für den Wiederaufbau des Umgestülpten Zuckerhutes - eines weiteren markanten Fachwerkhauses.
Gedenken: Der Hildesheimer Friedenstag am 22. März
Bis heute gedenkt die Stadt Hildesheim den Geschehnissen am 22. März 1945 - mit dem "Hildesheimer Friedenstag". Er beginnt traditionell um 13.10 Uhr - zu der Uhrzeit, als am 22. März 1945 die ersten Fliegerbomben auf die Stadt abgeworfen wurden. Für einige Minuten läuten dann die Kirchenglocken in der Stadt. Im Anschluss wird in der Kirche St. Andreas an die Zerstörung der Stadt erinnert. Ein zentraler Bestandteil des Friedenstags ist die "Hildesheimer Friedensrede", die am 80. Jahrestag der frühere Bundespräsident und ehemalige Niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff halten wird.
In den vorangegangenen Jahren kamen bereits der frühere Niedersächsische Ministerpräsident David McAllister, Bischof Heiner Wilmer, die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, und die Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa als Friedenstag-Festredner in die Stadt.
