Bronzestatue eines Engels, der von Seilen gehalten mit dem Bauch nach unten waagerecht in der Luft liegt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf erhoben und die Augen geschlossen. © IMAGO / Hohlfeld Foto: IMAGO / Hohlfeld

Wie der schwebende Engel den Nationalsozialismus überdauerte

Stand: 22.08.2023 16:28 Uhr

Im Jahr 1927 wurde der schwebende Engel von Ernst Barlach im Güstrower Dom aufgehängt, zehn Jahre später, am 23. August 1937, von den Nationalsozialisten wieder entfernt - aus politischen Gründen. Heute ist er dank der Freude seines Schöpfers wieder zurück an seinem Platz.

Der schwebende Engel ist das wohl bekannteste Werk des mecklenburgischen Künstlers Ernst Barlach. Im Mai 1927 wurde der Engel im Güstrower Dom aufgehängt. Zehn Jahre später wurde er aus politischen Gründen wieder entfernt. Doch trotz des Versuchs der Nationalsozialisten, die Statue zu vernichten, hängt der "Schwebende" heute im Güstrower Dom. Sein Überdauern der NS-Verbrechen verdankt das Kunstwerk den Freunden seines Schöpfers.

Nazis finden Engel zu friedlich

Im Januar 1928 schreibt Ernst Barlach in einem Brief an seine Nichte Elisabeth Barlach: "Viele Leute schimpfen auf meine Arbeit, aber ich kann ihr Gerede vertragen und der Engel auch. Er wird noch nach hundert und mehr Jahren ruhig an seinem Platz hängen. [...] Seine Augen sind geschlossen, nichts lenkt ihn ab von seinem Erinnern." Seit acht Monaten hängt der Engel damals in der Kirche - ein Ehrenmal für Güstrower Gefallene des Ersten Weltkrieges. Doch die Plastik passt nicht in das Weltbild rechtsradikaler und völkischer Kreise. Der Engel ist ihnen nicht kämpferisch, nicht heroisch genug. Sie fordern seine Entfernung.

Barlachs Kriegsdenkmäler scheitern an Protesten

"Alle Rechtsparteien ziehen gegen mich vom Leder. […] Meine Entwürfe für ein Ehrenmal in Malchin sind dadurch zu Fall gebracht, dass man mich als Juden denunziert. Die Hetze greift polypenarmig weit im Land herum", klagt Ernst Barlach am 22. Januar 1929 in einem Brief an seinen Bruder Hans. In den 1920er-Jahren realisiert Barlach mehrere Kriegerdenkmäler - unter anderem für den Hamburger Rathausmarkt, den Magdeburger Dom, die Kieler Nikolaikirche. Andere Projekte, wie das in Malchin und auch eines in Stralsund, scheitern an rechtsradikalen Protesten. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verschlechtert sich Barlachs Situation nochmals.

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Schweriner Kirchengemeinde verteidigt Barlachs Werk

Das NSDAP-Blatt "Niederdeutscher Beobachter" zitiert Mecklenburgs Reichsstatthalter Friedrich Hildebandt im Juni 1935: "Wir haben das liberalistische Treiben eines mecklenburgischen Künstlers, der Kriegerdenkmäler in der übelsten verzerrten bolschewistischen Weise schuf, unterbunden. Und ich hoffe, dass die letzten Spuren seiner schrecklichen Werke bald von den Stätten, wo sie noch stehen, beseitigt werden, wie es ja in Magdeburg schon geschehen ist." Gemeint ist vor allem der Güstrower Engel. Doch die Kirchgemeinde und der Oberkirchenrat in Schwerin halten zunächst mehrheitlich am Engel fest. Bis zum Sommer 1937.

August 1937: Abnahme des Engels

Am 20. August 1937, kurz nachdem Hitler in München die Ausstellung "Entartete Kunst" eröffnet hat, schreibt der "Rostocker Anzeiger": "Nach der Rede des Führers […] haben die zuständigen Stellen nunmehr beschlossen, das […] Ehrenmal […] entfernen zu lassen. Die Abnahme wird in den nächsten Tagen erfolgen." Drei Tage später, am 23. August 1937, wird der Engel tatsächlich abmontiert.

Barlach befürchtet Berufsverbot

Am 3. September 1937 schreibt Barlach in einem Brief an den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt: "Erst Magdeburg, dann Kiel, Lübeck, dann Güstrow. Sämtliche Stücke in der National-Galerie sind ausgeräumt, und dabei wird es ja nicht bleiben." Der Künstler fürchtet um seine Existenz: "Ich erwartete tagtäglich einen angedrohten Bescheid, der meine künstlerische Arbeit überhaupt verbietet oder doch so beschränkt, dass die Wirkung einem Berufsverbot gleichkommt," so Barlach weiter.

Barlachs Freunde vereiteln Vernichtung

Barlachs Engel wird nach Schwerin gebracht und abwechselnd an unterschiedlichen Orten gelagert. Zuletzt in einer Garage am Kreuzgang des Schweriner Doms, bis zum 21. April 1941. An diesem Tag schreibt die Schrotthandel-Firma Sommerkamp an die NSDAP-Kreisleitung in Schwerin: "Wir bestätigen hiermit, vom Landesbischof der ev.- luth. Kirche Mecklenburg eine Bronzefigur im Gewicht von 250 kg, zum Zweck der Einschmelzung, für die Wehrwirtschaft erhalten zu haben. Heil Hitler!" Das ist die letzte Nachricht über den Verbleib des originalen Meisterwerkes. Das Glück im Unglück: Freunde Barlachs hatten zuvor einen Sicherungsguss vom Werkmodell organisiert. Versteckt im Wendland überlebt der Engel so die NS-Barbarei. Nun hängt er als Drittguss im Güstrower Dom.

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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 22.08.2023 | 19:00 Uhr

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