Gorleben-Protest in Hannover 1979: "Albrecht, wir kommen!"
Am 31. März 1979 findet eine der größten Anti-Atom-Demonstrationen der deutschen Nachkriegsgeschichte statt. Mehr als 300 Traktoren und Zehntausende Bürger ziehen durch Hannovers Straßen.
"Guten Abend meine Damen und Herren. Die bisher größte Demonstration gegen Kernenergie in der Bundesrepublik fand heute in Hannover statt. Atomkraftgegner aus dem In- und Ausland protestierten gegen den geplanten Bau des atomaren Entsorgungszentrums in Gorleben." Mit diesen Worten begann am 31. März 1979 die Tagesschau. Friedlich und ohne Zwischenfälle zogen mehrere Zehntausend Menschen durch die Landeshauptstadt Niedersachsens zu einer Kundgebung auf dem Klagesmarkt.
Über die genaue Zahl der Teilnehmer gibt es bis heute unterschiedliche Meinungen, laut Polizei sollen es 40.000 gewesen sein, laut Organisatoren mehr als 120.000. Doch unabhängig von der exakten Teilnehmerzahl war die Massenkundgebung ein Erfolg der deutschen Anti-Atomkraftbewegung - wie sich wenige Wochen später herausstellen sollte.
Traktoren-Sternfahrt nach Hannover
Zu der Aktion hatten Bürgerinitiativen wie die Bäuerliche Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg aus dem Raum Gorleben aufgerufen. Bauern und Bürgerprotestler waren eine Woche zuvor, am 25. März, mit mehr als 300 Traktoren aus dem Wendland zu einer Sternfahrt nach Hannover gestartet.
Ausgestattet mit Protestplakaten und jeder Menge Wut im Bauch wollten sie in der Landeshauptstadt dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht ihre Meinung kundtun - ihr Motto: "Albrecht wir kommen". Als besonderes Geschenk hatten sie einen tonnenschweren Findling dabei - den "Gorleben-Stolperstein" für den Vorplatz der Staatskanzlei mit der Aufschrift "Gorleben ist überall - Treck 1979".
Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt. In Hannover fand vom 28. März bis zum 3. April das sogenannte Gorleben-Hearing statt, zu dem Albrecht geladen hatte. Mehr als 60 nationale und internationale Wissenschaftler diskutierten öffentlich über die Sicherheit von nuklearen Entsorgungsanlagen, um nach Ansicht von Ministerpräsident Albrecht Klarheit über das Vorhaben in Gorleben zu bekommen.
Reaktor-Störfall in den USA fördert Widerstand
In Hannover wurde der Bauern-Treck von Zehntausenden begeistert empfangen. Dass die Protestaktion der Wendländischen Bauern und Bürger zu einer Massenbewegung mit Atomkraftgegnern aus ganz Deutschland und dem Ausland wurde, lag allerdings auch am ersten atomaren Störfall in einem Kernkraftwerk, der sich am 28. März in den USA zutrug. Im Atomkraftwerk Harrisburg kam es zu einer teilweisen Kernschmelze des Atomreaktors. Zwei verschlossene Ventile, ein klemmendes Überdruckventil und die eine oder andere falsche Reaktion des Reaktorpersonals hatten dazu geführt, dass fast zwei Drittel des Reaktorkerns über mehrere Stunden freilagen und sich zudem eine Wasserstoffblase gebildet hatte. Es bestand Explosions-Gefahr. Das Gebiet um den Reaktor sollte evakuiert werden - vorsorglich. Es kam nicht zur befürchteten Katastrophe.
Doch weltweit wurde den Menschen zum ersten Mal vor Augen geführt, dass die Technik der Atomkraft nicht hundertprozentig beherrschbar ist - auch wenn Politiker und Experten das in den vergangenen Jahren behauptet hatten. Die Zweifel der Atomkraftgegner schienen berechtigt. Auch deswegen schlossen sich am 31. März sehr viel mehr Bürger dem Demonstrationszug gegen das nukleare Entsorgungszentrum in Gorleben an als erwartet.
Widerstand formiert sich sofort nach Albrecht-Entscheidung
Ziemlich genau zwei Jahre zuvor, am 22. Februar 1977, hatte Ernst Albrecht erklärt, dass in Gorleben ein Endlager für Atommüll und eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage entstehen soll. Noch am gleichen Tag begann der Widerstand der örtlichen Bevölkerung. Deutlich wurde die fehlende Unterstützung vieler Landwirte, als das für das Entsorgungszentrum notwendige Gebiet von einer extra gegründeten Gesellschaft aufgekauft werden sollte. 62 Grundbesitzern gehörte das betroffene Land. Nicht jeder wollte verkaufen, auch nicht für das zehnfache des Verkehrswertes.
Vor allem einer weigerte sich: Andreas Graf von Bernstorff. Ihm gehörte der größte Teil des betroffenen Gebietes. Der damals 35-Jährige erklärte gegenüber dem NDR, dass er zutiefst erschüttert sei, dass diese Region "zum Ruhrgebiet der Atomindustrie werden soll". Er ließ sich weder durch den Druck der Politiker noch der Atomindustrie beeindrucken. Die ansässigen Bauern nahmen den Widerstand in die eigene Hand und gründeten noch 1977 die Initiative Bäuerliche Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg, die mit ihren Traktoren gegen das Endlager Gorleben auf die Straße ging.
Teilrückzug des Ministerpräsidenten
Damals, am 31. Mai 1979, stellte sich Albrecht den Fragen der Demonstranten - in einer Schulhalle. Einer der Wortführer der Bauern, Heinrich Pothmer, erklärte unter lautem Applaus: "Hergekommen sind wir, um Ihnen ganz klar zu sagen: Wir werden es nicht hinnehmen, dass Sie die Anlage bei uns bauen."
Wenige Wochen nach der Großkundgebung in Hannover, am 16. Mai 1979, verkündete Albrecht im Bundestag, dass "die politischen Voraussetzungen zur Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage, zurzeit wenigstens, nicht gegeben sind." Dieser Teilrückzug überraschte selbst die Bundesregierung. Ein Erfolg der Proteste?
Endgültiges Aus für Gorleben kommt im September 2021
Lange bleibt die Frage des Endlagers ungeklärt. Am 17. September 2021 schließlich teilt das Bundesumweltministerium mit, dass der Salzstock in Erkundungsbergwerk in Gorleben endgültig stillgelegt und zurückgebaut werden soll.