Deutscher Verkehrsgerichtstag bietet Autolobbyisten die Stirn
Am 25. Januar 1963 treffen sich Fachleute erstmals zum Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar. Seitdem bieten sie Lobbyisten mit ihren Empfehlungen zu Sicherheit und Rechtsfragen im Straßenverkehr die Stirn - und finden bei Politikern Gehör.
Ab den 1950er-Jahren besitzen in Deutschland immer mehr Menschen ein Auto. Während die Zahl nach dem Zweiten Weltkrieg noch bei rund 200.000 liegt, befahren im Jahr 1955 rund 1.750.000 Pkw die hiesigen Straßen. Hinzukommen zwei Millionen Motorräder. In der Folge steigt die Zahl der Verkehrsunfälle und damit auch die verkehrsrechtlicher Straf- und Zivilverfahren sprunghaft an. Die Massenmotorisierung stellt das Rechtssystem vor neue Herausforderungen - denn die alte Straßenverkehrsordnung aus dem Jahr 1937 kann mit den Anforderungen an das höhere Verkehrsaufkommen nicht mehr Schritt halten. Das ruft Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Journalisten auf den Plan: Sie wollen eine jährliche Konferenz initiieren - den Deutschen Verkehrsgerichtstag. Am 25. Januar 1963 findet er erstmals in Goslar statt. Seitdem tagen die Fachleute dort jedes Jahr in der Regel in der letzten Januarwoche.
Bundestag hebt 1952 das Tempolimit auf
Anfang der 50er ist die regelmäßige Hauptuntersuchung - der sogenannte TÜV - zwar bereits Pflicht, aber es gibt auf Deutschlands Straßen weder Fahrbahn-Markierungen noch Geschwindigkeitsbegrenzungen. Noch Ende 1952 hebt der Bundestag ein Gesetz aus der Nazi-Zeit von 1939 auf, dass das Tempo in Ortschaften auf 40 Stundenkilometer beschränkte. Ansonsten galt Tempo 80. Bis zum 31. August 1957 dürfen Fahrzeuge in geschlossenen Ortschaften wie auch außerhalb so schnell fahren, wie es Motor und Pferdestärken hergeben.
Allerdings halten viele Städten und Gemeinden an alten Beschränkungen fest oder regeln sie neu: "In Hannover bleibt es bei 40 Kilometern … in Bremerhaven sollen 50 Kilometer erlaubt sein", heißt es 1953 im "Osteroder Kreis-Anzeiger". Auch in der DDR bleibt das Tempolimit von 1939 bestehen.
"Freie Fahrt für freie Bürger" fordert viele Verkehrstote
Die großflächige "freie Fahrt für freie Bürger" hat einen hohen Preis: Die Zahl der Verkehrstoten steigt von rund 7.000 im Jahr 1950 auf mehr als 12.000 im Jahr 1953. Viele Verkehrsopfer sind Kinder. Mütter beklagen in Briefen an den Bundesverkehrsminister den Tod ihrer Kinder, die beim Spielen von Autos überfahren wurden.
In der Folge dieser unheilvollen Verkehrsstatistik führt die Bundesregierung 1957 innerhalb geschlossener Ortschaften die erste allgemeingültige Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 Kilometer pro Stunde ein. Sehr zum Unmut bestimmter Interessenvertreter: Schon damals gibt es ähnlich hitzige Debatten ums Tempolimit wie heute. Mit Slogans wie "Der Fortschritt der Zivilisation kostet auch Opfer" versuchen Autolobbyisten schon damals, Geschwindigkeitsbeschränkungen zu verhindern.
Gründung eines Forums für Verkehrsrecht in Hamburg
Dem Wirken der umtriebigen Autolobby steht der Wunsch von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Journalisten entgegen, der Politik wegweisende Empfehlungen für die unzureichende und zersplitterte Rechtsprechung zu geben. Zunächst gründen sie 1961 in Hamburg den gemeinnützigen Verein "Verkehrswissenschaftliches Seminar e. V." - um schließlich einen Deutschen Verkehrsgerichtstag vorzubereiten und durchzuführen. Bis zum ersten Symposium vergehen noch zwei Jahre.
Goslar wird Tagungsort des Deutschen Verkehrsgerichtstags
Am 25. Januar 1963 ist es dann soweit: Im Hotel "Der Achtermann" in Goslar findet der erste Deutsche Verkehrsgerichtstag statt. Mehr als 200 Verkehrsjuristen treffen sich zur Konferenz für Verkehrssicherheit. Darunter sind Oberlandesrichter, Generalstaatsanwälte und Ministerialbeamte, vor allem aber "Praktiker der Front": Amtsrichter, Staats- und Amtsanwälte, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte. Gemeinsam diskutieren die Verkehrsexperten in acht Arbeitskreisen über aktuelle Probleme des Verkehrsrechts.
Beim ersten Aufeinandertreffen beschäftigen sie sich unter anderem mit dem mehrspurigen Fahren und Rechtsüberholen, mit Fragen der Strafzumessung, Unfallflucht, dem Vertrauensgrundsatz und einer Novellierung des Paragrafen 1 StVO, der die ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht im Straßenverkehr behandelt. Die Ergebnisse dokumentieren die Organisatoren im Nachhinein.
Bußgeld-Verordnung lässt lange auf sich warten
Es mag für Sie vielleicht enttäuschend sein, andererseits aber auch eine gewisse Erleichterung bedeuten, wenn ich Ihnen gleich zu Beginn meines Beitrages offen sage, dass die Frage der künftigen Ausgestaltung des Bußgeldverfahrens im Bundesjustizministerium weder im Grundsätzlichen, geschweige denn in Einzelheiten abschließend entschieden ist. Erich Göhler, Bundesjustizministerium Bonn (1963)
Bereits im Jahr 1963 steht auf dem Verkehrsgerichtstag auch das Thema Bußgeldkatalog auf der Tagesordnung. Doch der Weg dahin gestaltet sich steinig: Zwar erfasst seit 1958 die Verkehrssünderkartei in Flensburg Daten und verteilt Punkte je nach Delikt. Allerdings werden zu Beginn nur Verkehrsteilnehmer registriert, die schwere Verkehrsstraftaten begangen hatten und den Führerschein abgeben mussten.
Später nimmt das Kraftfahrt-Bundesamt Ordnungswidrigkeiten auf, aber ohne Abstufungen nach der Schwere der Tat. Erst am 1. Mai 1975 wird das noch heute gültige Mehrfach-Punkte-System eingeführt. Und im Januar 1990 tritt die "Verordnung über die Erteilung einer Verwarnung, Regelsätze für Geldbußen und die Anordnung eines Fahrverbots wegen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr" des Bundesverkehrsministeriums in Kraft.
Praxisnahe und aktuelle Empfehlungen für die Politik
Der Verkehrsgerichtstag hat bundesweit Bedeutung, da die Empfehlungen auf politischer Ebene häufig in die Ausgestaltung von Gesetzen und Vorschriften einfließen. Diese Ratschläge an die Politik beruhen deshalb nicht selten auf Kompromissen. Denn in den Beratungen des Verkehrsgerichttags prallen die Meinungen oftmals hart aufeinander. Ein Übergewicht zufälliger Mehrheiten und eine einseitige Parteinahme sollen verhindert werden. "Praxisnähe und Aktualität - nicht zuletzt aufgrund der jährlichen Ausrichtung - sowie die Einbindung unterschiedlicher Interessengruppen sichern dem Deutschen Verkehrsgerichtstag seine herausragende Bedeutung", heißt es in der Historie des Verkehrsgerichtstages.
Die Sicherheit im Straßenverkehr immer im Blick
Nicht nur durch technische Errungenschaften wie Sicherheitsgurte, Airbags, und Antiblockiersysteme hat die Sicherheit im Straßenverkehr stetig zugenommen. Auch der Deutsche Verkehrsgerichtstag trägt durch seine jährlichen Treffen mit seinen Empfehlungen an die Politik seit 60 Jahren zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr bei. In diesem Jahr debattieren die Verkehrs-Experten - wie immer unter anderem im Marmorsaal des Hotels "Der Achtermann" - etwa über eine mögliche Meldepflicht für Ärzte von fahrungeeigneten Personen und darüber, ob das derzeitige Haftungsrecht für KI-Autos ausreicht. Dahinter steht die Frage, wer im konkreten Fall für einen Schaden aufkommt, wenn bei einem Unfall nicht ein Mensch, sondern eine Künstliche Intelligenz das Auto gefahren hat. Dabei scheuen die Fachleute auch weiterhin nicht die Konfrontation mit Automobilverbänden.
Auch die Ergebnisse von 2023 gehen in die Dokumentation des Deutschen Verkehrsgerichtstags ein und geben auch zukünftig einen Einblick in die Geschichte des Verkehrsrechts und der Verkehrssicherheit.