Almanci - Als die "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen
Es ist ein kurzes Papier, doch sein Inhalt prägt die deutsche Gesellschaft bis heute: Mit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen fällt am 30. Oktober 1961 der Startschuss für die Migration türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland.
Unterzeichnet wird das Abkommen zur Anwerbung türkischer "Gastarbeiter2 am 30. Oktober 1961 von deutschen und türkischen Diplomaten in Bad Godesberg in der Nähe der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Geregelt wird in diesem gerade einmal zweiseitigen Dokument die Entsendung von türkischen Arbeitskräften nach Deutschland - denn die braucht die Bundesrepublik in der Folge des Wirtschaftwunders dringend. Entsprechende Abkommen mit Griechenland, Italien und Spanien sind zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen worden. Nun können sich auch türkische Arbeitskräfte ganz offiziell auf Jobs bewerben.
Fachkräftemangel hier, Arbeitslosigkeit dort
Deutschland habe damit auf den Mangel an Fachkräften reagiert, lautet eine gängige These. Einige Wirtschaftsforscher sagen aber auch, die Türkei sei wegen der hohen Arbeitslosigkeit im eigenen Land auf Deutschland zugekommen. Das Abkommen dürfte also durchaus die Interessen beider Staaten bedient haben. Zudem habe sich Deutschland wiederum von der Vereinbarung unter anderem eine engere Bindung der Türkei an Europa und die NATO versprochen.
Zunächst dürfen nur unverheiratete Männer kommen
Nach Unterzeichnung des Abkommens dauert es nicht lange, dass in der Türkei die ersten Arbeitsamt-Vertretungen eröffnen. Schon nach wenigen Wochen erreichen die ersten türkischen Gastarbeiter die Bundesrepublik - Handwerker, Bauern, Bauarbeiter, aber auch Ungelernte. Rund 870.000 Türken lockt das Abkommen in den ersten Jahren nach Deutschland. Zunächst dürfen nur unverheiratete türkische Männer für maximal zwei Jahre einreisen.
Dementsprechend eingeschränkt spielt sich der Alltag der Arbeits"gäste" zunächst ab: Untergebracht zumeist in Sammelunterkünften lernen viele gar nicht erst Deutsch, da sie davon ausgehen, sowieso bald wieder in die Heimat zurückzukehren. Auch der Kontakt zu Deutschen und die Gestaltung der Freizeit gehören nicht zu den dringendsten Zielen: Im Mittelpunkt stehen die Arbeit und das erarbeitete Geld, das nach Hause geschickt werden kann. Integration - diese Vokabel soll auf beiden Seiten der deutsch-türkischen Partnerschaft erst deutlich später in den Fokus rücken.
Familiennachzug in den 70er-Jahren
Die anfänglich strengen Regelungen Anwerbeabkommens hebt die Bundesregierung bald auf - ab da ist etwa jede fünfte türkische Arbeitskraft in Deutschland eine Frau. Anfang der 70er-Jahre erleichtert Deutschland den türkischen Arbeitswilligen zudem eine Verlängerung ihres Aufenthalts. Viele nutzen das Angebot und holen ihre Familien nach Deutschland. Aus den "Gastarbeitern" werden mehr und mehr Almanci, wie die Deutsch-Türken in der Türkei genannt werden.
Anwerbestopp infolge der Rezession
Doch der deutsche Arbeitsmarkt verändert sich. Die Ölkrise stürzt die Wirtschaft Anfang der 70er in die Rezession. Nach Jahren der Vollbeschäftigung sind Arbeitsplätze in Deutschland knapp. Die Bundesregierung erlässt daraufhin 1973 einen Anwerbestopp. Viele Türkinnen und Türken bleiben dennoch und lassen weitere Familienangehörige nachziehen.
Aus einem Arbeitsland wird ein Zuhause
Wo manche den Zeitpunkt, in die Heimat zurückzukehren, immer wieder nach hinten verschieben und über die Jahrzehnte ganz aus dem Blickfeld verlieren, steht für andere schnell fest: Sie wollen bleiben. Und zwar für immer, sodass mittlerweile die dritte Generation der einstigen "Gastarbeiter" in Deutschland lebt.
Auch wenn das Spektrum der Herkunftsländer von Migrantinnen und Migranten in den vergangenen Jahrzehnten stetig größer geworden ist, sind die Türkeistämmigen nach wie vor die größte Gruppe aus einem einzelnen Herkunftsland. 2019 lebten von ihnen laut Statistischem Bundesamt rund 4,3 Millionen in Deutschland, etwa 2,8, Millionen davon mit einem deutschen Pass.
"60 Jahre Almanya" - Sonderprogramm des DOMiD
Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD)mit Sitz in Köln hat anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens ein Sonderprogramm aufgelegt. Dazu gehört unter anderem die Filmreihe "Die Eingeladenen", die Ausstellung "Viel erlebt, viel geschafft… viel zu tun! - Geschichten aus der Migrationsgesellschaft" und ein Online-Projekt: Historische Bilder und Interview geben hier tiefe Einblicke in die Gefühle, Hoffnungen und Schwierigkeiten derer, die sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten auf den Weg in eine fremde Kultur und eine ungewisse Zukunft gemacht haben.