Eva Evans: "Alles, was wir verloren haben, ist in meinem Herzen"
Ende 1938 wird die inzwischen 100-jährige Eva Evans von den Nazis ins Exil gezwungen. Die jüdische Familie muss bei null anfangen - ohne ihr Hab und Gut, das die Nazis versteigern. Wo es geblieben ist, wird erst Jahrzehnte später bekannt.
Der Tag im Januar 1939, als Eva Evans mit ihren Eltern nach England kommt, nachdem sie Deutschland für immer verlassen musste, hat sich tief in Eva Evans' Gedächtnis eingeprägt. Sie kann sich noch erinnern, wie ihr Rücken gejuckt und ihr Vater, der jüdische Arzt Felix Klopstock, sie daraufhin untersucht habe. "Ich habe mich schrecklich gefühlt, aber mein Vater sagte: 'Es ist nichts'. Er sagte, das sei bei mir im Kopf."
Im Alter von 14 Jahren in ein fremdes Land gekommen
Eva Evans ist inzwischen 100 Jahre alt und lebt im Londoner Stadtteil Camden. Als ihre Familie aus Berlin vor den Nazis floh, war sie 14 Jahre alt. "Was heißt Auswanderung? Es heißt, man kommt in ein fremdes Land. Man hat keine Freunde. Man geht nicht gleich in die Schule, weil man nicht weiß, was kommen wird." Deshalb habe sie sich entschlossen: "Von jetzt an denke ich nicht mehr an Deutschland."
Und von da an habe Eva Evans über ihre Vergangenheit geschwiegen, sagt ihre Tochter Janet Eisenstein. Sie möchte die Geschichte ihrer Mutter aufarbeiten. "Ich wusste, dass es ein Geheimnis gab, aber ich kannte es nicht. Ich wusste, dass es Dinge gab, über die nicht gesprochen wurde."
Ein "generationenübergreifendes Trauma"
Ihre Großmutter und ihr Großvater haben ihr Zuhause und Familienmitglieder verloren. Janet schildert dies so: "Sie hatten in vielerlei Hinsicht Glück, dass sie überlebt haben und hierher kommen konnten. Aber trotzdem ist auch das ein Problem: Sie waren keine sogenannten Überlebenden wie diejenigen, die die Konzentrationslager überlebt haben. Sie hatten das Gefühl, dass es ihnen nicht erlaubt war, über irgendetwas Kummer zu haben. So haben sie viele Gefühle über ihre Vergangenheit zurückgehalten. Und ich denke, die Sache mit dem generationsübergreifenden Trauma ist absolut wahr."
Eine "Black Box" sei die Familiengeschichte gewesen, die sie nun zusammen mit ihrer Mutter öffnet, auch weil eine NDR Dokumentation neue Erkenntnisse über das verschollene Umzugsgut ihrer Großeltern gebracht hat. Darin wird die Provenienzforscherin Kathrin Kleibl begleitet, die von den Nazis geraubtes Übersiedlungsgut jüdischer Emigranten an seine rechtmäßigen Eigentümer zurückführen will.
Familie lebte ursprünglich in Berlin - Vater war Arzt
Eva Evans' Emigrationsgeschichte beginnt in Berlin: Sie wird am 9. März 1924 geboren und ist das dritte Kind ihrer Eltern Annie und Felix Klopstock. Die Familie lebt in einer Acht-Zimmer-Wohnung in Berlin-Wilmersdorf, in der der Vater auch seine Praxis hat. Ihre Mutter sei sehr kulturinteressiert gewesen, sagt Eva. Täglich habe sie Goethe und Schiller zitiert. "Das hat einen großen Einfluss gehabt auf mich als Kind, weil ich sah, wie wichtig es ist, gut erzogen zu werden", sagt Eva. Ihr Vater habe seinen Beruf geliebt und viele Patienten behandelt. "Meine Eltern waren sehr glücklich zusammen."
Nach der Machtergreifung der Nazis stets in Sorge
Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten der Druck auf die Juden zunahm, hätten ihre Eltern geahnt, dass sie Deutschland verlassen mussten. "Im Grunde wussten sie, dass sie auswandern mussten. Aber sie haben das alles ignoriert." Trotzdem spürt Eva die wachsende Unsicherheit.
"Ich war nie richtig glücklich, weil ich immer allein war, aber so war das. Denn meine Eltern hatten schon keine Zeit mehr für mich. Sie waren nur in Sorge: Kann man in Deutschland bleiben oder kann man nicht?"
Für den Vater erst Arbeitsverbot, dann Haft im KZ
Felix Klopstock bekommt Arbeitsverbot, eine deutsche Ärztin übernimmt die Praxis. "Das war ein furchtbarer Moment. Er durfte nicht mehr über die Haupttreppe zu seiner Wohnung gehen. Er musste wie die Lieferanten die Hintertreppe benutzen. Das hat ihn furchtbar gestört, aber er hat nie ein Wort darüber verloren."
Während der Novemberpogrome wird Felix Klopstock von der Gestapo verhaftet und in Sachsenhausen inhaftiert. Evas Mutter Annie schafft es nach etwa drei Wochen, seine Freilassung zu erwirken, da sie die Gestapo davon überzeugen kann, dass die Familie Deutschland verlassen wird.
Auswanderung nach England
"Er ist als ein gebrochener Mann nach Hause gekommen", sagt Eva Evans. Was ihm in der Haft widerfahren ist, darüber habe er nur mit seiner Frau gesprochen. Eva sei zu jung gewesen, sie müsse das nicht hören, habe er erklärt. Die Pogrome seien der Wendepunkt für die Emigration gewesen, sagt Eva. Die Familie beschließt, nach England auszuwandern und zwei Onkeln zu folgen, die bereits dorthin emigriert sind.
Der Vater schafft extra eine neue Praxisausstattung für den Neubeginn im Ausland an. Diese lassen Evas Eltern mitsamt dem gesamten Hausstand in drei Umzugskisten - sogenannte Lift Vans - verpacken. Jedes Stück müssen die Eltern für den Zoll dokumentieren. Die Umzugskisten werden von einer Spedition nach Hamburg gebracht und sollen von dort aus nach England verschifft werden.
Nur ein kleiner Bär kommt 1939 im Handgepäck mit
Im Dezember 1938 verlässt Evas Familie Deutschland und reist mit dem Zug über Amsterdam nach England. Im Januar 1939 kommt sie in Harwich an. Damals ist Eva 14 Jahre alt. Mit dabei hat sie nur ihr Handgepäck. Darin auch ein kleiner Bär - ein Totem - denn Eva ist Karl-May-Fan. Es ist das einzige persönliche Stück, das sie mit nach England bringt.
Der Moment der Ankunft in England sei furchtbar für sie gewesen, sagt Eva heute. "Ich habe mich in dem Moment entschieden. Ich will nichts mehr wissen von meiner Jugend. Und so war es auch." Die Frau eines ihrer Onkel holt die Familie vom Bahnhof ab und bringt sie die ersten Tage in ihrem Haus in London unter.
Die Umzugskisten kommen nicht an
Allerdings kommen die Umzugskisten nicht an. Mit Kriegsbeginn laufen die Frachtschiffe nicht mehr aus. Die Gestapo lässt die Kisten, die im Hamburger Hafen lagern, beschlagnahmen. Die Familie muss in England neu beginnen - mit nichts. Ihre Eltern hätten nicht erwartet, dass sie ihr Hab und Gut jemals wiedersehen, sagt Eva. "Wir haben gewusst, das war das Ende von all unserem Besitz."
Evas Onkel Albert hakt bei den Behörden nach, in der Hoffnung, dass die Familienbesitztümer doch noch freigegeben werden - aber ohne Erfolg. Später heißt es, das Umzugsgut sei beschädigt oder aufgrund eines Bombenangriffs im Hafen verbrannt. "Meine Eltern haben eingesehen; Das ist das Leben. Man kann nichts machen. Sie haben nie darüber gesprochen. Nie, wirklich nie."
Eva Evans' heutiges Verhältnis zu Deutschland ist ambivalent. Alte Briefe, die sie an ihre Kindheit und Jugend erinnern, hat sie weggeworfen. Ihr ist es aber immer wichtig gewesen, die deutsche Sprache zu behalten - um die Verbindung zu Deutschland nicht zu verlieren.
Kontakt zu Provenienzforscherin Kleibl bringt Erkenntnisse
Ihre Tochter Janet Eisenstein möchte mehr über die Vergangenheit wissen. Sie will verstehen, was wirklich passiert ist. Sie reist nach Hamburg, um mehr über das verschollene Umzugsgut der Großeltern herauszufinden, macht eine Tour durchs jüdische Hamburg - aber ohne Erfolg. Als sie zurück ist, schickt die Leiterin der Tour ihr einen Link zu der NDR Dokumentation, die beleuchtet, wie die Nazis das Umzugsgut versteigert haben. In Hamburg kamen die Gegenstände aus den "Judenkisten" in der "Gerichtsvollzieherei" und in Auktionshäusern unter den Hammer - Haushalt für Haushalt. Eine Schnäppchenjagd, zu der die Käufer aus ganz Deutschland anreisten.
"Ich habe es mit großem Interesse verfolgt, weil es tatsächlich real wurde", sagt Janet. Sie will mehr wissen und kontaktiert Provenienzforscherin Katrin Kleibl. "Ich war völlig verblüfft, denn sie antwortete, und sagte: 'Ich bin froh, dass Sie sich melden, denn ich habe die Akten Ihres Großvaters vor mir und werde sie Ihnen schicken.'"
Tochter Janet: "Der Lebenstil wurde vor meinen Augen lebendig"
Das Team der Provenienzforschung des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven hat eine Datenbank an den Start gebracht, über die von den Nazis enteignetes Umzugsgut jüdischer Flüchtlinge gesucht werden kann. In den Akten der Klopstocks ist detailliert aufgelistet, was zu welchem Preis unter den Hammer kam. Stück für Stück und wer es gekauft hat. Die Familie besaß Kunst, Porzellan, kostbare Möbel. Janet wird bewusst, wie ihre Mutter mit ihren Eltern gelebt haben muss. "Der Lebensstil, den sie gehabt haben müssen, wurde vor meinen Augen lebendig."
Eva Evans wird "beinahe ohnmächtig vor Schreck"
Als Eva erfährt, dass der Besitz ihrer Eltern versteigert worden ist, ist sie geschockt: "Ich bin beinahe ohnmächtig vor Schreck geworden, als ich das gehört habe." Dazu kommt die Wut über das Unrecht. "Ich dachte, ich gehe in die Luft."
Praxisausstattung wird von drei Ärzten erworben
Die Auktion, auf der der Hausstand ihrer Großeltern verkauft wurde, ist sogar in der Zeitung beworben worden. Janet findet heraus, dass drei Ärzte die Praxisausstattung gekauft haben. Darunter auch die Hamburger Frauenärztin Meta Thorlichen, die bei Zwangsarbeiterinnen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt hat.
Ein Schock für Evas Tochter, die über ihren Großvater aus Erzählungen weiß, was für ein liebevoller und gewissenhafter Arzt er gewesen sein muss. Dazu passt die weitere Nutzung seiner Praxisausstattung nicht. "Wie furchtbar, wenn ich daran denke, dass sie (Meta Thorlichen) einen Untersuchungstisch dafür genutzt hat, um diese Frauen so zu behandeln - das tut natürlich weh."
Suche nach weiteren ehemaligen Besitztümern
Ob es jemals möglich ist, Dinge zurückzubekommen, an denen ihre Mutter hängt? "Ich habe mich gefragt, wenn meine Mutter über diese Silberlöffel sprach, ob es möglich ist, sie wiederzufinden. Darauf waren die Initialen der Familie eingraviert", erzählt Janet.
Eva Evans hat den Gedanken an die Gegenstände ihrer Eltern lange verdrängt, sie gibt aber zu: "Ich denke doch natürlich in meinem Herzen an all die Sachen, die wir verloren haben." Dann geht sie zu einem Bild in ihrem Wohnzimmer. Es zeigt einen Baum im Winter. Schnee liegt auf den Ästen. Ihre Mutter hat es im Handgepäck nach England gebracht. "Ich glaube, sie konnte sich nicht trennen von dem Bild und hat es in den Koffer gepackt. Das habe ich nicht gewusst.“
Eva und Janet werden weiter nach Objekten der Familie suchen. Dabei hilft auch die Lost-Lift-Datenbank. Sie sind erleichtert darüber, dass sie die "Black Box", in der die Familiengeschichte so lange gelegen hat, endlich geöffnet haben.