Die "Wilhelm Gustloff" um 1938 in einem Hafen. © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images

Die tragische Versenkung der "Wilhelm Gustloff"

Stand: 31.01.2022 09:50 Uhr

Am 30. Januar 1945 treffen drei Torpedos die völlig überfüllte "Wilhelm Gustloff". Ein Sowjet-Kommandant hatte sie für ein Kriegsschiff gehalten. Ein Irrtum, bei dem Tausende Flüchtlinge sterben.

von Stefan Preuß

Kurz nach 21 Uhr am 30. Januar 1945, rund 60 Kilometer vor der Pommerschen Küste: Der sowjetische Kommandant Alexander Marinesko nimmt in seinem U-Boot "S-13" einen gewaltigen Truppentransporter durch sein Periskop ins Fadenkreuz. Er hält das abgeblendet und in Begleitung des Torpedoboots "T-36" fahrende Schiff für ein Kriegsschiff, das eilig Soldaten aus Ostpreußen vor der Roten Armee über die Ostsee retten will. Tatsächlich handelt es sich um das Lazarett- und Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff", beim Stapellauf 1937 benannt nach dem am 4. Februar 1936 ermordeten Schweizer NSDAP-Funktionär. Die "Gustloff" war ursprünglich ein "Kraft durch Freude"-Vergnügungsdampfer der Deutschen Arbeitsfront. An Bord des Schiffs sind über 10.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder. Nur einige Hundert Passagiere sind Soldaten.

U-Boot "S-13" greift die "Wilhelm Gustloff" an

Das Passagierschiff "Wilhelm Gustloff" nach dem Stapellauf in Mai 1937. © picture alliance
Bei ihrem Stapellauf 1937 ist die "Wilhelm Gustloff" das größte Kreuzfahrtschiff der Welt.

Um 21.15 Uhr schießt Marinesko einen Torpedofächer auf die "Gustloff" ab. Schon der erste Torpedo trifft und reißt das Vorschiff backbord auf. Sofort bekommt das Schiff acht Grad Schlagseite. Der zweite Torpedo explodiert im Schwimmbad des Schiffs. Dort sind vorwiegend Marinehelferinnen untergebracht. Unter ihnen Ursula Resas, 21, und ihre jüngere Schwester Rosemarie: "Ulla, jetzt müssen wir sterben!" Doch Ursula Resas will nicht sterben, versucht das Panzerglas des Decks einzuschlagen. Ein Offizier hilft ihr dabei, schießt mehrere Male auf das Fensterglas und bringt es schließlich zum Bersten. Eine Welle spült die beiden Schwestern nach draußen. Dann verlieren sie sich aus den Augen. Der dritte Torpedo schlägt im Maschinenraum ein. Die Maschinen stoppen, das Licht fällt aus. Auf der Brücke sieht Kapitän Petersen sein Vordeck unter den Wellenbrechern des nur zwei Grad kalten Wassers der Ostsee verschwinden.

An Bord bricht Panik aus

Die Flüchtlinge auf den unteren Decks des hoffnungslos überfüllten Dampfers haben keine Chance. Über 10.000 Menschen versuchen sich gleichzeitig zu retten. Viele werden auf den Gängen zu Tode getrampelt. Die Masse schiebt, drückt und boxt sich nach oben. Dort ist das Deck bereits vollkommen überfüllt und der Kampf um die viel zu wenigen Rettungsboote voll entbrannt. Die Boote sind vereist und können nicht zu Wasser gelassen werden. Nur mit Mühe gelingt es der Besatzung, einige wenige klarzumachen. Während Frauen und Kinder zuerst in die Boote steigen, versuchen Matrosen und Soldaten, die panische Menge mit Warnschüssen aus ihren Pistolen in Schach zu halten.

Verzweifelter Überlebenskampf im eisigen Wasser

Unterdessen neigt sich die "Gustloff" immer mehr zur Seite. Viele Flüchtlinge rutschen über die vereisten Deckplanken ins Wasser. Andere springen von der Bordkante zwölf Meter tief ins Wasser und klammern sich an die brechend vollen Rettungsboote. Mit Rudern schlagen die Insassen ihnen auf die Finger, bis sie endlich loslassen. Im eisigen Wasser der Ostsee gibt es keine Überlebenschance. Nach wenigen Minuten erfrieren die meisten Menschen.

Zeitzeugen-Berichte
Heinz Schön steht auf dem Nachbau der Brücke der 'MS Wilhelm Gustloff'. © picture-alliance/ dpa Foto: Oliver Berg

Wie sich Überlebende erinnert haben

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"T-36" rettet Überlebende

Das Torpedoboot "T-36" eilt sofort zu Hilfe und rettet so viele Menschen wie möglich. Am Ende sind es mehr als 500. Mit Scheinwerfern sucht die Mannschaft die aufgewühlte Oberfläche der Ostsee ab. Doch für viele kommt jede Hilfe zu spät. Ursula Resas und ihre Schwester Rosemarie haben Glück. Wie durch ein Wunder finden sie sich an Bord des Torpedobootes wieder. Plötzlich dreht "T-36" ab, gibt Vollgas. Durch den Ruck fallen einige der Geretteten wieder über Bord. Nur knapp verfehlen zwei Torpedos, die das sowjetische U-Boot abgefeuert hat, ihr Ziel. Robert Hering, Kommandant von "T-36", lässt sofort Wasserbomben werfen und beschädigt das U-Boot schwer.

Versenkung der "Gustloff" kein Kriegsverbrechen

Rund 1.200 Menschen können beim größten Schiffsunglück aller Zeiten gerettet werden, doch mehr als 9.000 finden den Tod - sechsmal so viele wie beim Untergang der "Titanic". Die Versenkung der "Gustloff" ist nach Meinung von Experten kein Kriegsverbrechen. Das Schiff hatte Soldaten an Bord, war mit Flak ausgestattet und fuhr abgeblendet unter Geleitschutz. Alexander Marinesko habe nur seine Pflicht getan, so der 2019 verstorbene Hamburger Historiker Axel Schildt in einem früheren Interview mit dem NDR: "Die Bombardierung und Versenkung von zivilen Schiffen im Krieg ist eine Maßnahme, die auch von deutscher Seite von Anfang an vorgekommen ist. Das heißt, die deutschen U-Boot-Besatzungen hatten den ausdrücklichen Befehl, keine Schiffbrüchigen von Handelsschiffen aufzunehmen, die sie versenkt haben."

Menschen bestaunen 1938 das Schiff "Wilhelm Gustloff". © NDR/Gustloff-Archiv, Heinz Schön
AUDIO: Der Untergang der "Wilhelm Gustloff" (15 Min)

Schildt verwies darauf, dass die Katastrophe unmittelbar im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu bewerten sei: "Das ist kein Terrorschlag 'out of the blue' gewesen, sondern die Folge eines Krieges. Der Krieg ist von Deutschland ausgegangen. Deutschland hat Europa mit Krieg, mit Mord überzogen und der Krieg ist zurückgekehrt. Dass bei der Rückkehr des Krieges Unschuldige zu beklagen sind, das ist völlig klar. Aber wer die Vorgeschichte ausklammert, in der dies passierte, der handelt zumindest ziemlich fahrlässig, weil er ein bestimmtes Szenario suggeriert, das mit der Geschichte nichts zu tun hat."

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 31.01.2021 | 19:30 Uhr

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