Unterwasser-Aufnahmen des Wracks der gesunkenen "Estonia". © Dplay documentary series "Estonia – The Discovery that Changes the Story"

"Estonia"-Unglück von 1994 gibt viele Rätsel auf

Stand: 28.09.2024 00:00 Uhr

Unglück oder doch eine geplante Katastrophe? Für viele Menschen ist der Untergang der "Estonia" bis heute nicht aufgeklärt worden - und Verschwörungstheorien gibt es einige.

von Christian Wolf

Die 15.500 Tonnen schwere "Estonia" ist bei stürmischem Herbstwind am 28. September 1994 auf der Fahrt von Tallinn nach Stockholm vor der Südküste Finnlands gesunken. Seitdem bietet die Katastrophe, die nur 137 Passagiere überlebten, reichlich Stoff für Theorien über den Unglückshergang. Auch Schwedens Behörden müssen sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren, sie hätten die wirkliche Ursache für die Katastrophe fahrlässig oder vielleicht sogar bewusst verschleiert.

Beweismittel verschwindet für immer

Unmittelbar nach dem Untergang der Fähre wird eine internationale Prüfungskommission gebildet: die Joint Accident Investigation Commission (JAIC). Etwa zwei Wochen nach der Katastrophe entdeckten Experten das abgerissene Bugvisier der "Estonia" auf dem Grund der Ostsee und bargen es. Daran befand sich noch das sogenannte Atlantikschloss - ein massiver aus Stahl gefertigter Sicherungsbolzen, der das Visier mit dem Schiffsrumpf verbunden hatte. Für die damaligen Gutachter ein wichtiges Beweisstück. Das Atlantikschloss befand sich an Bord eines Hubschraubers, der noch mit anderen Wrackteilen beladen war. Als der Pilot sagte, der Helikopter sei zu schwer, warf ein führendes Mitglied der JAIC das Atlantikschloss kurzerhand in die Ostsee - wo es für immer verschwand.

Riesiger Betonsarg sollte Wrack für immer begraben

Nachdem internationale Taucher das Wrack in 60 bis 90 Metern wochenlang untersucht hatten, entschied Schwedens Regierung die "Estonia" für alle Zeiten versiegeln. Dafür sollte ein Tausend Tonnen schwerer Betonsarg das Schiff unter sich begraben. Die Kosten für dieses weltweit einmalige Vorhaben im Umgang mit einem Schiffs-Wrack hätten sich auf schätzungsweise 33 Millionen Euro belaufen. Offizielle Begründung der schwedischen Regierung für das Vorhaben: Die Totenruhe sollte gewahrt werden. Erst nach massiven Protesten der Hinterbliebenen lenkte die Regierung ein.

Unglücksstelle wird zur No-Go-Area

Seit 1995 gilt die sogenannte Bannmeile um die Stelle, an der die "Estonia" sank - eine Schutzzone, in der sich keiner aufhalten darf. Bis auf Deutschland haben alle Ostseeanreinerstaaten dieses Abkommen unterschrieben. In Schweden, Estland und Finnland werden Menschen, die zum Wrack tauchen oder sich der Unglücksstelle auch nur nähern, strafrechtlich verfolgt. Diese Kuriositäten sorgen unter anderem dafür, dass es bis heute um den Untergang der "Estonia" die wildesten Verschwörungstheorien gibt.

Sprengung der Fähre?

Screenshot aus der Tagesschau vom 28. September 1994 © ARD Foto: Screenshot
Helfer in der Ostsee bergen Wrackteile von der gesunkenen "Estonia".

So gab es Spekulationen, dass an Bord der Fähre eine Bombe explodiert sein könnte. Viele Hinterbliebene und Überlebende der Katastrophe vermuten, dass das Bugvisier der MS "Estonia" abgesprengt wurde. Außerdem soll eine Detonationen unterhalb der Wasserlinie dafür gesorgt haben, dass die Fähre in kürzester Zeit sank. Die Anhänger dieser Theorie vergleichen dabei das Unglück der "Estonia" mit dem Untergang der RoRo-Fähre "Jan Heweliusz" ein Jahr zuvor bei Rügen in der Ostsee. Das Schiff, dass ähnlich konstruiert war wie die "Estonia", bekam Schlagseite und kenterte. Es trieb allerdings noch stundenlang kieloben, bevor es versank. Das betrachten viele als Indiz dafür, dass es Unterhalb der Wasserlinie ein Leck gab, was durch eine Bombe verursacht wurde. Ähnlich verhielt es sich bei dem Unglück der Fähre "Herald of free Enterprises" im belgischen Hafen Zeebrügge. Auch diese Fähre war trotz Wassereinbruchs auf das Fahrzeugdeck nicht in der Nordsee gesunken, sondern trieb auch tagelang im Wasser.

Sollten Waffentransporte vertuscht werden?

Archivbild der Estonia im Hafen liegend mit hochgeklappter Bugspitze. © NDR
Einige Überlebende der Katastrophe vermuten, dass das Bugvisier der "Estonia" abgesprengt wurde.

Eine weitere bekannte Hypothese: Der russische Geheimdienst habe illegale Transporte mit geschmuggeltem Militärmaterial vertuschen wollen und deshalb eine Bombe auf dem Schiff detonieren lassen. Für diese Transporte wurde vor dem Untergang auch die "Estonia" genutzt. Ende 2004 hat ein pensionierter schwedischer Zollbeamter diese Aussage im Fernsehen gemacht. Noch im gleichen Jahr bestätigt Estland, dass die "Estonia" schon öfter militärische Güter nach Schweden transportiert hat. Das skandinavische Land gibt dies zwei Jahre später zu.

Sprengte die Mafia das Schiff?

Andere wiederum vermuten die Mafia hinter der Sprengung. Demnach sollen kriminelle osteuropäische Organisationen von der Reederei Schutzgeld erpresst haben. Als sich die Reederei weigerte, wollte man ein Exempel statuieren, damit nicht auch andere Reedereien oder Firmen anfingen, die Schutzgeld-Zahlungen zu verweigern. Daher sollen sie die "Estonia" versenkt haben. Nach Medienberichten soll die Reederei Estline, der damalige Eigentürmer der "Estonia" immer wieder Bombendrohungen erhalten haben.

Rammte ein geheimes U-Boot die Fähre?

Es gibt aber auch ganz andere Theorien. So vermutet der amerikanische Autor und Journalist Drew Wilson in seinem Buch "The Hole", dass es zwischen der Fähre und einem U-Boot zu einer Kollision kam. Mit seiner Meinung steht er nicht alleine da: Auch der ehemalige Ermittler der Meyer-Werft, der das Unglück untersucht hat, vermutet einen solchen Zusammenstoß. Derartige Kollisionen sind in der Schifffahrt nichts Ungewöhnliches. Immer wieder kommt es zu solchen Zusammenstößen wie etwa im Jahr 2001, als ein US-amerikanisches U-Boot beim Auftauchen ein japanischen Fisch-Trawler rammt. 19 Fischer kamen bei dem Unglück vor Hawaii ums Leben.

Forderung: Neue Untersuchungen sollen Aufklärung bringen

Solche Theorien lassen sich nicht beweisen, aber auch nicht widerlegen. Daher fordern die Hinterbliebenen der "Estonia" lange Zeit, dass das Wrack neu untersucht oder sogar geborgen werden soll. Dadurch soll nicht nur endgültig der Untergang der Fähre geklärt, sondern auch die Toten aus dem Wrack geborgen werden. Dann könnten sie beerdigt werden und ihre Familien so mit dem Unglück abschließen.

Neue Untersuchungen - Ergebnisse 2025

Der offizielle Abschlussbericht von 1997 macht technisches Versagen an der Bugklappe für den Untergang der "Estonia" als Ursache aus. Doch seit der Entdeckung eines Risses im Rumpf des Wracks durch schwedische Dokumentarfilmer gibt es neue Fragen. Die estnische Regierung schreibt daraufhin eine europaweite Untersuchung aus. Sie soll den Einfluss des Risses auf den Untergang klären.

Professor Hendrik Dankowski von der Fachhochschule Kiel ist an den Untersuchungen beteiligt. Gemeinsam mit der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt (HSVA) berechnet er mithilfe einer eigens entwickelten Sofware, den zeitlichen Verlauf des Unfallhergangs. Denn ein mögliches Szenario wäre auch, dass der Riss erst nach dem Untergang der "Estonia" entstanden sein könnte. "Es wird quasi im Computer simuliert, aufgrund eines physikalischen Modells, wie der zeitliche Verlauf des Unfallhergangs sein könnte. Es kann also berechnet werden, wie viel Wasser zu welchem Zeitpunkt, wo in das Schiff eingedrungen ist. Und welchen Einfluss das auf das Schiff hatte dann", sagt Dankowski dem NDR im September 2024. Erste Ergebnisse werden voraussichtlich für 2025 erwartet.

Dossier
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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 21.09.2014 | 19:30 Uhr

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