Historisches Dokument mit Szene von der Sturmflut auf Wangerooge an Neujahr 1855 © Sammlung Erik Kohl

1855: Die Nacht, in der die Flut Wangerooge zerriss

Stand: 19.12.2024 17:00 Uhr

In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1855 überschwemmt und zerstört eine Sturmflut große Teile der Insel Wangerooge. Viele Bewohner werden obdachlos. Auch in Hamburg brechen die Deiche, vier Menschen sterben.

von Irene Altenmüller, NDR.de

"Die Flut des Meeres erreichte den 1. Januar eine allesübersteigende Höhe. Von 70 Wohnungen wurden 20 zerstört; viele andere, vom Wasser unterwühlt, stürzten ein. (...) Auf dem Kirchhofe wurden die Särge herausgespült und die Leichen von den brausenden Wogen in die Tiefen des Meeres hinabgerissen." Anschaulich beschreibt der "Jahreskalender 1855" die dramatischen Ereignisse der Neujahrsflut auf der Nordseeinsel Wangerooge. Gerade noch rechtzeitig tritt die Ebbe ein und verhindert, dass es Tote gibt: "Hätte die Fluth noch eine Stunde länger gedauert, (…) die meisten Menschen würden wohl ihr schauerliches Grab in den Wogen gefunden haben", so der Inselpfarrer Theodor Schmedes in seiner Kirchenchronik.

Verheerende Folgen

Zwar gibt es keine Toten zu beklagen, aber die Flut hat verheerende Folgen: Sie hat nicht nur viele Bewohner obdachlos gemacht, sondern die Insel in drei Teile zerrissen. Viele Brunnen sind durch das Meerwasser verseucht. Auch der Badebetrieb, der sich seit 1804 als vielversprechende Einnahmequelle etabliert hat, steht vor dem Aus. Eine aus Oldenburg angereiste Regierungskommission sieht kaum Hoffnung für einen Wiederaufbau: Sie fordert die Insulaner auf, die Insel zu verlassen und auf das Festland umzusiedeln.

Die meisten Bewohner verlassen die Insel

Holzschnitt von 1855 mit dem Leuchtturm von Wangerooge während der Sturmflut auf  an Neujahr 1855 © Aus: Jahreskalender 1855, Sammlung Erik Kohl
Der 1830 erbaute Leuchtturm im Westen wird bei der Sturmflut schwer beschädigt. Im Osten der Insel wird ein neuer Leuchtturm erbaut.

Auch die Badeanstalt soll aufgelöst werden, so der Regierungsbeschluss. Ein Teil der Badekarren wird an Bewohner der Nachbarinsel Spiekeroog verkauft. Den Umsiedlern aufs Festland stellt die Regierung finanzielle Mittel bereit. 233 der 342 Insulaner folgen der Aufforderung, ein großer Teil von ihnen lässt sich bei Varel am Jadebusen nieder und gründet dort die Siedlung Neu-Wangerooge.

Mit den Insulanern zieht auch das Wangerooger Inselfriesisch aufs Festland - wo es sich auf Dauer jedoch ebenso wenig hält wie auf der Insel selbst. Seit 1950 gilt die Inselsprache als ausgestorben. Auch die meisten Umsiedler bleiben nicht lange in Neu-Wangerooge - obwohl die Siedlungshäuser eigens im Baustil der Insel erbaut wurden. Viele von ihnen ziehen weiter in das frisch gegründete Wilhelmshaven.

Um den Leuchtturm entsteht ein neues Inseldorf

Ein Leuchtturm auf Wangerooge. © NDR Foto: Jessica Holzhausen
1856 wird der neue Leuchtturm in Betrieb genommen. Er ist heute das älteste Gebäude der Insel.

Die wenigen Bewohner, die auf Wangerooge bleiben, siedeln in den Osten der Insel um, wo 1856 auch der neue Leuchtturm in Betrieb genommen wird, der zugleich das erste Gebäude des neuen Inselorts ist. Das alte Inseldorf wird aufgegeben. An Alt-Wangergooge im Westen erinnert nur noch der alte Wehrturm, der seit der Flut frei am Strand steht. Er wird 1914 abgerissen. Heute liegt das Inseldorf in der Mitte Wangerooges: Im Verlauf der Jahrzehnte verlagerte sich die Insel unter dem Einfluss des Meeres immer weiter nach Osten. Bis heute nagt die Flut regelmäßig an der Insel. Sturmfluten richten große Schäden an.

Norderneys Westen verliert seine Dünen

Auch auf Norderney wütet die Flut: Dort gehen große Teile der Dünenzone im Westen und Nordwesten verloren, die die Insel bislang vor den Fluten geschützt hatte. Nur noch eine schmale Dünenreihe trennt den Strand vom Inseldorf und der Badeanstalt. Ein künstliches Bauwerk wird erforderlich, um die Insel vor künftigen Sturmfluten zu schützen. So entsteht ab dem Jahr 1858 am Westkopf Norderneys eine massive Befestigungsanlage: das erste Dünendeckwerk an der deutschen Nordseeküste.

Elbnahe Gebiete Hamburgs werden überflutet

Nicht nur auf den ostfriesischen Inseln, sondern auch im fernen Hamburg richtet die Flut schwere Schäden an. Mehrere Deiche brechen unter dem Druck der Fluten, darunter in den Vierlanden, in Bergedorf, im Alten Land und in Moorburg.

Wasserstände am Pegel St. Pauli

3./4. Februar 1825: 5,24 Meter über NN
1./.2 Januar 1855: 5,11 Meter über NN
16./17. Februar 1962: 5,70 Meter über NN
7. Dezember 1973: 5,33 Meter über NN
3./4. Januar 1976: 6,45 Meter über NN

In Wilhelmsburg brechen die Deiche gar an neun Stellen, sodass die tief gelegene Elbinsel völlig überflutet wird. Vier Menschen sterben, darunter zwei Kinder. Ein an die wohlhabenden Hamburger Bürger gerichteter Spendenaufruf schildert die verzweifelte Lage der Betroffenen: "Die Bewohner haben in vielen Fällen nur das nackte Leben gerettet. (…) Der Hausrath und besonders die Vorräte aller Art (…) sind entweder von den Fluthen verschlungen oder doch gänzlich unbrauchbar gemacht." Auch vor der Hamburger Innenstadt macht das Wasser nicht halt: Die Alsterschleusen werden überflutet, die Straßen im Stadtzentrum und in der damaligen Vorstadt St. Georg überschwemmt.

Stadt baut neue Deiche

Deich mit mehreren Durchbrüchen in Hamburg-Neuenfelde nach der Sturmflut 1962. © NDR/Nico Bundt
Erst 107 Jahre später kommt das Wasser wieder - wie hier in Neuenfelde brechen die maroden Deiche an Dutzenden Stellen.

Da bereits 1825 eine schwere Sturmflut die Stadt heimgesucht hat - damals waren an der gesamten Nordseeküste 789 Menschen gestorben, darunter 142 in den Elbmarschen - lässt die Stadt in den Jahren nach 1855 die Deiche erneuern und deutlich erhöhen. Sie wachsen auf Höhen zwischen 5,60 und 5,80 Meter. Mehr als 100 Jahre scheinen sie sicheren Schutz zu bieten. Stets bleiben die Pegelstände weit unter denen von 1855. Die Menschen an der Nordsee und in Hamburg wiegen sich in Sicherheit - ein tödlicher Irrglaube, der Jahrzehnte später mehr als 300 Menschen das Leben kostet. Die maroden, viel zu niedrigen Deiche brechen erneut unter der Gewalt der Fluten, als das Wasser 107 Jahre später wiederkommt - bei der großen Sturmflut in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962.

Danach ließ die Stadt die Deiche modernisieren und weiter erhöhen. Ab 1990 nahm sie erneut Modernisierungen und Erhöhungen vor. Mit ihnen wurden die Deiche auf Höhen zwischen 7,50 und 9,25 Meter, je nach möglichem Wellenauflauf, erhöht. Auch heute achtet die Stadt darauf, dass die Deiche nicht nur halten, sondern auch hoch genug sind. In Wilhelmsburg und Harburg etwa wurden sie ab April 2024 um rund einen Meter erhöht.

Weitere Informationen
Kolorierte Radierung von Alt-Wangerooge um 1845 © Aus: Jahreskalender 1855, Sammlung Erik Kohl

Die Neujahrsflut 1855 auf Wangerooge

Eine ausführliche Darstellung der Neujahrsflut 1855, verfasst von dem Historiker Wolfgang Sello, auf der privaten Website Erik Kohls zur Insel Wangerooge. extern

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Dieses Thema im Programm:

Niedersachsen 18.00 | 30.11.2011 | 18:00 Uhr

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