Sturmflut 1962: "Warum habe ich Opa in der Laube gelassen?"
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 löst ein Orkan eine gewaltige Sturmflut in Hamburg aus. Postbote Johannes Tönnies rettet seine Großmutter aus ihrem Haus in Waltershof. Doch sein Opa stirbt wenig später im Krankenhaus.
Es ist der Abend des 16. Februar 1962: Postbote Johannes Tönnies hat Spätdienst bis 21 Uhr. Auf seiner Dienststelle in Finkenwerder geht noch ein letztes Telegramm ein - er stellt fest, dass "der Empfänger bei uns im Mühlenwerder Grund ist", auf der Elbinsel Waltershof. Da der 23-Jährige in der Nähe wohnt, nimmt er den Eilzustellwagen - mit dem Hintergedanken: "Dann stellst du abends das Telegramm zu, stellst den Wagen bei der Wohnung ab und kannst damit am nächsten Tag wieder zur Arbeit fahren", erzählt Johannes Tönnies in der TV-Dokumentation "Die Sturmflut 1962". Eine glückliche Entscheidung, wie sich später herausstellt.
Rugenberger Damm: "Oma und Opa saufen ab!"
Als Tönnies sich schlafen legt, ahnt er noch nichts von der gewaltigen Flutwelle, die sich auf Hamburg zubewegt. Doch dann geht plötzlich alles ganz schnell - um 23 Uhr wird er von seinem Vater geweckt: "Oma und Opa saufen ab!" Sofort steigt der Postbote in das Dienstauto und fährt zum Haus der Großeltern am Rugenberger Damm, in dem schon das Wasser steht. "Oma und Opa saßen mit Stühlen auf ihren Tischen - in der Küche und in der Stube", erinnert sich Tönnies. Er habe den Fernseher auf den Küchenschrank gestellt und seine Oma unter den Arm gepackt. "Die war nun wirklich eine korpulente Frau." Er setzt sie ins Auto. Dann kommt die Feuerwehr aufs Grundstück. "Mein Opa ist da hinten drin. Den müssen wir noch rausholen!", ruft Tönnis den Rettern noch zu - und fährt seine Großmutter in Sicherheit.
Sturmflut zerstört Lauben in Waltershof und Wilhelmsburg
Nach Mitternacht beginnen im Süderelbe-Gebiet die Deiche im Minutentakt zu brechen. Allein bei Hamburg-Neuenfelde bricht der Schutzwall auf einer Länge von 600 Metern. Wassermassen fluten ungebremst in die Vororte. Wilhelmsburg und Waltershof, beide tiefer gelegen, werden überschwemmt, viele Menschen von der Flut im Schlaf überrascht. Keines der Gebiete wurde evakuiert, es herrscht Land unter. Der Zugang zu den Deichen ist versperrt. 4.100 Menschen leben damals in Waltershof. Wie das Haus der Großeltern von Johannes Tönnies werden durch die Kraft des Wassers in dieser Nacht in Waltershof und Wilhelmsburg unzählige Häuser zerstört. Die Lauben und Behelfshäuser in den Kleingartenkolonien, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Ausgebombte und Kriegsvertriebene leben, stürzen nach und nach wie Kartenhäuser in sich zusammen.
"Es war keiner da, der Alarm geben konnte"
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, auch weil es in Waltershof in den 60ern keine Sirenen gibt. Die letzte Nachrichtensendung läuft um 22 Uhr, Böller sind im Sturm auch nicht zu hören. Telefon- und Stromleitungen sind wegen des starken Sturms beschädigt. Am Petroleumhafen habe es eine Station gegeben, die Alarm schlagen sollte, wenn Wasser kommt, schildert Tönnies die damaligen Gegebenheiten vor Ort. "Diese Station war defekt." Und - anders als an der Nordsee - habe es keinen Deichvogt gegeben. "Es war keiner da, der Alarm geben konnte."
Menschen retten sich vor dem Wasser auf Dächer
Johannes Tönnies selbst bleibt weitgehend verschont, er lebt mit seiner Frau in einem zehn Meter höher gelegenen Teil des Elbdorfes. In seinem Haus steht das Wasser lediglich 15 Zentimeter hoch. Aber er erlebt, wie Menschen von den Fluten mitgerissen werden. "Die Leute haben geschrien", erinnert sich Johannes Tönnies. "Die haben auf den Dächern gesessen." Der Postbote will helfen. Als er eine Frau auf einem Dach sitzend an sich vorbei schwimmen sieht, holt er sie zusammen mit zwei Freunden mithilfe eines Tampens ans Ufer.
44 Tote in Waltershof: "Die Schreie noch immer in den Ohren"
Am Morgen des 17. Februar wird das ganze Ausmaß der Flutkatastrophe deutlich - ein Sechstel des Hamburger Stadtgebiets steht unter Wasser, an 60 Stellen sind die Deiche gebrochen. Die Verkehrswege in Richtung Süden sind unpassierbar. Am schlimmsten betroffen sind Wilhelmsburg und Tönnies' Heimat Waltershof. Am Mühlenwerder Grund spielen sich Tragödien ab: Kinder ertrinken, Menschen erfrieren bei Temperaturen um die null Grad auf Dächern und Bäumen. Der Postbote kennt die meisten Opfer. Noch heute bewegen den 82-Jährigen die Ereignisse von vor 60 Jahren: Die Schreie habe er noch immer in den Ohren, so Tönnies. Insgesamt sterben in Hamburg 315 Menschen durch die Sturmflut, davon 215 in Wilhelmsburg und 44 in Waltershof.
Tönnies Großvater stirbt infolge der Unterkühlung
Der Großvater von Johannes Tönnies kommt zunächst bei einer Verwandten im Stadtteil Iserbrook unter, "allerdings unterkühlt." Also wird er schließlich ins Krankenhaus in Rissen eingeliefert. In Folge seiner Unterkühlung hat er sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen - kurz darauf stirbt er.
Suche nach Angehörigen: Telegramme zustellen im Chaos
20.000 Menschen müssen die überschwemmten Gebiete für längere Zeit verlassen, Hunderte verlieren ihr Zuhause für immer. Viele Betroffene vermissen damals Angehörige, die Überlebenden hoffen auf ein Lebenszeichen von Familienmitgliedern und Freunden. Da die meisten Telefonverbindungen ausgefallen sind, gehen viele Nachfragen bei der Post ein: "Telegramme noch mit den alten Anschriften, die gar nicht mehr existierten, mit Nachfragen: "Was ist mit euch passiert?'", schildert Johannes Tönnies die Gemengelage. Er habe den Vorteil gehabt, dass er viele kannte. Der Postbote macht sich auf die Suche nach den Empfängern. "Obwohl die Lauben gar nicht mehr standen, konnte ich noch vieles zustellen", so Johannes Tönnies weiter.
Zerstörte Kleingartenkolonien weichen Industrieanlagen
Im Flutgebiet trauern die Menschen um Angehörige, um ihre Häuser und um ihre Heimat. Das Wasser geht nur langsam zurück. Die Lauben in Wilhelmsburg und Waltershof sind nicht zu retten. Die restlichen Trümmer werden nach der Flut verbrannt, so auch die zerstörten Lauben von Tönnies' Eltern und Großeltern: "Und dann kam ein Bagger, der dieses Becken mit Sand aufgespült hat." Wo heute Industrieanlagen stehen, steht das Wasser damals in den Kleingartenkolonien meterhoch. Wenn Johannes Tönnies an der Stelle vorbeifährt, an der sein altes Zuhause stand, erinnert ihn eine graue Halle unterhalb der Köhlbrandbrücke wie ein Mahnmal daran. "Die steht genau da, wo wir mal gewohnt haben."
Den Großvater zurückgelassen - Gewissenskonflikt bis heute
Die Menschen verlieren durch die Flut nicht nur ihre Heimat. Die Hinterbliebenen der Opfer werden das Geschehene lange nicht vergessen - manche nie. Zu ihnen gehört auch Johannes Tönnies, der sich Vorwürfe macht: "Ich frage mich immer noch: Warum habe ich Opa eigentlich in der Laube sitzen lassen? Die Feuerwehr habe ihn ja dann geholt, aber warum habe ich Opa denn nicht gleich mitgenommen? Oma war korpulent - die hätte es allein durchs Wasser nicht geschafft, deshalb habe ich sie getragen. Opa war ein Schmächtiger. Dem hätte ich sagen können: Komm mit. Habe ich nicht. Kurzschluss."
Gedenkstein erinnert an die Waltershofer Flutopfer
Heute erinnert ein Findling am Seemannsclub Duckdalben in Hamburg-Harburg an die Waltershofer Flutopfer. Um nicht zu vergessen - und um zu warnen. Johannes Tönnies hat für diesen Gedenkstein eigens private Spenden gesammelt. Und er bleibt Mahner: Es müsse unbedingt ein umfangreiches Warnsystem aufgebaut werden. "Wir müssen gewappnet sein, dass so etwas nicht wieder passiert", betont der 82-Jährige. Mittlerweile gibt es an der Küste und in den Städten zwar einen besseren Katastrophenschutz, aus Sicht der Flutopfer von damals ist er allerdings noch nicht ausreichend modernisiert. Auch würden in Städten wie Hamburg durch zu viel Bebauung Überflutungsgebiete und Rückhaltebecken fehlen. Durch den Anstieg des Meeresspiegels wiederum müssen die Deiche stetig erhöht werden, um neue Katastrophen zu verhindern. Denn für die Überlebenden bringt jede neue Flut die Erinnerung von 1962 zurück.