NS-Raubzug: Wie Nazis jüdische Emigranten ausplünderten
Auf der Flucht vor dem NS-Regime wurden Juden nicht nur ihrer Heimat beraubt, auch ihre gesamte Habe wurde versteigert - unter anderem in Hamburg. Die Nazis machten Millionen damit. Noch immer kämpfen Geschädigte und Nachfahren um ihr Eigentum.
Tausende Seiten Dokumente helfen Kathrin Kleibl, ein Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten, das lange verschleiert wurde: einen gigantischen Raubzug der Nazis - dessen Beute bis heute verschollen ist. Die Nachfahren der jüdischen Geschädigten suchen noch immer nach ihrem Hab und Gut. Kleibl, Archäologin und Provenienzforscherin am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, möchte das Raubgut nun wiederfinden.
"Am meisten motiviert mich, dass ich den geschädigten Familien möglicherweise Gegenstände zurückgeben kann, weil ich immer wieder feststelle, dass sie keinen richtigen Bezug mehr zu ihrer Ursprungsfamilie haben", sagt sie in der NDR Dokumentation "Das Raubkunst-Puzzle - Suche nach Gerechtigkeit". Die Betroffenen hätten in der Regel nicht viel über ihre Vergangenheit erzählen wollen, um die schrecklichen Ereignisse nicht weiter thematisieren zu müssen. "Durch die Rekonstruktion, was mit dem Umzugsgut passiert ist, helfe ich diesen Familien möglicherweise auch, die damaligen Ereignisse zu verstehen."
Reichsfluchtsteuer und Zwangsabgaben erschweren Ausreise
Durch die Repressionen der Nationalsozialisten waren Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Deutschen Reich zur Ausreise gezwungen. Aber eine Emigration war mit hohen Gebühren belegt: "Es war ihr Ziel, über Steuern, Zwangsabgaben, die Judenvermögensabgabe, die Reichsfluchtsteuer und dergleichen mehr für eine völlige finanzielle Ausplünderung der Eigentümer zu sorgen", sagt der Historiker Frank Bajohr über die Taktik der Nazis. Nur wer es sich irgendwie leisten konnte, wanderte mitsamt seines Besitzes aus.
Jüdische Umzugsgüter werden beschlagnahmt und versteigert
Das Hab und Gut, verpackt in Container-großen sogenannten Liftvans, sollte den jüdischen Emigranten mit Speditionen über die Umschlagplätze in Bremen und Hamburg nachgeschickt werden. Doch tausende Umzugskisten erreichten ihre ursprünglichen Besitzer nie. Mit Kriegsbeginn 1939 liefen die Frachtschiffe nicht mehr aus. Die Kisten stapelten sich in den Häfen - und die Gestapo ließ sie beschlagnahmen. Zwischen April 1940 und Ende 1942 wurden die Umzugsgüter versteigert. "Da muss täglich richtig was los gewesen sein", sagt Kleibl.
Aus der "Judenkiste" in die "Gerichtsvollzieherei"
In Hamburg kamen die Gegenstände aus den "Judenkisten" in der "Gerichtsvollzieherei" und in 21 Auktionshäusern unter den Hammer - Haushalt für Haushalt. Zeitungsannoncen warben für die Auktionen. Alles ging weg, vom Silberlöffel bis zur Unterhose - eine Schnäppchenjagd. "Es wurde in keinem Fall irgendein normaler Marktpreis dafür gezahlt. Das war auch nicht erwünscht. Das war auch eine sozialpolitische Maßnahme, wenn man so will", erläutert Bajohr.
Gestapo will mit Kunst so viel Gewinn wie möglich erzielen
Die Gegenstände sollten "verwertet" werden, sagt Kleibl, und die Gewinne dem Deutschen Reich zugeführt werden. "Wenn da besondere Kunst drin war, dann hat man die rausgezogen aus den Liftvans, dann hat man das in einer extra Auktion versteigert. Man wollte ja so viel Gewinn wie möglich erzielen." In Hamburg spezialisierte sich das Auktionshaus Carl F. Schlüter auf solche Kunst-Auktionen.
Wo ist Emil Noldes "Klatschmohn"?
Auch die Kunstsammlung von Lotte und Georg Koch aus Wiesbaden zum Beispiel war darunter. Lotte Koch wanderte nach London aus - das Umzugsgut wurde in Hamburg versteigert. Die Nachfahren suchen nun mithilfe des Historischen Forschungsinstituts Facts & Files nach Werken von Nolde, Jawlensky und Klee. Der Weg des Nolde-Gemäldes "Klatschrosen / Klatschmohn" konnte in Teilen mühsam rekonstruiert werden. Kleibl hat herausgefunden, dass es vom Auktionator Max Notnagel versteigert wurde. Ein norddeutscher Viehhändler griff zu, dann verschwand es in einem Banktresor in Elmshorn. Bis es die Kieler Galerie Negelein kaufte und sich die Echtheit von der Nolde-Stiftung bestätigen ließ. Mithilfe einer Galerie in Österreich verkaufte Negelin es nach Frankreich. Dann verliert sich die Spur wieder. Der Kunsthandel ist nicht zur Auskunft verpflichtet. Historiker Bajohr sagt, die lange Zeit, die ins Land gegangen sei und der mehrfache Eigentümerwechsel machten Nachforschungen schwierig - und erlaubten es, Dinge zu verschleiern.
Buddha-Kopf findet Weg zurück in die Familie
Auch die Erben der Berliner Kunstsammlerin Johanna Ploschitzki suchen unter anderem über die Datenbank Lost Art nach einer kostbaren Sammlung mit Werken von Pissarro, Liebermann und Beckmann. Rund 1.500 Objekte von ihr wurden damals auf einer dreitägigen Auktion verramscht. Kathrin Kleibl gelang es, einen Buddha-Kopf aus Marmor ausfindig zu machen, den Ploschitzki einst in Paris erworben hatte. Rund 80 Jahre lang stand das Objekt im Depot des Museum am Rothenbaum (MARKK). Nun soll es den Erben zurückgegeben werden. Ein erster großer gemeinsamer Recherche-Erfolg mit dem MARKK.
Gesamter NS-Apparat in Hausrat-Versteigerungen involviert
Neben der wertvollen Kunst wurde Anfang der 40er-Jahre allein in Hamburg das Inventar von etwa 3.000 Haushalten versteigert, rund 1.000 waren es in Bremen. Millionen Objekte kamen unter den Hammer. Auch über die Häfen von Amsterdam, Rotterdam, Genua, Triest, Neapel und Marseille, über Spanien und Portugal hatten jüdische Emigranten ihre Umzugsgüter auf den Weg gebracht, die schließlich versteigert worden sind. Dafür sei in Nazi-Deutschland der gesamte Staatsapparat in Bewegung gesetzt worden, sagt Bajohr: Die Gestapo, Banken, Speditionen, Lagergesellschaften, Verwaltungsmitarbeiter, Finanzbeamte - etliche große und kleine Räder waren involviert. "Ein Gesamtsystem, das in hohem Maße auf Kooperation und Arbeitsteiligkeit beruhte und in dem auch alle entsprechend mitmachten."
Dieses bürokratische Räderwerk habe auch dazu beigetragen, eventuelle Hemmungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. "Ich habe ja immer nur für einen kleinen Teilbereich die Verantwortung und der andere übernimmt dann", erläutert Bajohr die Strategie. "Und die Handlung des Einzelnen hat für sich genommen jetzt möglicherweise gar keinen großen Effekt auf den Gesamtbereich, aber in der Summe bilden diese ganzen Einzelhandlungen dann ein völlig 'perfektes' und hermetisches System."
Vorkaufsrecht für ausgebombte und kinderreiche Familien
Ausgebombte Bürger, kinderreiche Familien und Museen hatten zunächst ein Vorkaufsrecht. "Man konnte sich die Dinge vorher schon mal angucken und sich die besten Stücke sichern", so Kleibl. Auch Händler seien aus ganz Deutschland angereist, öffentliche Einrichtungen wie die Sozialverwaltung hätten ebenfalls zugegriffen. Laut Historiker Bajohr gab es "keine Bevölkerungsgruppe, von der man sagen könnte, dass sie sich nicht beteiligt hätte."
"Freiwillige" Versteigerungen: NS-Gesetz macht Raub legal
Mittlerweile ist bekannt, dass unter anderem die Hamburger Kunsthalle, das (MARKK), das Altonaer Museum, das Museum für Hamburgische Geschichte und das Museum für Kunst und Gewerbe Werke auf Versteigerungen von Umzugsgütern kauften. Vor jeder Versteigerung kündigte der Gerichtsvollzieher an, dass diese "freiwillig" stattfand. Nach einem Gesetz der sogenannten elften Verordnung war jeder, der das Land verließ, nicht mehr in Besitz seines Hab und Gutes - und es stand damit automatisch "freiwillig" zur Versteigerung zur Verfügung. "Das war natürlich mitnichten freiwillig", sagt Kleibl. "Natürlich wollten die Besitzer ihre Umzugskisten wiederbekommen." "Verbalkosmetik" nennt das Bajohr. Angewandt, um bei den Käufern keine Gewissensbisse aufkommen zu lassen.
Versteigerungen spülen den Nazis Millionen in die Kassen
Die Anonymität der Großstadt habe das Versteigerungsgeschäft in besonderer Weise erleichtert, so Bajohr. "Weil die Erwerber die einzelnen Dinge, die Sie da kauften, natürlich keinen konkreten Besitzerinnen und Besitzern mehr zuordnen konnten." Die große Menschenmenge, in der man sich auf den Versteigerungen befand, hätte dem eigenen Verhalten eine moralische Absolution erteilt. Von den Versteigerungen in Hamburg sind keine Fotos erhalten. Aufnahmen von Auktionen in der Kleinstadt Lörrach in Baden-Württemberg zeigen allerdings, wie sich die Menschen drängelten, um mitzubieten. Für die Bevölkerung ein billiges "Einkaufsvergnügen" - für die Nationalsozialisten ein gutes Geschäft. Aus den Versteigerungen in Hamburg zahlte die Gestapo allein 7,2 Millionen Reichsmark Erlös auf ein Konto der Deutschen Bank ein. Angesichts verschiedener Sperrkonten dürfte der Gesamterlös noch deutlich darüber gelegen haben.
Puzzlearbeit soll Güter und Nachfahren zusammenführen
Im Rahmen des Forschungsprojekts LIFTProv, gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, möchte Kathrin Kleibl nun herausfinden, wer die Gegenstände damals gekauft hat und sie den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben. Anhand von Lagerlisten, Rechnungen und Versteigerungsprotokollen kann sie die Wege der Objekte nachvollziehen und sehen, wer wann was gekauft hat. Auf die ursprünglichen Besitzer lassen aber erst die Akten aus den Wiedergutmachungsverfahren schließen, in denen die Geschädigten nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Hab und Gut zurückforderten. Deren Beschreibungen versucht Kleibl mit den Akten abzugleichen. Ihre Ergebnisse hält sie in einer Datenbank fest, die Ende 2022 veröffentlicht werden soll, damit Käufer und Geschädigte darin suchen können - eine Puzzlearbeit. "Ich sehe das auch im Sinne von Aufarbeitung." Mit jedem einzelnen Fall würden sie und ihre Kollegen sich an einem Teil der deutschen Geschichte abarbeiten, der lange verschleiert wurde - auch, um mit der Rekonstruktion "möglicherweise wieder etwas geradezubiegen."
Wiedergutmachung wird zum weiteren Kampf für die Opfer
Nach dem Krieg kämpften die Geschädigten in langwierigen Verfahren für Wiedergutmachung. Der Historiker Jürgen Lillteicher hat in den 60er-Jahren im Amt für Wiedergutmachung etliche Akten ausgewertet. So konnte er sehen, wie sich die junge Bundesrepublik zu der NS-Vergangenheit verhalten hat: "Als ob ich in die Gesellschaft hinein gepiekst hätte", erinnert er sich. "Den ehemals Verfolgten war ja nicht nur wichtig, ihr Eigentum wiederzubekommen, sondern auch, dass deutsche Gerichte sagen: 'Ja, ihnen ist Unrecht widerfahren.'" Das aber sei oft nicht erfolgt. Für die Geschädigten war es schwer nachzuweisen, was ihnen geraubt worden war. Die wenigsten hatten Fotos von den Gegenständen. Und vor der Auswanderung hatten viele den eigentlichen Wert ihres Hab und Guts kleingerechnet, um Zollgebühren zu sparen. Nun wurden Gutachter eingesetzt, die vorbelastet waren: Sie hatten für Auktionshäuser wie Schlüter gearbeitet, die die Versteigerungen durchgeführt hatten.
Käufer auch im Nachhinein ohne Schuldbewusstsein
Käufer, die anhand von Versteigerungsprotokollen identifiziert werden konnten, hätten kein Schuldbewusstsein dafür gezeigt, Raubgut gekauft zu haben, sagt Kleibl. Im Gegenteil hätten sie die Unterlagen in Zweifel gezogen: Wie man denn von denen darauf schließen könne, dass sie tatsächlich physisch auf der Versteigerung anwesend waren und gekauft hätten. Unterlagen hätten sie auch keine mehr oder sie seien Bomben zum Opfer gefallen. "Wenn ich jetzt Versteigerungslisten finde mit Namen von Käufern", so Kleibl, "dann liegt die Information ja ganz klar auf der Hand. Aber in der Nachkriegszeit hat man sich einfach nicht die Mühe gemacht, diesen Käufern hinterher zu steigen."
Der Staat löst die individuelle Schuldfrage mit Geld
Schließlich sprang die Bundesrepublik als Schuldner ein, um die Gerichte zu entlasten. "Dass die individuelle Schuld von Privatleuten durch den Staat abgelöst worden ist, war für mich frappierend", sagt Lillteicher. "Eine Argumentation, die sich durch die Nachkriegszeit zieht: Für individuelles Verhalten ist der NS-Staat verantwortlich und nicht das Individuum selbst." Das sei politisch so gewollt gewesen, um keine Diskussionen aufkommen zu lassen, sagt Bajohr. "Jetzt soll man eine Demokratie aufbauen mit einer Bevölkerung, die dem NS-System ja gefolgt war. Und kann ich das eigentlich machen, wenn ich denen permanent irgendwelche Dinge vorhalte?“
Viele Rückerstattungsverfahren endeten nach Jahrzehnten mit Vergleichen. "Man gewinnt den Eindruck, dass man das Ganze einfach nur noch zu Ende bringen wollte", sagt Lillteicher. "Und dann gab man sich mit einer Vergleichssumme ab, die natürlich nicht dem eigentlichen Wert des Umzugsgutes entsprach."
Kunst und Möbel noch immer in deutschen Privathaushalten
Noch immer müssen sich etliche Möbelstücke und Kunstwerke in Privathaushalten befinden, die auf NS-Auktionen erworben wurden. Da müsse man auch auf Privatleute zugehen, meint Bajohr: "Es kann nicht angehen, dass ein Vorgang dadurch erledigt ist, dass ein Staat die entsprechenden Summen begleicht und die Erwerber davon freihält. Da gibt es immer noch das moralische Problem, das da übrigbleibt." Provenienzforscherin Kleibl sieht nun die Generation der Enkel am Zug: "Jetzt wäre es an ihnen, mal die Eltern und Großeltern zu fragen: Wo habt ihr das denn her? Erzähl mir doch mal die Geschichte, die hinter diesem Möbelstück steckt." Auch wenn die Antwort unangenehm sein könnte: "Vielleicht wird dadurch etwas Licht ins Dunkel gebracht."