VIDEO: Urteilsverkündung im Hamburger NS-Prozess um Rigaer Ghetto (23.02.1973) (1 Min)

NS-Verbrecher vor Gericht: Die "Räumung" des Rigaer Ghettos

Stand: 05.10.2022 17:20 Uhr

1941 lässt SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln mindestens 25.000 lettische Juden aus dem Rigaer Ghetto töten. Bei dem Massaker im Wald von Rumbula hat er mehr als 1.000 Helfer. Vier stehen ab dem 2. Oktober 1972 in Hamburg vor Gericht.

von Yasmin Sibus

Acht Kilometer südöstlich der lettischen Hauptstadt Riga entdeckt Friedrich Jeckeln im November 1941 ein hügeliges, licht bewachsenes Waldstück. Das Gebiet nahe der Bahnstation Rumbula scheint dem Höheren SS- und Polizeiführer Russland-Nord und Ostland ein geeigneter Exekutionsort für Zigtausende lettische Juden aus dem Rigaer Ghetto zu sein.

Massaker von Rumbula: Platz für deutsche Juden

Der Befehl zur "Liquidation" war von Heinrich Himmler gekommen, dem Reichsführer SS und Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Ziel der "Aktion": Es soll Platz für deutsche Juden geschaffen werden. Den Ablauf plant Jeckeln präzise und skizziert ihn handschriftlich für Vorbesprechungen mit den Führern von Sicherheits- und Ordnungspolizei sowie lettischen Polizeiverbänden. Am 31. November werden nach seinen Vorgaben rund 15.000 Juden getötet, am 8. Dezember mindestens 10.000 weitere. Mehr als 1.000 Schergen sind an den Exekutionen beteiligt, holen die Opfer aus ihren Häusern, sperren die Transporte ab und schießen im Wechsel ihre Magazine leer. Doch nur wenige müssen sich später dafür verantworten.

Jeckeln wird hingerichtet - viele andere entkommen zunächst

Reichskommissar Ostland Hinrich Lohse kommt im Februar 1944 am Bahnhof von Riga an. © Creative Commons License / CC-BY-SA 3.0 Foto: unbekannt
SS-Kommandeur Friedrich Jeckeln (zweiter von rechts) und Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse (rechts), - hier 1944 am Bahnhof von Riga - waren Hauptverantwortliche für die Massenmorde in Riga.

Jeckeln wird nach Ende des Zweiten Weltkriegs von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet - wegen Zehntausender Morde an jüdischen Menschen in Kamenez-Podolsk und Babyn Jar in der Ukraine sowie in Rumbula. Viele weitere Verantwortliche und Mitwirkende hingegen kehren nach Deutschland und in ihre alten Berufe zurück. Ihre Beteiligung an den Massakern bleibt lange unbeachtet.

Systematisch werden NS-Straftaten an der Zivilbevölkerung im Ausland beziehungsweise an ausländischen Zivilisten erst ab 1958 mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen aufgearbeitet. Angesichts des wenigen Personals von anfangs gerade einmal zehn Staatsanwälten dauert das jedoch. Die meisten Prozesse, die auf Vorrecherchen der Behörde beruhen, werden in der Bundesrepublik Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre verhandelt.

Prozessauftakt in Hamburg: Judenhass und sichtlicher Stolz

Am 2. Oktober 1972 beginnt am Landgericht Hamburg die Verhandlung gegen vier Beteiligte des Massakers von Rumbula. Zeitgleich laufen an dem Gericht drei weitere Prozesse wegen NS-Verbrechen. Im Fall Rumbula sind die Angeklagten:

  • der frühere Polizeihauptwachmeister Otto Tuchel aus Lensahn in Ostholstein wegen Mordes
  • der ehemalige Revierhauptmann Friedrich Jahnke aus Hamburg wegen Beihilfe zum Mord
  • der einstige Polizeimeister Max Neumann aus Hildesheim wegen Beihilfe zum Mord
  • und Emil Diedrich, einst Hauptmann der Schutzpolizei und Hauptsturmführer in der Leibstandarte SS Adolf Hitler, wegen Beihilfe zum Mord.

"Ihre Erinnerung war präzise, fast auf den Tag genau und von unverhohlenem Stolz getragen", schildert ein Redakteur des "Hamburger Abendblatts" damals seine Eindrücke vom ersten Prozesstag. Die Tageszeitung "Die Welt" beschreibt Jahnke angesichts seiner 77 Lebensjahre als "erstaunlich rüstig" und die 55 bis 61 Jahre alten Mitangeklagten trotz der schweren Vorwürfe als "keineswegs gebrochen". Dennoch weinen Tuchel und Diedrich den Medienberichten zufolge, als sie ihre Biografien vortragen - vor allem, wenn es um deren Werdegang nach dem Krieg geht.

Der Hauptangeklagte Tuchel etwa wurde 1948 wegen "Hetzjagden" auf Sowjetbürger bereits von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt - jedoch 1955 vorzeitig entlassen. Danach kehrte er nach Deutschland und in den Polizeidienst zurück. Inzwischen ist er arbeitslos. Die später am Landgericht verlesene Anklageschrift zeichnet das Bild eines Judenhassers. Seinen Kameraden war er demnach "wegen seiner Grausamkeit gegenüber Juden" aufgefallen. Er habe sich sogar gerühmt, sie "abgeknipst" - also getötet - zu haben.

Soldaten "tranken Wodka und erschossen Juden"

Mitglieder einer SS-Einsatzgruppe zwingen Juden 1941 im lettischen Skede sich zur Exekution auszuziehen. © IMAGO Foto: Carl Sturm
Demütigung mit System: Vor der Exekution mussten sich die Gefangenen entkleiden. So ging die SS auch bei anderen Massakern wie diesem 1941 im lettischen Skede vor.

Am dritten Prozesstag beschreibt Tuchel eine Szene von den Exekutionen in Rumbula. Soldaten "aßen am Rand der Grube, tranken Wodka und erschossen" dabei "etwa 10.000 Juden". Zuvor, so schildern es mehrere Zeugen während der Verhandlung, mussten sich die Kinder, Frauen und Männer bei eisigen Temperaturen bis auf die Unterwäsche oder komplett ausziehen und über Rampen in die Gruben steigen. Dort hatten sie sich - mit dem Gesicht nach unten - auf die bereits dort liegenden Leichen zu legen. Dann wurden sie mit Genickschüssen getötet.

Massenmord nach dem gleichen Muster wie in Babyn Jar

Jeckeln hatte seinen Baudezernenten zuvor ausrechnen lassen, wie groß und tief die Löcher sein mussten, um die Leichen platzsparend stapeln zu können. Die Erkenntnisse hatte er bereits zwei Monate zuvor bei einem Massenmord an Juden nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew genutzt. Innerhalb von 48 Stunden ließ er im Tal von Babyn Jar 33.000 Menschen töten und leitete damit bereits am 29. und 30. September 1941 die sogenannte Endlösung der Judenfrage ein. Formell werden hochrangige Mitglieder der Reichsregierung und der SS-Behörden sie erst während der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 beschließen.

Täuschungsmanöver wird zum Marsch in den Tod

Blick durch einen Stacheldrahtzaun in eine Straße mit Hausrat und Möbeln im Rigaer Judenghetto 1942. (Bundesarchiv, Bild 183-N1212-326 / Otto Donath / CC-BY-SA 3.0) © Creative Commons License / CC-BY-SA 3.0 Foto: Otto Donath
Die SS richtete das Rigaer Ghetto 1941 in der Moskauer Vorstadt ein, einem jüdisch geprägten Stadtteil. Das Areal wurde von Stacheldraht umzäunt und hatte nur eine Ein- und Ausfahrt.

Für die "Räumung" des Rigaer Ghettos mussten sich die Bewohnerinnen und Bewohner am 30. November 1941 ab 6 Uhr morgens auf den Straßen versammeln. Etwa 4.000 arbeitsfähige Männer wurden kurz zuvor separiert und in das auf dem Areal liegende "kleine Ghetto" verlegt. Laut Plakat-Anschlag im Lager sollten alle anderen für leichtere Arbeiten verlegt werden - zur Täuschung durften sie etwas Gepäck mitnehmen.

"Ich stellte Judentransporte zusammen. Je 1.000 Mann in Zehnerreihen. Frauen, Kinder, Greise. Anschließend ging's ab in den Wald", beschreibt Tuchel seine Aufgabe laut "Abendblatt" 1972 vor Gericht. Den rund acht Kilometer langen Weg nach Rumbula mussten die Gefangenen zu Fuß bewältigen. Wer zu langsam war oder pausierte, wurde Zeugen zufolge erschossen und am Straßenrand liegen gelassen. "Mittags war alles vorbei", so Tuchel weiter. "Wir gingen zurück in die Wachbude im Ghetto und wollten gerade einen Schnaps trinken, den wir uns fürwahr verdient hatten, da kam unser Kommandeur." Dieser habe sie angewiesen, 18 kranke Juden vor der Synagoge zu erschießen. Tuchel: "Jeder von uns musste einen Juden erschießen. Es ging gerade so auf. Wir waren 18 Mann."

Zeugin Frida Michelson: Viele Tote auf den Straßen im Ghetto

Von diesem besagten Tag im Ghetto berichtet dem Schwurgericht in Hamburg - als eine der wenigen Überlenden - auch die Zeugin Frida Michelson. Aus ihrem Fenster habe sie beobachtet, wie ein SS-Mann mit einer Pistole Menschen erschossen habe, die nicht hätten gehen können. Auf den Straßen lagen ihrer Schilderung zufolge sehr viele Tote. Tags darauf seien im Ghetto Lebensmittel und andere Produkte zum Verkauf freigegeben worden. Es habe geheißen, dass diejenigen, die den Marsch überstanden hätten, in ein anderes Lager gekommen seien. Gerüchten über ihren Tod habe im Ghetto niemand Glauben schenken wollen.

Tuchel schildert zudem, dass nach dem ersten "Aktionstag" ein Stacheldrahtzaun durch das Ghetto gezogen wurde, damit aus dem östlichen Bereich niemand in den "geräumten" westlichen Teil kam.

Erster "Aktionstag" wird Blaupause für den 8. Dezember

In einer Vorbesprechung für die Exekution der übrigen Gefangenen stellten Offiziere mehrerer Dienststellen fest, dass am ersten Tag alles "gut gelaufen sei und so weitergehen könne". So schildert es der Angeklagte Jahnke, der bei dem Treffen das Kommando der Schutzpolizei vertrat, vor Gericht. Später habe er die Befehle für die nächste "Aktion" weitergegeben. Am 8. Dezember schließlich lief die "Umsiedlung" der Menschen aus dem Osten des Ghettos nach dem bekannten Verfahren ab.

Zeugin entkommt dem Tötungskommando mit einer List

Diesmal lief auch Frida Michselson in einer der Kolonnen mit. In Rumbula nutzte sie die Unaufmerksamkeit eines Polizisten, um sich in den Schnee fallen zu lassen und tot zu stellen. Es funktionierte. Irgendwann habe sie keine Schüsse mehr gehört, dafür aber ein Gespräch zweier Männer, von denen einer ein paar Strümpfe für seine Frau habe mitnehmen wollen. Später habe sie noch ein Kind "Mama, Mama" rufen hören - und Stimmen in deutscher Sprache. Und abermals Schüsse. Bis das Kind nicht mehr gerufen habe. Schließlich, so berichtet Michelson vor Gericht, habe sie sich fortgeschlichen und bei zwei Bäuerinnen Unterschlupf gefunden.

"Judenhasser" mit "Pflichteifer": Lebenslange Haft für Tuchel

Blick auf die Fassade des Strafjustizgebäudes des Landgerichts Hamburg am Sievekingplatz 3. © picture alliance | xim.gs Foto: xim.gs
Die Schwurgerichtskammer am Landgericht Hamburg fällt im Februar 1973 ihr Urteil. Letztlich muss nur einer von vier Angeklagten ins Gefängnis.

Während des Prozesses schildern Dutzende Zeugen - sowohl damalige jüdische Gefangene als auch deutsche Polizisten - weitere Gräuel, die sich zusätzlich zum Massaker im Ghetto abgespielt haben. Bei der Urteilsverkündung am 23. Februar 1973 stellt der Vorsitzende Richter Jürgen Schenck fest: "In diesem Prozess haben sich uns allen Verbrechen ganz großen Ausmaßes enthüllt." Beweisen lassen sich offenbar nur wenige.

Otto Tuchel erhält wegen dreifachen Mordes und Beihilfe zum Mord in einem Fall eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er sei der "Typ des fanatischen Judenhassers" gewesen. Als Angehöriger des Räumungskommandos habe er sich am 30. November 1941 "dieser Aufgabe mit einem kaum zu überbietenden Pflichteifer" gewidmet und "dadurch seinen Beitrag zu dieser Massenexekution" geleistet, heißt es in der Urteilsbegründung. Gleichzeitig ist das Gericht überzeugt, dass sich Tuchel "in weitaus größerem Rahmen schuldig gemacht hat". Er wird noch im Gerichtssaal festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Ob diese Strafe in vollem Umfang vollstreckt wurde, ist nicht bekannt. Der für die Umsetzung zuständigen Staatsanwaltschaft Hamburg liegen zu dem Fall keine Informationen mehr vor.

Jahnke geht in Revision - mit Erfolg

Die Mitangeklagten haben sich nach Überzeugung des Gerichts an Transport beziehungsweise Absperrung der "Umsiedlungsaktion" beteiligt. Jahnke wird wegen Beihilfe zum Mord zu drei Jahren Haft verurteilt. Richter Schenck zufolge ist er zwar "nur durch das damalige System in diese Straftaten hineingeraten". Er hätte in seiner Position jedoch "ein bisschen Sand ins Getriebe schütten können". Jahnkes Anwalt fechtet das Urteil vor dem Bundesgerichtshof an - und gewinnt. Zu einer neuen Verhandlung kommt es wegen Jahnkes inzwischen offenbar schlechtem Gesundheitszustand nicht mehr.

"Befehlsnotstand"? Neumann und Diedrich bleiben straffrei

Max Neumann und Emil Diedrich werden ebenfalls der Beihilfe zum Mord schuldig befunden, bleiben "wegen geringer Schuld" aber straffrei. Das Landgericht beruft sich dabei auf das Militärstrafgesetzbuch vom Oktober 1940: Laut Paragraf 47 trägt der Vorgesetzte die Verantwortung für Befehle, deren Ausführung eine Straftat bedeuten. Untergebene gelten demnach als Teilnehmer, die bei geringer Schuld nicht mit einer Strafe belegt werden müssen. Wie viele NS-Verbrecher hatten sich die beiden Angeklagten während des Prozesses mit dem "Befehlsnotstand" gerechtfertigt. Sie argumentierten mit einer Gefahr für Leib und Leben, hätten sie Befehle nicht befolgt. Eine Erklärung, die Historiker und Juristen später widerlegen - selbst SS-Mitglieder seien in derartigen Fällen allenfalls versetzt worden.

Massaker von Rumbula - Erinnerungen einer Überlebenden

Die Holocaust-Gedenkstätte im Wald von Rumbula nahe der lettischen Hauptstadt Riga. © picture-alliance | Uwe Zucchi Foto: Uwe Zucchi
In Rumbula erinnert seit 2002 eine Gedenkstätte an die Opfer des Holocausts. Zu ihr gehört dieser Platz in Form eines Davidsterns, auf den Steinen rund um die Menora stehen Namen getöteter Juden.

Mindestens 25.000 Menschen sind bei dem Massaker von Rumbula an den beiden "Aktionstagen" ermordet worden - wie viele genau, ist allerdings nicht bekannt. Unterschiedliche Quellen beziffern die Zahl der Opfer zwischen 25.000 und mehr als 27.500. Ein Grund dafür: Zum Kriegsende hin ließ die SS in den Ostgebieten mit dem "Sonderkommando 1005" unzählige Massengräber öffnen und die Leichen jüdischer Gefangener vernichten, um Spuren zu verwischen.

Frida Michelson lebte seinerzeit als Bäuerin getarnt in einem nahe gelegenen Dorf. Nach dem Krieg blieb sie zunächst in der Sowjetunion und gab ihre Erlebnisse bereits dort als eine von vermutlich sechs Überlebenden des Massakers zu Protokoll. Später schrieb sie ihre Erinnerungen in dem Buch "Ich überlebte Rumbula" auf. In dem Wäldchen wurde ein Teil der von Jeckeln so akribisch geplanten Gruben inzwischen mit Betonsteinen eingefasst und eine Gedenkstätte errichtet, die an die Opfer des Holocausts erinnert.

Weitere Informationen
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NDR Kultur | 16.12.2021 | 11:55 Uhr

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