Der am 21. Juli 1902 gesunkene Ausflugsdampfer "Primus" nach seiner Bergung. © Gemeinfrei/ Creative Commons CC0 License Foto: Hans Breuer

Untergang der "Primus" bei Hamburg fordert 101 Todesopfer

Stand: 21.07.2022 11:20 Uhr

Für 101 Passagiere endet ihr Ausflug mit dem Raddampfer "Primus" am 21. Juli 1902 tödlich. Ein Unglück, das zu den größten auf der Elbe gehört. Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der Hamburger sind damals riesig.

von Dirk Hempel

Der Vollmond steht hell über der Elbe, als der Raddampfer "Primus" in der Nacht zum 21. Juli 1902 mit rund 200 Menschen an Bord in Richtung Hamburger Landungsbrücken fährt. Die Mitglieder des Männergesangvereins "Treue von 1887" und ihre Familien befinden sich auf dem Rückweg von ihrem Sommerausflug. Am Morgen sind sie in Eilbek aufgebrochen und mit drei Sonderwagen der Straßenbahn zum Anleger nach St. Pauli gefahren.

Ausflug mit dem Raddampfer ist für viele etwas Besonderes

Eine Bronzeplatte mit dem Namen Henny Wrage, Todesopfer des "Primus"-Schiffsunglücks auf der Elbe am 21. Juli 1902. © NDR Foto: Dirk Hempel
Bronzeplatten auf dem Friedhof Ohlsdorf erinnern an die Ertrunkenen. Ein Relief zeigt die "Primus" und die "Hansa" vor dem Zusammenstoß.

Von dort hat sie die "Primus" nach Cranz an der Este gebracht, wo sie den Sonntag in einem Tanzlokal verbracht haben. Die Männer sind vor allem Arbeiter, Handwerker, auch Zigarrenhändler und Gastwirte - sogenannte "kleine Leute", wie die Zeitungen später berichten werden. Für viele ist es die einzige Unternehmung im Jahr, die sie sich leisten können.

Die Kirchenglocken im nahen Blankenese schlagen eben Mitternacht, als der erfahrene Schiffsführer Johannes Peters die "Primus" auf die nördliche Seite des Fahrwassers steuert, obwohl diese Seite eigentlich den elbabwärts fahrenden Schiffen vorbehalten ist. Aber hier, dicht am Ufer, kommt er mit seinem alten 1839 in England gebauten Dampfer leichter gegen den ablaufenden Strom voran. So halten es für gewöhnlich alle Kapitäne auf der Elbe. Und schließlich: Der Strom ist breit, die Sicht gut. Was soll schon passieren mitten in der Nacht?

An Bord der "Primus" wird in der Nacht noch gefeiert

Der Raddampfer "Primus" auf einer Ausflugsfahrt. © Gemeinfrei/ Creative Commons CC0 License Foto: Atelier Schaul
Die Stimmung auf der "Primus" ist ausgelassen in der Unglücksnacht - hier ein Bild des Schiffes von einer anderen Fahrt.

Die Stimmung an Bord von Hamburgs erstem Stahlschiff mit Dampfantrieb ist ausgelassen. Die Ausflügler sitzen in Gruppen zusammen und plaudern. Sie lassen den Tag Revue passieren. Hier und da werden noch einmal Lieder angestimmt. Einige haben sich unter Deck zurückgezogen. Jetzt wird Bengalisches Feuer abgebrannt, und die Kapelle spielt fröhliche Musik, die sogar noch auf der Elbchaussee zu hören ist, wie ein Zeuge später vor dem Seeamt aussagen wird.

Der Schiffsführer wagt ein riskantes Manöver

Plötzlich, kurz vor Nienstedten, legt Peters die "Primus" quer zum Strom und steuert den dortigen Anleger an. Doch dabei übersieht er den etwa 150 Meter entfernten und mit zwölf Knoten rasch entgegenkommenden Hapag-Dampfer "Hansa", obwohl der Positionslaternen gesetzt hat. Der 500 PS starke Seeschlepper ist auf dem Weg nach Stade, wo er zwei Schuten abholen soll.

Vielleicht ist das Bengalische Licht zu hell oder die Musik an Bord der "Primus" zu laut, sodass Schiffer Peters die Signale nicht hört, die die "Hansa" abgibt? Vor dem Seeamt wird er zehn Tage später jedenfalls aussagen, er sei "gänzlich nüchtern" gewesen.

"Verdammt, datt geiht nich klor!"

Durch dieses Manöver läuft die "Primus" dem Schlepper genau vor den Bug. "Verdammt, datt geiht nich klor!", rufen "Hansa"-Kapitän Sachs und sein Steuermann zu gleicher Zeit, so erinnern sie sich später vor Gericht. Vielleicht auch: "Verdammt, der Kerl gibt falsches Ruder", so will es jedenfalls ein Passagier gehört haben. Kapitän Sachs befiehlt noch "volle Kraft rückwärts", aber die Kollision kann er nicht mehr verhindern.

Kurz nach Mitternacht kommt es zur Katastrophe

Mit ungeheurem Krachen rammt die "Hansa" mit ihrem Vordersteven den Ausflugdampfer in Höhe des Radkastens und reißt ein zwei Meter tiefes Loch in die Bordwand. Die Schiffe verkeilen sich ineinander. Holz splittert, eine Feuersäule steigt auf, Rauch und Dampf hüllen die "Primus" ein. Das Unterdeck läuft rasch voll, die meisten Passagiere, die sich in den Kabinen befinden, ertrinken. Panik bricht aus. Menschen schreien, werden über Bord gespült, versinken in den Fluten.

Der Untergang der "Priumus" dauert nur wenige Minuten

Kapitän Sachs versucht noch, die "Primus" mit seinem Schlepper an das nahe Ufer zu schieben, muss aber bald aufgeben, um im seichten Fahrwasser nicht auf Grund zu geraten. Während dieses Manövers klettern Dutzende Passagiere auf die "Hansa" hinüber und bringen sich in Sicherheit. Doch nach wenigen Minuten löst sich die "Primus" von der "Hansa" und treibt mit der Strömung rasch davon. Rund 100 Meter flussabwärts versinkt sie in der Elbe, nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt. 13 Minuten nach Mitternacht zeigt die silberne Uhr einer Frau, deren Leiche am nächsten Tag am Strand bei Neumühlen gefunden wird.

Überall treiben Menschen, rufen verzweifelt um Hilfe, klammern sich an schwimmende Gegenstände, die vom Deck der "Primus" stammen. Ein Musiker der Bordkapelle gibt im Wasser Alarmsignale mit seiner Trompete, um nahe Schiffe herbeizurufen.

Der junge Retter Emil Eberhardt ertrinkt selbst

Gedenkstein an der Elbe bei Nienstedten in Gedenken an die Opfer des "Primus"-Schiffsunglücks auf der Elbe am 21. Juli 1902. © NDR Foto: Dirk Hempel
An der Elbe bei Nienstedten erinnert ein Gedenkstein an den Untergang der "Primus" und den mutigen Rettungseinsatz des Kellners Emil Eberhardt - ja nach Quelle mal mit "d", mal mit "dt" geschrieben.

Die Passagierdampfer "Delphin" und "Hammonia" beteiligen sich an der Rettung. Einige Mutige schwimmen immer wieder vom Ufer hinaus, etwa der 19-jährige Kellner Emil Eberhardt, der fünf Frauen rettet und dann bei dem Versuch, Kinder aus dem Wasser zu holen, selbst ertrinkt. Die "Hansa" setzt Beiboote aus, die Mannschaft hält Taue und Jakobsleitern über Bord, rettet so Dutzende Eilbeker. Viele Tote aber hat die Strömung davongetragen. An Bord der "Hansa" kommt es unter den Geretteten zu Tumulten: Einige halten Kapitän Sachs für den Verursacher des Unglücks. Ein Mann beschimpft ihn sogar als "Mörder" und greift ihn mit gezücktem Messer an.

In Eilbek verzweifeln Angehörige der "Primus"-Passagiere

Die drei Straßenbahnwagen bringen in den frühen Morgenstunden nur wenige Überlebende nach Eilbek zurück. Dort hat sich die Kunde von dem Unglück schon verbreitet. Vor allem Frauen und Kinder warten angsterfüllt auf Nachrichten. Menschen stehen in Gruppen zusammen, spenden den Betroffenen Trost und bieten Unterstützung an. Ganze Familien sind ums Leben gekommen. In der Kantstraße irren an diesem Vormittag fünf Kinder umher, deren Eltern vermisst werden. Nachbarn nehmen sie auf.

Große Anteilnahme im ganzen Land

Das Schicksal der Verunglückten und Überlebenden bewegt die Menschen an der Elbe und im gesamten Deutschen Reich. Tagelang melden die Zeitungen Einzelheiten des Unfallhergangs, veröffentlichen Zeugenberichte, Listen von Geretteten, Vermissten und Ertrunkenen. Findige Verlage drucken Extrablätter, Gedichte, Lieder, sogar Skizzen der Kollision. Auch Kaiser Wilhelm II., seine Frau Auguste Viktoria und Reichskanzler Bernhard von Bülow erkundigen sich in Telegrammen nach den Hilfsmaßnahmen.

Spendenbereitschaft über alle sozialen Grenzen hinweg

Die Unterstützung der Hinterbliebenen ist überwältigend. Schon am Morgen nach der Katastrophe sammeln Passagiere auf der Fähre von Blankenese nach Hamburg spontan 31 Mark, als sie von dem Unglück erfahren. Einen Tag später gründen Hamburger Bürger den Hilfsausschuss für die "Primus"-Katastrophe und rufen über alle politischen und sozialen Grenzen hinweg zu Spenden auf. Die Hapag, der die "Hansa" gehört, beteiligt sich mit 5.000 Mark. Schon innerhalb einer Woche kommen 50.000 Mark zusammen. Auch Zeitungen und Vereine veranstalten Sammlungen und Wohltätigkeitskonzerte. Der Zirkus Busch spendet die Einnahmen mehrerer Vorstellungen.

Flaggen auf halbmast: Zehntausende kommen zur Trauerfeier

Grabanlagge auf dem Friedhof Ohlsdorf für die Opfer des "Primus"-Schiffsunglücks auf der Elbe am 21. Juli 1902. © NDR Foto: Dirk Hempel
In der Grabanlage auf dem Friedhof Ohlsdorf sind 78 Opfer des "Primus"-Untergangs bestattet. Die Anlage gestaltete Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes im Jahr 1904, die Christus-Figur schuf der Braunschweiger Bildhauer Carl Friedrich Echtermeier.

Tage nach dem Unglück werden noch immer Ertrunkene angetrieben oder von Suchbooten aus dem Wasser geborgen. Insgesamt sind bei diesem Unglück, das zu den größten auf der Elbe gehört, 101 Menschen ums Leben gekommen. Die meisten von ihnen werden in einer gemeinsamen Grabanlage bestattet. Mehrere zehntausend Menschen säumen die Straßen, als sich der Trauerzug zum Friedhof Ohlsdorf bewegt. Zum Teil schwenken sie Fahnen der SPD, der viele der Ertrunkenen angehört haben. Berittene Polizei hält die Menge zurück. Bürgermeister Johann Heinrich Burchard zieht den Hut, als die Särge an ihm vorüberrollen. Bei der Trauerfeier spricht neben dem Eilbeker Pastor auch der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Frohme. Angesichts des Todes schwinde der politische, religiöse und soziale Unterschied, der die Menschen sonst trenne, sagt er in seiner Rede. Im Hafen werden die Flaggen auf halbmast gesenkt.

Zehn Tage nach dem Unglück spricht das Seeamt Schiffsführer Peters von der "Primus" die Hauptschuld an dem Unglück zu. Das Hilfskomitee sammelt bis Oktober Spenden in Höhe von 267.000 Mark und kümmert sich um die Unterbringung der Waisen. Noch jahrelang sorgt es für die Hinterbliebenen.

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