Das Grundgesetz: Wie Deutschland 1949 seine Verfassung bekam
Das deutsche Grundgesetz sollte ein Provisorium sein, doch Jahrzehnte später gilt es noch immer. Die Verkündung am 23. Mai 1949 wird gleichzeitig zur Geburtsstunde der Bundesrepublik.
Am 8. Mai 1949 versammeln sich in Bonn die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rates, um über eine provisorische Verfassung abzustimmen - für einen neuen Staat: die Bundesrepublik Deutschland. Da der Platz in der alten Aula der Pädagogischen Akademie nicht ausreicht, werden Stühle nach draußen vor das geöffnete Fenster gestellt, zu groß ist der Andrang der Zuschauer und Pressevertreter.
Monatelange Beratungen unter Vorsitz Adenauers
Monatelang haben die Abgeordneten unter dem Vorsitz ihres Präsidenten Konrad Adenauer (CDU) beraten. Sie sind von den jeweiligen Parlamenten der elf westdeutschen Länder gewählt worden. Aus Berlin sind fünf Delegierte mit beratender Stimme anwesend. CDU/CSU und SPD stellen die stärksten Fraktionen.
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Aus den vier norddeutschen Ländern sind 17 Politiker dabei, etwa der Kieler Jura-Professor Hermann von Mangoldt (CDU) und Paul de Chapeaurouge (CDU), der bereits in der Weimarer Republik Senator in Hamburg gewesen war. Aus Niedersachsen der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer. Der Hamburger Sozialdemokrat Adolph Schönfelder eröffnet im September 1948 als Alterspräsident die erste Sitzung des Rates. Wie sein Kollege Hermann Schäfer von der niedersächsischen FDP wird er zum Vizepräsidenten gewählt, leitet die Ratssitzungen, wenn Adenauer verhindert ist.
Deutschland unter Beobachtung der Alliierten
Die drei westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich trauen ihren Schützlingen nicht recht über den Weg: Zahlreiche Besatzungsoffiziere beobachten die Beratungen und Diskussionen. Aber vor allem die USA wollen nach der Währungsreform vom Juni 1948 nun auch die politische Ordnung stabilisieren. Im beginnenden Kalten Krieg sind die Westdeutschen als Verbündete gegen die Sowjetunion unverzichtbar.
Grundgesetz: Ursprünglich Provisorium statt Verfassung
Die Ministerpräsidenten der Länder jedoch wollen die deutsche Teilung nicht durch einen eigenen Nationalstaat zementieren, sondern deren vorübergehenden Zustand betonen. So berufen sie statt der von den Westalliierten geforderten verfassungsgebenden Versammlung nur einen "Parlamentarischen Rat" ein. Und dessen Mitglieder erarbeiten statt einer Verfassung nur ein Provisorium, das sie Grundgesetz nennen. Diese Bezeichnung hat der Hamburger Oberbürgermeister Max Brauer vor Beginn der Beratungen vorgeschlagen. Später werden die Abgeordneten deshalb auch nur das kleine provinzielle Bonn zur "vorläufigen" Bundeshauptstadt wählen.
Lehren aus der Geschichte
Die drei westlichen Siegermächte haben den deutschen Politikern den Auftrag gegeben, eine politische Ordnung zu erarbeiten, die Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik und den Verbrechen des Nazi-Regimes zieht. Wochenlang kommt es in Bonn zu erregten Debatten über die Gründe für das Scheitern der ersten deutschen Republik. Dann werden die entscheidenden Neuerungen beschlossen, die die Stabilität der demokratischen Verhältnisse sichern sollen: eine Stärkung des Parlaments und des von ihm gewählten Bundeskanzlers gegenüber einem schwachen Bundespräsidenten, eine Betonung der föderalen Staatsstruktur und das "konstruktive Misstrauensvotum", bei dem ein Kanzler nur bei gleichzeitiger Wahl eines Nachfolgers gestürzt werden kann. Außerdem wird ein Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes etabliert.
Grundrechte sichern die Freiheit der Bürger
Die in den Artikeln 1 bis 19 festgelegten Grundrechte garantieren die unantastbaren Rechte der Bürger gegenüber dem Staat, unter anderem Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichberechtigung, Religions- und Pressefreiheit. Eine vorangestellte Präambel bezieht auch die Landsleute in der sowjetischen Besatzungszone mit ein und betont den provisorischen Charakter des Grundgesetzes: "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."
Grundgesetz: Geburtsstunde der Bundesrepublik
Am 8. Mai, auf den Tag genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation, unterzeichnet Ratspräsident Konrad Adenauer als erster das Gesetzeswerk. Zuvor haben die Abgeordneten das Ergebnis ihrer Verhandlungen mit 53 zu 12 Stimmen angenommen. Dann erheben sich die Politiker und singen gemeinsam das patriotische Lied "Ich hab mich ergeben". In den folgenden Tagen genehmigen die Westalliierten das Grundgesetz und zehn von elf Länderparlamenten (außer Bayern) stimmen ebenfalls zu. Seine Verkündung am 23. Mai 1949 wird gleichzeitig zur Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland.
Die Sowjets gründen einen eigenen Staat
Die Sowjetunion hat die Bestrebungen zur Gründung eines westlichen Teilstaates seit 1948 misstrauisch verfolgt und knapp ein Jahr lang durch die Blockade der Zufahrtswege nach Westberlin zu verhindern versucht. Jetzt antwortet sie im Oktober 1949 mit der Ausrufung eines eigenen Staatsgebildes, der Deutschen Demokratischen Republik.
Exportschlager Grundgesetz
In den folgenden Jahrzehnten wird das Grundgesetz zum Erfolg, zum Exportschlager der Bundesrepublik, löst zeitweise die amerikanische Verfassung als Demokratievorbild ab. Weltweit wird es zum Muster für neue Verfassungen vor allem ehemals totalitärer Staaten, in den 1970er-Jahren etwa in Spanien, Portugal und Griechenland, später auch in Südamerika und in Asien. Nach 1989 orientieren sich die ehemaligen sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas wie Polen und Tschechien am deutschen Grundgesetz.
1990: Das Provisorium wird zur Verfassung
Als mit dem Ende der DDR die fünf neu gebildeten ostdeutschen Länder dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten und so den Auftrag der Präambel von 1949 erfüllen, wird aus dem Provisorium eine endgültige Verfassung - die Bezeichnung "Grundgesetz" aber bleibt bestehen.