Mit Flaggen für eine freie Insel
1950 setzen der Heidelberger Student René Leudesdorff und sein Kommilitone Georg von Hatzfeld ein Zeichen gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und für die Rückgabe Helgolands. Am 20. Dezember setzen sie auf die Insel über und "besetzen" sie in einer friedlichen Protestaktion. In einem Gastbeitrag hat Leudesdorff sich 2011 erinnert.
Wir fuhren so gegen zehn, halb elf los. Wir waren kaum aus dem Hafen raus, da ging das Schaukeln schon los. Wir hatten Windstärke sechs und die "Paula", unser Schiff, war ja höchstens zehn Meter lang, eine Nussschale auf den Wellen. Die Temperaturen waren ständig um Null. Und mit dem Wind zusammen war die gefühlte Temperatur noch erheblich niedriger. Wir sehnten uns danach, in der Ferne endlich die Insel sehen zu können. Als sie dann aus dem Dunst auftauchte, kam uns diese wie ein liegender Frauenkörper vor, in den Formen, aber eben tot.
Auf der Insel: Trümmer und Trichter ohne Ende, Geröll, Gerümpel, Gestänge. Es war das Chaos. Hatzfeld sagte, so sehe es am Tag nach dem Weltende aus. Ich sagte, das sei Verdun und Stalingrad in einem. Wir haben versucht zum Flakturm raufzukommen, um die Flaggen zu hissen. Es war eine unendliche Kletterei, es war auch Schnee da, manchmal auch Eis, und immerhin auch 45 Grad Gefälle auf dem Geröll des Sprengtrichters. Die gelegentlich herumliegenden Bombenblindgänger haben wir zunächst gar nicht wahrgenommen.
Wir setzten auf den Sportsgeist der Briten
Wir mussten damit rechnen, dass wir bombardiert werden. Aber wir haben eigentlich auf den Sportsgeist der Briten gesetzt, dass sie friedlich Demonstrierende nicht unter Beschuss oder unter Bombardement nehmen würden. Als wir mal Flugzeuggeräusche hörten - Hatzfeld war gerade unten an der Pier, um eine weitere Europaflagge anzubringen - da habe ich mich dann in den Keller des Flakturms, zwei Geschosse tief in der Erde, verkrochen. Ich habe mir gesagt, es gilt die alte Soldatenregel: Lieber für fünf Minuten feige als fürs ganze Leben tot.
Die kälteste Nacht meines Lebens
Wir waren von der letzten Nacht, die wir durchgehend gewacht haben, hundemüde. Aber wir konnten überhaupt nicht schlafen. Es war so kalt, es war die kälteste Nacht meines Lebens. Wir haben so gefroren, dass ich dann in der zweiten Nacht die Idee hatte, dass ja Flaggentücher auch aus Stoff sind, so dass wir dann zusätzlich zu der einen Decke, die jeder mithatte, uns in Flaggen gehüllt haben. Und ich kam mir dann beim Einschlafen vor, als läge ich auf einem Katafalk (Totenbahre, Anm. der Red.) als bereits Toter, in die Bundesflagge eingewickelt.
Wir hätten uns natürlich von den Briten abtransportieren lassen. Insgeheim wären wir ganz froh gewesen, wieder von diesem unwirtlichen Ort weg zu sein. Und wir hofften, dass wir dann vor Gericht gestellt würden, um uns entsprechend verteidigen zu können. Dafür hatte ich mich sehr stark völkerrechtlich kundig gemacht und vorbereitet. Dann hätten wir diese Gerichtsverhandlung weiterhin zum Forum gemacht und die weitere Öffentlichkeit genutzt.
Wir kommen wieder - ein Schild kündigt die Rückkehr an
Dann sagte uns der Fischerboot-Kapitän, es sei für die nächsten Tage so schlechtes Wetter angesagt, dass wir hier möglicherweise auf der Insel ohne Verbindung zum Festland bleiben müssten. Das war uns zu riskant. Wir wollten ja nicht unbedingt unser Leben riskieren. Wir haben unsere Sachen gepackt und sind wieder mit zurückgefahren. Auf der Insel haben wir ein großes Schild hinterlassen, auf dem stand 'Wir kommen wieder'. Und wir hatten auch die feste Absicht, uns besser auszurüsten und zurückzukommen.
In den beiden Wochen danach gaben wir Interviews über Interviews. Wir haben der Presse dann natürlich vor allem unsere Ziele genannt, also erstens, dass wir uns gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands stellten, auf beiden Seiten (Bundesrepublik und DDR, Anm. d. Red.). Zweitens, dass wir für das Ende des Bombardements eintreten, und drittens, dass wir für die Rückkehr der Helgoländer demonstrieren. Das waren unsere Hauptziele. Insgesamt hatte man den Eindruck, dass die Helgoländer richtig aufatmeten, dass ihre Sache nicht nur wie bisher mit den britischen Behörden oder auf politischen Kanälen erfolglos verhandelt wird, sondern dass es jetzt wirklich eine breite Öffentlichkeit interessiert und ein gewisser öffentlicher Druck entsteht. Das hat uns doch sehr gefreut.
Die Aktion von René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld ging durch die Weltpresse und brachte die Verhandlungen, die zur Rückgabe Heloglands führten, ins Rollen. René Leudesdorff wurde Pfarrer und Journalist, er starb im Juni 2012. Hatzfeld arbeitete als Politiker und Verleger, er starb 2000.