Wie ein Massen-Gentest zu Christinas Mörder führte
Zur Aufklärung eines Mordfalls beginnt am 9. April 1998 in Niedersachsen ein Massen-Gentest in noch nicht da gewesener Größenordnung. Kurz zuvor war die elfjährige Christina N. aus Strücklingen im Landkreis Cloppenburg entführt und getötet worden.
Die Ermittlungsbehörden entschließen sich in dem Fall des getöteten Mädchens zu einer damals noch recht neuen Methode: Eine DNA-Reihenuntersuchung - auch Massen-Gentest oder Massen-Screening genannt - soll Klarheit bringen. Zehn Wochen nach der Tat fordern sie alle Männer aus der Region im Alter zwischen 18 und 30 Jahren auf, eine DNA-Probe abzugeben. Rund 16.400 Männer kommen freiwillig zum Speicheltest. Die Untersuchung ist nicht nur neuartig, auch die Zahl der getesteten Männer ist damals außergewöhnlich - und deshalb ein riesiger Aufwand.
DNA-Auswertungen dauern 50 Tage
Die Auswertung des DNA-Massentests dauert 50 Tage. Dann kommt Ende Mai die erlösende Nachricht: Der Täter konnte ermittelt werden. Die DNA der Probe Nummer 3.889 ist identisch mit den Spuren, die der Täter am Tatort hinterlassen hat. Es handelt sich um Ronny Rieken, bereits vorbestraft, selbst Vater dreier Kinder. Festgenommen wird er beim Rasenmähen. Er leistet keinen Widerstand.
"So vom Gefühl her wusste ich morgens schon, dass die kommen, mich zu holen, und dieses Rasenmähen hab ich nur deshalb gemacht, weil ich nicht wollte, dass der Rasen so verkommen aussieht, wenn die ganze Presse und alles auftaucht", sagt Rieken im Gespräch mit den NDR Filmautoren Annette Baumeister und Jobst Knigge, die 2007 eine Doku über den Fall drehen.
Fahndungserfolg oder Fehler in der Polizeiarbeit?
Für die Ermittler ist die Aktion ein großer Erfolg, die DNA-Reihenuntersuchung an sich stellt aber einen datenschutzrechtlich umstrittenen Schritt dar. Zudem gibt es für den Test damals noch keine gesetzliche Grundlage. Schnell stellt sich auch die Frage, ob nicht auch herkömmliche Polizeiarbeit statt der Massen-DNA-Analyse zum Täter geführt hätte. Ronny Rieken war bereits polizeibekannt - und das nicht nur wegen einiger Eigentumsdelikte: 1990 war er wegen Vergewaltigung seiner 17-jährigen Schwester zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Außerdem gab es nach dem Mord an Christina N. Hinweise aus der Bevölkerung, die den Familienvater belasteten. Für die Tatzeit hatte er kein Alibi.
Dass die Polizei trotzdem nicht schon früher auf den Täter kommt, liegt damals vor allem an einer Panne in der Polizeidienststelle Oldenburg. Diese hatte die Daten von Rieken nicht in das Verzeichnis der Sexualstraftäter eingespeist. Die Ermittlungsbeamten wissen also nichts von seiner Vorstrafe, als sie den Familienvater nach seinem Alibi befragen. Weil der Mann bereits seine Speichelprobe abgegeben hat, verdächtigen die Beamten ihn zunächst nicht weiter.
Ronny Rieken gesteht kurz nach der Verhaftung
Noch am Tag seiner Verhaftung gesteht Rieken den Missbrauch und Mord der elfjährigen Christina - auch Nelly genannt - am 16. März 1998 sowie den Missbrauch eines weiteren Mädchens. In beiden Fällen belasten DNA-Spuren ihn schwer. Die Polizei vermutet in Rieken auch den Täter in weiteren Fällen von Kindesmissbrauch in der Region.
Außerdem gibt es einen weiteren Mordfall, der noch ungeklärt ist: Die 13-jährige Ulrike aus Jeddeloh war im Sommer 1996 mit ihrer Ponykutsche ausgefahren. Die Pferde kehrten allein zurück. Zwei Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter erhalten die Eltern von Ulrike traurige Gewissheit: Rieken gesteht nach mehrwöchiger Untersuchungshaft auch den Mord an der 13-Jährigen und führt die Beamten zur Leiche des Mädchens.
Am 27. November 1998 verurteilt das Landgericht Oldenburg Rieken wegen zweifachen Mordes sowie des Missbrauchs von 14 weiteren Mädchen zu lebenslanger Haft. Die Richter stellen die besondere Schwere der Schuld fest.
Serientäter Rieken gilt als nicht therapierbar
Rieken hätte frühestens im Frühjahr 2021 aus dem Gefängnis entlassen werden können. Einen entsprechenden Antrag lehnte das Landgericht Lüneburg aber ab. Ob er jemals aus der Haft kommt, ist ungewiss. Einem Gutachter zufolge gilt er als nicht therapierbar. Rieken selbst hatte schon vor Jahren in der Haft gesagt, es würde wohl keine 14 Tage dauern, bis er wieder rückfällig würde.
Gesetzliche Grundlage für DNA-Reihenuntersuchung seit 2005
Gesetzliche Grundlage für genetische Reihenuntersuchungen ist in Deutschland heute der Paragraf 81h der Strafprozessordnung, der am 1. November 2005 in Kraft getreten ist. In früheren Jahren wie im Fall Ronny Rieken konnten sie ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage durchgeführt werden. Die Teilnahme an einer solchen - richterlich angeordneten - Reihenuntersuchung ist freiwillig, niemand kann dazu gezwungen werden. Wer sich weigert, darf nicht aus diesem Grund als Verdächtiger eingestuft werden. Der Personenkreis einer Reihenuntersuchung muss anhand von Merkmalen beschrieben werden, wie zum Beispiel alle Männer einer bestimmten Altersklasse, die in einer bestimmten Umgebung wohnen.
Eine bestimmte Anzahl von Personen ist für die Definition eines Massen-Gentests nicht nötig, wie das Niedersächische Landeskriminalamt dem NDR mitteilte. Das hessische LKA erklärt eine frühere Einstufung in Hessen so: "Bis zur Einführung des § 81h StPPO wurde [...] jede Untersuchung mit mehr als 100 (Vergleichs-)Personen als DNA-Reihenuntersuchung (nicht als Massentest) bezeichnet." Eine standardisierte Vergleichsprobe kostet laut Harald Schneider, Leiter der DNA-Analytik beim hessischen LKA, rund zehn Euro. Sehr viel teurer sei die Spurensuche, wenn mitunter Tausende Spuren gesichtet und ausgewertet werden müssten.
Zwei frühere Reihen-Tests mit unterschiedlichem Ausgang
Der Massen-Gentest, der Ronny Rieken überführte, ist einer der ersten, aber nicht der erste seiner Art in Deutschland. Zur Aufklärung des Todes einer jungen Frau in München im Dezember 1992 werden damals Hunderte Porsche-Halter zur Abgabe einer Speichel- oder Blutprobe gebeten, darunter der Schauspieler Claude-Oliver Rudolph. Die Frau soll vor ihrem Tod mit einem Sportwagen-Fahrer gesehen worden sein. Aber es will sich partout kein Treffer ergeben. Der Massen-Gentest bleibt ohne Erfolg. Nur dank weiterer Ermittlungen und einem einzelnen DNA-Abgleich kann der Täter 2002 dennoch überführt werden. Es war der Ehemann der Putzfrau des Opfers. Einen Porsche hat er nicht. 2003 wird er zu elf Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.
Nach Angaben des hessischen LKA findet die erste erfolgreiche DNA-Reihenuntersuchung in Deutschland 1994 im Bereich Darmstadt/Babenhausen statt. 1.889 Männer unterziehen sich dem Test, der helfen soll, den Mord an der dreijährigen Elora M. aufzuklären. Als Täter wird ein damals in Hessen stationierter US-Soldat ermittelt. Ein Militärgericht verurteilt ihn wegen Entführung, Vergewaltigung und Mordes an Elora zu lebenslanger Haft.
Anderen Quellen zufolge hat es bereits in früheren Jahren erfolgreich verlaufene Reihenuntersuchungen in Deutschland gegeben, wenn auch mit einer geringeren Zahl getesteter Personen. Es existiert allerdings kein allgemeines Verzeichnis, in dem alle Fälle aufgelistet werden. Außerdem ist unklar, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen sie durchgeführt wurden, sodass Vergleiche nicht möglich sind.
DNA-Datenbank wird 1998 eingeführt
Eine Folge der ersten Massen-Gentests: Die Behörden starten am 17. April 1998 den Aufbau einer bundesweiten DNA-Datenbank, die vom Bundeskriminalamt betrieben wird. In der DNA-Analyse-Datei (DAD) sind mehr als 1,2 Millionen Datensätze gespeichert, davon etwa 836.000 Personendatensätze und rund 386.000 Spurendatensätze (Stand: April 2022). Die Datenbank-Treffer müssen in jedem Einzelfall durch die kriminaltechnischen Untersuchungsstellen bestätigt werden. Mithilfe der DAD, die allen deutschen Polizeibehörden zur Verfügung steht, konnten seitdem zahlreiche Fälle gelöst werden.
Einer der spektakulärsten: Der Mord an dem Münchner Modezar Rudolf Mooshammer im Jahr 2005 wird innerhalb von zwei Tagen aufgeklärt, weil der Täter in der Datenbank gespeichert war. Immer wieder werden groß angelegte DNA-Reihenuntersuchungen im Rahmen von Ermittlungen durchgeführt. Häufig können sie aber nicht dazu beitragen, verdächtige Personen zu finden.