In der Netz-Datenbank "Europeana" finden sich Hunderte norddeutscher Erinnerungsstücke zum Ersten Weltkrieg.
"Mein liebes Lisel" - so beginnt Hans Gebien, Hamburger Soldat im Ersten Weltkrieg, seine vielen Briefe aus dem fernen Danzig an seine Frau in der Hansestadt. Der als 40-Jähriger in den Kriegsdienst einberufene Lehrer und passionierte Naturforscher berichtet vom Leben bei der Landwehr und Lazarett-Aufenthalten. Von "Lisel" erfährt er, wie seine Frau und die beiden "lieben Deerns" Lotte und Käte zu Hause immer schlechter über die Runden kommen: "Nach den Kartoffeln haben sie uns nun auch noch die Teigwaren genommen. Dafür gibt es Steckrüben nach der Karte."
220 maschinengeschriebene Seiten umfasst das Konvolut von Schriftstücken, das Gebiens Enkelin in die gigantische Datenbank zum Ersten Weltkrieg europeana1914-1918 eingestellt hat. Das Portal sammelt Tagebücher, Feldpostkarten, Bilder und Briefe aus privaten und öffentlichen Archiven. Gebiens Korrespondenz mit seiner Familie ist eines von vielen Beispielen norddeutscher Erinnerungsstücke, die bei Europeana zu finden sind. NDR.de hat sich durch die Datenbank geklickt und einige besonders lesens- und sehenswerte Dokumente gefunden. Wie Mosaiksteinchen lassen sie ein Bild des Ersten Weltkriegs im Norden entstehen.
Von Krieg und Käfern: Ein Hamburger Soldat schreibt nach Hause
Der Krieg in privaten Briefen: Die Korrespondenz zwischen dem Hamburger Soldaten Hans Gebien und seiner Frau ist bei Europeana nachzulesen.
Der von Juli 1915 bis Februar 1917 dauernde Briefwechsel zwischen den Gebiens etwa zeichnet das Leben eines Soldaten und den zwischen Angst und Hoffnung schwankenden Daheimgebliebenen anschaulich nach. Auch zwischen den Zeilen dokumentiert er die Auswirkungen der Politik aufs Private.
Lisels Beschreibungen lesen sich, als klammere sie sich an Vertrautes, um der ständigen Angst um den Ehemann irgendwie Herr zu werden: So folgt auf ihre Nachricht, dass der Mann einer Bekannten womöglich tot ist, ein Rezept für Johannisbeerschnaps.
Und dann: Käfer, immer wieder Käfer. Wesentliche Bedeutung nimmt für beide der regelmäßige Austausch über Hans Gebiens Leidenschaft für die kleinen Krabbeltiere ein. "Lisel" berichtet immer wieder, wie sie dessen Hamburger Sammlung durchsieht und von Schimmel befallene Insekten mit Benzin reinigt. Im Gegenzug schickt er ihr neue Objekte.
Auszüge aus den Briefen der Gebiens (Quelle: Europeana)
Lisel an Hans (ohne Datum)
Gestern habe ich die Käfer in der Schlafstube nachgesehen. Da fand ich in 2 Kästen Schimmel. Ich habe die betreffenden Käfer fein vorsichtig herausgenommen u. sie in den Schimmelkasten gesteckt. Käte mußte gleich Benzin holen. Davon gibts furchtbar wenig u. so duftlos. Es hat wohl mal in friedl. Zeiten bei Benzin gestanden. Nun habe ich noch einen Gedanken. Ich glaube, in der Schlafstube sind doch zu viel Ausdünstungen. Wir setzten die Käfer während des Winters in die Kinderstube u, zwar an die Wand, wo jetzt das Ruhebett steht u. das kommt heraus. Was meinst Du dazu? Dann sind wir mit den Käfern schon in der ganzen Wohnung herumgegangen. Ist der Krieg erst aus, müssen wir sehen, was wir machen, entweder d. Käfer kommen ans Museum od. wir nehmen uns eine andere Wohnung. Ich bin schon wieder beim Pläne schmieden
Lisel an Hans am 21.7.1915:
"Es regnet noch. Die Post bringt einen Brief von Frau Schwitters. Darin schreibt sie: 'Ich hab einen Brief von 3 Kameraden meines Mannes bekommen. Ihre Kompanie war eingeschlossen. Da will mein Mann Verstärkung holen. Trotz Warnung der Kameraden tut er es u. ist seit der Stunde nicht mehr gesehen worden. Schrecklich nicht wahr? Vielleicht danach gefangen? 1 Uhr Mittag von roter Grütze von Himbeeren aus unserem Garten. Käte hat 1 ½ Pfd. gepflückt. 2 Uhr kommt Elsbeth wieder. 3 Uhr gehen wir aufs Land. Unter abwechselnden Regenschauern pflücken wir 2 ½ Pfd. Himbeeren, ½ Pfd. rote Johannisbeeren, dergl. weiße, 2 Pfd. schwarze Johannisbeeren, 50 (?) Leipziger Allerlei. Du siehst also gute Ernte. 6 Uhr häusl. Kaffeetrinken½ 7 Uhr wird bester Doppelkümmel geholt (Flache 1,80) u. auf die schwarzen Joh. gegossen. Nach 3 Wochen kommt Wasser u. Zucker dazu. Dann kriegst Du auch drei Fläschchen, oder trinkst Du jetzt nur 'Danziger Goldwasser'?"
Hans an Lisel am 25.7.1915:
"Danzig gilt bei den alten Leuten als gute, gemütliche Garnison. Damit ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Ich hätte es, wie alle sagen, wo anders wahrscheinlich viel schlechter getroffen. Nur eines ist mir klar geworden: Geld kann man, wenn man es hat,viel gebrauchen."
Hans an Lisel am 25.7.1915:
"Das Essen ist ein Gemisch von Schmerz und Freude: Schmerz: Freitag gabs eine Riesenschüssel Pellkartoffeln (alte) und einen Bückel. Als ich den Fraß bei den zurückkehrenden Kameraden anderer Korporalschaften sah, entschwand ich beim Abmarsch, stellte schleunigst meine Schüssel zurück und marschierte frech bei der Küche vorbei nach der Offizierküche der anschließenden Artilleriekaserne und ließ mir für 1 M ein gemäßes Mittagessen geben: Schweinerücken mit 5jungen Karotten und einer feinen Suppe. Warum soll ich leben wie ein Wauwau?"
Brief von Hans Gebiens Eltern am 2.8.1915:
"Wir können uns gut denken, daß es nicht leicht ist in Deinem Alter aus der Häuslichkeit heraus und an gewisse Bequemlichkeiten gewöhnt nun plötzlich auf einem ganz anderen Felde gestellt wird. Er muß ja aber jeder seine Pflicht erfüllen. Ja das Vaterland geht doch vor Allem vor, es ist mit das Größte,was es gibt. Wir sind gut zu Wege."
Lisel an Hans am 18.8.1915:
"Hier ist das Wetter zum Vergessen. Regen, Regen, Regen. Soll ich Dir nicht warmes Unterzeug kaufen? Mich friert schon. Wenn Du Urlaub kriegen kannst, so tu es nur ja. Vielleicht kann ich Dich hier krank füttern oder tot küssen od. erdrücken. Was meinst Du dazu?"
Lisel an Hans am 28.8.1915:
"Ich mußte an die Zeit kurz vor unserer Hochzeit denken, an unsere Spaziergänge nach dem Wandsbeker Gehölz, Billwerder Park usw. Da war auch so blaue, farbliche Luft, Sonnenschein u. manchmal Nebel; der war uns damals auch nicht so ganz unangenehm. Gott, was schreibe ich Dir alles. An das hast Du ja gar keine Zeit zu denken; bist Soldat u. mußt vielleicht bald fort. Die Zeit läuft ja rasend. Morgen muß Herr Rautert auch wieder fort."
Lisel an Hans am 4.9.1915:
"Wenn man in Betracht zieht, daß der Feldwebel die wichtigste Person im Regiment ist, muß man sich schon freuen, daß ihm Deine Schrift wohl gefallen hat u. Du auf diese Weise doch einige Tage Ruhe hast. Könnte nun nicht eines Deiner Organe (Lunge, Magen, Darm) etwas revoltieren, damit Du einem garnisondienstfähigen Menschen etwas näher kommst? Von Deinen H. will ich ganz schweigen; die sind in Königsrock od. vielmehr Hose wohl ganz verstummt. Ich weiß ja, Du bist böse, daß ich immer so etwas schreibe, aber ich kann nichts dafür. Meine tägl., ja stündliche Bitte ist die, daß etwas eintreten möge, das Dich vor dem Schrecklichen bewahre."
Lisel an Hans (ohne Datum):
Sei nur hübsch artig u. fleißig auf Deinem neuen Posten u, schreib nicht in Gedanken einen lateinischen Käfernamen auf das Gedenkblatt. Ach, wie viele Tränen werden noch auf diese Blätter fallen, die durch Deine Hand gegangen sind.
Lisel an Hans am 3.11.1915:
"Denk doch, der arme Herr Mohr! Wie hat er mit den Kindern den Krieg verfolgt; vom Pult aus mußten die Kinder aus kleinen Kanonen auf die Orte an der Wandkarte schießen, die von den Deutschen erobert waren. Weißt Du noch wie Käte erzählte? Zu Fuß lief er mit den Kindern nach Volksdorf hin u. zurück, aß u. trank nichts, um nur die Kinder an Mäßigkeit zu gewöhnen. Und nun? Nur kurze Zeit war er an der Front. Lorethahöhe. Von dort schrieb er noch in einem Brief an das Kollegium, wie schwer es ihm würde, auf richtige Menschen zu schießen. Am 16.10. traf ihn bei einem franz. Sturmangriff eine Handgranate am Kopf, am 19. ist er im Feldlazarett gestorben. Was mag er in den 3 Tagen gelittenhaben. – Und er ist nur einer von vielen!"
Hans an Lisel am 16.12.1915:
"Dies soll nun ein Weihnachtsbrief sein, dem Weihnachtspaket beigelegt. Ich kann mir nicht helfen, die Weihnachtsstimmung will noch garnicht recht in mir aufkommen. Einmal ist es noch nicht die Zeit, und ich habe auch sonst die richtige Stimmung erst in den letzten Tagen gehabt. Aber besonders ist es das Fehlen der Familie, die meine Stimmung bedrückt. Weihnachten ist das Fest der Kinder, der Familie und nichts, keine Kameraden, kein Fest in der Kaserne kann das alles ersetzen. Aber ich bin in Gedanken immer bei Euch, zumal ich dann auch das Weihnachtspaket, das mir schon heute zugestellt wurde, geöffnet vor mir habe."
Lisel an Hans am 21.12.1915:
"Wenn Du noch zu Weihnachten einen Brief von mir haben sollst, so muß ich mich beeilen. Denn die Uhr ist schon 10 Min. über meine Schreibstunde hinaus. Das kommt daher, weil ich von der Grützwurst immer probieren mußte, ob man auch merkt, daß Schweinefleisch dabei ist. Die rote Beete dazu sind auch noch zu schneiden, aber das ist schnell getan. 6 winzige Dinger für 20 Pfg., die müssen im Kriegsjahr besonders schlecht gediehen sein. 'Aber das riecht ja noch gar nicht nach Weihnachten', höre ich Dich fragen. Nur Geduld. Meerrettich ist auch schon da. Das heißt zu den rote Beete. Die Karpfen müssen wir uns wohl verkneifen. Sie sind ja an u. für sich billig. 1,40 M das Pfd. Aber die Butter. Unter Polizeiaufsicht darf man sich nach stundenlangem Warten ¼ Pfd. Butter erstehen. Ich habe noch ½ Pfd. Damit muß ich bis Neujahr auskommen, wenn Käte nicht morgen in der Produktion Kühlhausbutter bekommt."
Tochter Lotte an Vater Hans (ohne Datum):
"Lieber Vater.Wie wir am 26. Januar im Marine Lazarett Hänsel und Gretel vorgetragen haben, hat mich ein Soldat immer an den Beinen gekitzelt und ich mußte lachen, aber es hat niemand gemerkt, sie haben so laut geklatscht, daß ich mir die Ohren zugehalten habe. Nachher haben wir noch allerhand Sachen aufgeteilt, es waren Bücher und Äpfel und Schokolade und Zigarren. Und als wir wieder nach Hause gingen, hat mir ein Soldat noch viel erzählt. Nun sind wir von der Veddel bis Ausschlägerweg, das war aber ein langer Weg. –Morgen geht Käte wieder zur Schule, sie hat eine Woche gefehlt."
Lisel an Hans am 2.5.1916:
"Bring bloß nicht einen so gräßlichen Hunger mit, sondern iß Dich in D. od. Berl. recht tüchtig satt, denn hier ist es jetzt in dieser Hinsicht schrecklich. Seit 3 Wochen haben wir kein Fleisch gesehen. Am letzten Sonnabend holte ich mir nach 1 ½ stündigem Warten 1 Pfd. Schweinefett zum Auslassen zu 1,80 M. Diese Woche wollte ich nun wieder hin. Aber jetzt gehts nur auf Brotkarte, 1/8 Pfd. Fett od. ¼ Pfd. Fleisch a Pfd. 2 M. Wenn ich wöchentlich ½ Pfd. Butter habe, können wir uns freuen. Na, ich will Dir man nichts vorstöhnen. Sonst ziehst Du am Ende vor, dort zu bleiben bei Pellkartoffeln u. Hering."
Erinnerungen an verliebte Spaziergänge folgt Magendrücken
Anfangs sind die Briefe noch mit träumerischen Erinnerungen wie denen an verliebte Spaziergänge im Wandsbeker Gehölz gespickt. Aber je mehr der Krieg im Alltag spürbar ist, desto weniger gelingt es der Hamburgerin, einen "Brief an einen Soldaten" zu schreiben, "wie er sein soll, voll Mut, Hoffnung Anfeuerung", wie sie es im August 1915 ausdrückt. Stattdessen berichtet sie immer wieder von "Magendrücken".
"Wie können die paar Wochen Deine Gesinnung so geändert haben?"
Gebiens Schilderungen hingegen klingen zunächst angetan: "Ich persönlich habe am Soldatenleben recht Gefallen gefunden", schreibt er im September 1915. Besonders "Märsche, Geländeübungen, Schießen" machten ihm "Spaß". "Daß in mir etwas von einem Frontsoldaten steckte, habe ich selbst nie geahnt, aber es ist wirklich so und mit vielen Kameraden ist es nicht anders."
Derartige Töne entsetzen seine Frau, die ihren Gatten offenbar als reflektierten Menschen kennt und im Antwortbrief fragt: "wie Dir die Vorübungen zu dem grausigen Morden wie Bajonettieren, Handgranatenwerfen, usw. interessant sein können. Wie können die paar Wochen in anderen Verhältnissen u. anderer Umgebung Deine Gesinnung so geändert haben?" Fremd sei er ihr.
Als das "Musketier Gebien" zum Schreiber von Gedenkblättern für Gefallene abkommandiert wird und Hunderte Todesfälle dokumentiert, verfällt er doch bisweilen in den, wie er es bezeichnet, "Fehler des Grübelns". Dank seiner Stelle in der Offiziersstube ergeht es ihm im Vergleich zu anderen gut.
"Es sind ja noch genug Schlachttiere da"
Lisel Gebien wird indes des Krieges immer überdrüssiger. Immer mehr Bekannte fallen. "Wie lange soll das Morden noch dauern", fragt sie im November 1915 und setzt skeptisch nach: "Doch, welch eine müßige Frage, der einzelne spielt ja gar keine Rolle. Und es sind ja noch genug Schlachttiere da."
Hans Gebien hat Glück. Er kommt im September 1916 wegen einer Lungenkrankheit ins Lazarett und kehrt zur Erleichterung seiner Familie "garnisonsdienstunfähig" im Februar 1917 zurück nach Hause.
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NDR Info |
15.02.2014 | 19:20 Uhr
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