Totgesagtes Opfer der DDR-Grenze lebt
Eigentlich ist René Seiptius seit 31 Jahren tot. So steht es auf der bis heute maßgeblichen Liste zu den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze. Demnach ist er im Alter von 17 Jahren bei einem Fluchtversuch im Harz mit seinem gleichaltrigen Freund André Bauer ums Leben gekommen - durch eine an der Grenze montierte Selbstschussanlage der DDR. Aber nach Informationen von NDR.de lebt Seiptius, sein Name auf der Liste ist ein Irrtum. René Seiptius ist heute 48 Jahre alt, er wohnt in Ingelheim in der Nähe von Mainz.
"Wir wollten einfach abhauen"
An seinen Fluchtversuch am 7. August 1981 erinnert er sich noch genau. Mit zwei Freunden fuhr er aus Leipzig, wo sie aufwuchsen, in den Harz. Sie waren 17 Jahre alt. Nahe dem Dorf Elend wollten sie die DDR-Grenzanlage in einem Waldstück überwinden. Auf der westdeutschen Seite liegt - nur wenige Hundert Meter entfernt - Braunlage. "Es war nichts Politisches, wir hatten als Jugendliche ja keinen Durchblick. Wir wollten einfach abhauen", erzählte Seiptius im Gespräch mit NDR.de. "Wir haben einfach auf die Landkarte geschaut und sind los."
Mit einem Bein im Westen
Mitten in der Nacht seien sie dann in den Wald gelaufen. Den ersten Zaun konnten sie überwinden, auch durch das Minenfeld schafften sie es noch. Beim zweiten Zaun lösten sie allerdings eine Selbstschussanlage aus. "Mein Freund André Bauer stand noch unten, weil er uns geholfen hat, über den Zaun zu klettern. Als die Selbstschussanlage losging, saß ich oben auf dem Zaun, mit einem Bein war ich schon drüben", erzählt Seiptius. Die Metallsplitter hätten ihn am rechten Bein erwischt, André Bauer wurde im Gesicht getroffen. Wenige Minuten später tauchten DDR-Grenzsoldaten auf. Sie befahlen dem Trio zurückzukehren. Die Flucht war gescheitert. Seiptius und sein unverletzter Freund mussten den schwer verwundeten André Bauer durch das Minenfeld zwischen den Zäunen zurücktragen. Bauer starb kurz darauf, Seiptius und der Dritte werden gefangen genommen.
Junge Krankenhaus-Schwester war sein Glück
Seiptius wurde zunächst in ein Gefängnis-Krankenhaus nach Berlin gebracht. Dort verbrachte er zwei Monate. "Eigentlich wollten die Ärzte mein rechtes Bein amputieren, aber eine junge Schwester meinte, ich sei noch so jung, also ließen sie es dran", erzählt Seiptius. Dies hat er aber erst viel später erfahren, als er in den 90er-Jahren seine Stasi-Akten einsah. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus musste er noch einen Monat in U-Haft in Leipzig verbringen. Dann kam er frei, verurteilt wurde er nicht. Warum, ist ihm bis heute ein Rätsel.
In seiner Familie stieß der Fluchtversuch auf Unverständnis. Seine Mutter war Lehrerin und überzeugte Kommunistin. "Sie war nicht gerade hellauf begeistert", sagt Seiptius heute. Er habe es dann noch öfter versucht, in den Westen zu fliehen. Mal über die Tschechoslowakei, mal über Ungarn. Aber alle Versuche schlugen fehl. 1988 reiste er schließlich auf offiziellem Weg aus. Er heiratete eine Westdeutsche und ließ sich in Ingelheim nieder.
Karte: Die Gegend des Fluchtversuches im Harz
- Teil 1: "Wir wollten einfach abhauen"
- Teil 2: Warum landete Seiptius auf der Opfer-Liste?