Stand: 24.04.2014 16:23 Uhr

"Wie lange soll das Morden noch dauern?"

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In der Netz-Datenbank "Europeana" finden sich Hunderte norddeutscher Erinnerungsstücke zum Ersten Weltkrieg.

"Mein liebes Lisel" - so beginnt Hans Gebien, Hamburger Soldat im Ersten Weltkrieg, seine vielen Briefe aus dem fernen Danzig an seine Frau in der Hansestadt. Der als 40-Jähriger in den Kriegsdienst einberufene Lehrer und passionierte Naturforscher berichtet vom Leben bei der Landwehr und Lazarett-Aufenthalten. Von "Lisel" erfährt er, wie seine Frau und die beiden "lieben Deerns" Lotte und Käte zu Hause immer schlechter über die Runden kommen: "Nach den Kartoffeln haben sie uns nun auch noch die Teigwaren genommen. Dafür gibt es Steckrüben nach der Karte."

220 maschinengeschriebene Seiten umfasst das Konvolut von Schriftstücken, das Gebiens Enkelin in die gigantische Datenbank zum Ersten Weltkrieg europeana1914-1918 eingestellt hat. Das Portal sammelt Tagebücher, Feldpostkarten, Bilder und Briefe aus privaten und öffentlichen Archiven. Gebiens Korrespondenz mit seiner Familie ist eines von vielen Beispielen norddeutscher Erinnerungsstücke, die bei Europeana zu finden sind. NDR.de hat sich durch die Datenbank geklickt und einige besonders lesens- und sehenswerte Dokumente gefunden. Wie Mosaiksteinchen lassen sie ein Bild des Ersten Weltkriegs im Norden entstehen.

Von Krieg und Käfern: Ein Hamburger Soldat schreibt nach Hause

Füllfederhalter schreibend auf Papier © picture alliance Foto: Axel Weiss
Der Krieg in privaten Briefen: Die Korrespondenz zwischen dem Hamburger Soldaten Hans Gebien und seiner Frau ist bei Europeana nachzulesen.

Der von Juli 1915 bis Februar 1917 dauernde Briefwechsel zwischen den Gebiens etwa zeichnet das Leben eines Soldaten und den zwischen Angst und Hoffnung schwankenden Daheimgebliebenen anschaulich nach. Auch zwischen den Zeilen dokumentiert er die Auswirkungen der Politik aufs Private.

Lisels Beschreibungen lesen sich, als klammere sie sich an Vertrautes, um der ständigen Angst um den Ehemann irgendwie Herr zu werden: So folgt auf ihre Nachricht, dass der Mann einer Bekannten womöglich tot ist, ein Rezept für Johannisbeerschnaps.

Und dann: Käfer, immer wieder Käfer. Wesentliche Bedeutung nimmt für beide der regelmäßige Austausch über Hans Gebiens Leidenschaft für die kleinen Krabbeltiere ein. "Lisel" berichtet immer wieder, wie sie dessen Hamburger Sammlung durchsieht und von Schimmel befallene Insekten mit Benzin reinigt. Im Gegenzug schickt er ihr neue Objekte.

Auszüge aus den Briefen der Gebiens (Quelle: Europeana)

"Käfer in die Kinderstube"

Lisel an Hans (ohne Datum)
Gestern habe ich die Käfer in der Schlafstube nachgesehen. Da fand ich in 2 Kästen Schimmel. Ich habe die betreffenden Käfer fein vorsichtig herausgenommen u. sie in den Schimmelkasten gesteckt. Käte mußte gleich Benzin holen. Davon gibts furchtbar wenig u. so duftlos. Es hat wohl mal in friedl. Zeiten bei Benzin gestanden. Nun habe ich noch einen Gedanken. Ich glaube, in der Schlafstube sind doch zu viel Ausdünstungen. Wir setzten die Käfer während des Winters in die Kinderstube u, zwar an die Wand, wo jetzt das Ruhebett steht u. das kommt heraus. Was meinst Du dazu? Dann sind wir mit den Käfern schon in der ganzen Wohnung herumgegangen. Ist der Krieg erst aus, müssen wir sehen, was wir machen, entweder d. Käfer kommen ans Museum od. wir nehmen uns eine andere Wohnung. Ich bin schon wieder beim Pläne schmieden

Erinnerungen an verliebte Spaziergänge folgt Magendrücken

Anfangs sind die Briefe noch mit träumerischen Erinnerungen wie denen an verliebte Spaziergänge im Wandsbeker Gehölz gespickt. Aber je mehr der Krieg im Alltag spürbar ist, desto weniger gelingt es der Hamburgerin, einen "Brief an einen Soldaten" zu schreiben, "wie er sein soll, voll Mut, Hoffnung Anfeuerung", wie sie es im August 1915 ausdrückt. Stattdessen berichtet sie immer wieder von "Magendrücken".

"Wie können die paar Wochen Deine Gesinnung so geändert haben?"

Gebiens Schilderungen hingegen klingen zunächst angetan: "Ich persönlich habe am Soldatenleben recht Gefallen gefunden", schreibt er im September 1915. Besonders "Märsche, Geländeübungen, Schießen" machten ihm "Spaß". "Daß in mir etwas von einem Frontsoldaten steckte, habe ich selbst nie geahnt, aber es ist wirklich so und mit vielen Kameraden ist es nicht anders."

Derartige Töne entsetzen seine Frau, die ihren Gatten offenbar als reflektierten Menschen kennt und im Antwortbrief fragt: "wie Dir die Vorübungen zu dem grausigen Morden wie Bajonettieren, Handgranatenwerfen, usw. interessant sein können. Wie können die paar Wochen in anderen Verhältnissen u. anderer Umgebung Deine Gesinnung so geändert haben?" Fremd sei er ihr.

Als das "Musketier Gebien" zum Schreiber von Gedenkblättern für Gefallene abkommandiert wird und Hunderte Todesfälle dokumentiert, verfällt er doch bisweilen in den, wie er es bezeichnet, "Fehler des Grübelns". Dank seiner Stelle in der Offiziersstube ergeht es ihm im Vergleich zu anderen gut.

"Es sind ja noch genug Schlachttiere da"

Lisel Gebien wird indes des Krieges immer überdrüssiger. Immer mehr Bekannte fallen. "Wie lange soll das Morden noch dauern", fragt sie im November 1915 und setzt skeptisch nach: "Doch, welch eine müßige Frage, der einzelne spielt ja gar keine Rolle. Und es sind ja noch genug Schlachttiere da."

Hans Gebien hat Glück. Er kommt im September 1916 wegen einer Lungenkrankheit ins Lazarett und kehrt zur Erleichterung seiner Familie "garnisonsdienstunfähig" im Februar 1917 zurück nach Hause.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 15.02.2014 | 19:20 Uhr

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