"Da war für uns die Welt zu Ende" - Leben im geteilten Harz
Quer durch den Harz verlief die innerdeutsche Grenze. Mehr als vier Jahrzehnte lang teilte sie die Region, trennte eng verwachsene Ortschaften voneinander und die Menschen vom Wahrzeichen ihrer Region: 1961 wurde der sagenumwobene Brocken, der höchste Berg Norddeutschlands, zum militärischen Sperrgebiet erklärt und war bis 1989 für West- und Ostdeutsche gleichermaßen unerreichbar. Zwei Bewohner erinnern sich an das Leben auf der westlichen Seite des Harzes in unmittelbarer Nähe zur Grenze.
Soldaten hinterm Gartenzaun
Früher waren es Grenzsoldaten, heute sind es Wanderer, die hinter seinem Gartenzaun entlang marschieren. Friedemann Schwarz lebt seit 1960 in Hohegeiß im Oberharz, direkt hinter seinem Grundstück begann die DDR. Diese war, von seinem Garten aus gesehen, zunächst einmal eine Wiese mit ein paar Grenzsteinen. Ein Grenzzaun kam erst viel weiter dahinter. Anfangs patrouillierten die Soldaten ganz dicht an seinem Grundstück entlang, keine fünf Meter entfernt. Sie grüßten und wechselten mit ihm ein paar Worte. Doch ab 1961 marschierten sie grußlos und mit großem Abstand vorbei - jegliche "Kontaktaufnahme mit dem Klassenfeind" war ihnen von nun an strikt verboten.
Die deutsche Teilung hatte die Gegend stark verändert: Von den fünf Straßen, die von Hohegeiß in die Nachbarorte führten, wurden drei nach dem Krieg gesperrt. Die Nachbarorte lagen nun in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der DDR. 1972 erhielt Friedemann Schwarz zum ersten Mal ein Visum, um ins vier Kilometer entfernte Benneckenstein, das nun Teil der DDR war, zu reisen. 300 Kilometer musste er fahren, bis er dort ankam: Der nächste Grenzübergang bei Helmstedt-Marienborn lag weit entfernt. Wenn er heute auf einen Sprung zur Apotheke nach Benneckenstein fährt und nach einer Viertelstunde wieder daheim ist, freut er sich jeden Tag aufs Neue, dass die Grenze offen ist. Die Euphorie hat sich bei ihm bislang noch nicht gelegt. "Hätten wir uns doch alle was von dieser Begeisterung erhalten", sagt er und meint die Monate nach dem 9. November 1989, als jedes dritte Wort noch "Wahnsinn!" war.
Der Brocken, der unerreichbare Berg
Auch die Freude darüber, den Brocken nicht nur betrachten, sondern auch besteigen zu können, lässt nicht nach. Jahrzehntelang hatte Friedemann Schwarz den Berg immer vor Augen, jeden Tag schaute er, ob dieser klar zu sehen war oder sich hinter Wolken versteckte. Dass er ihn jemals besteigen würde, hat er nie geglaubt - bis zum 9. November 1989. Im Frühling 1990 wanderte er zum ersten Mal hinauf. In seinem Kopf schwirrten Bilder von Brockenromantik, von Urigkeit - doch vor Ort dominierten die schäbigen Baracken der Sowjetsoldaten und riesige Antennenkuppeln die Szenerie. "Schön war es eigentlich nicht", sagt Friedemann Schwarz. Ein besonderes Erlebnis bleibt es für ihn trotzdem.
Visa für grenznahe Anwohner
Im Zonenrandgebiet zu leben, hatte oft eine Reihe von Nachteilen, vor allem wirtschaftliche. Für die meisten Unternehmen war die Grenzlage wenig attraktiv. Ein Privileg jedoch hatten die Bewohner: Sie konnten ab 1973 den "kleinen Grenzverkehr" nutzen und ein Visum für Tagesbesuche in den grenznahen Orten der DDR erhalten. Damals wurde ein neuer Grenzübergang in Duderstadt errichtet, der viel näher lag als der bisherige in Helmstedt.
Doch längst nicht alle Bewohner aus dem Westharz nutzten diese Gelegenheit. "Was soll ich da", "viel zu gefährlich", hieß es oft, erinnert sich Karl-Günther Fischer. Er selbst fühlte sich immer mit dem Osten verbunden, auch biografisch: 1947 floh er aus der Sowjetischen Besatzungszone nach Braunlage in den Oberharz, wo er noch heute lebt.
Oft fuhr er nach "drüben", mehrfach organisierte er als Lehrer Tagesausflüge für seine Schüler - ein riesiger Aufwand, den in der Bundesrepublik nur wenige Lehrer auf sich nahmen, obwohl die Fahrten bezuschusst wurden. Einige Eltern ließen ihre Kinder nicht mitfahren, wilde Gerüchte kursierten über den Osten, und die Sorge war groß. Diese war nicht ganz unberechtigt: Karl-Günther Fischer musste den Kindern einimpfen, niemanden zu provozieren, sondern still zu beobachten. Schöne, aber auch traurige Erfahrungen machte er bei diesen Fahrten, deren Programm von Ostseite aus organisiert wurde. Einmal wurden er und seine Schüler beispielsweise in einer Gaststube üppig bewirtet, während an den Nachbartischen die Einheimischen vor ihren Wassergläsern saßen.
"Da war für uns die Welt zu Ende"
Wenn Freunde aus anderen Teilen der Bundesrepublik zu Besuch kamen, wollten viele "Grenze gucken", auch wenn es nicht viel mehr zu sehen gab als ein paar Beobachtungstürme. Für die Freunde war das etwas Exotisches, Spannendes. Für Karl-Günther Fischer selbst, der nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt lebte, war es Alltag. "Die Grenze war ein Faktum. Da war für uns die Welt zu Ende", sagt er.
Direkt vor seiner Haustür liegt der Wurmberg, der zweithöchste Berg der Harzregion, der für ihn aber längst nicht so bedeutsam wie der Brocken ist. Umso erstaunter war er im November 1989, als Hunderte Ostdeutsche nach einem kilometerlangen Fußmarsch über den Grenzbach - die Bremke - nach Braunlage gelangten und viele vor allem eines wollten: endlich rauf auf den Wurmberg. "Wie, was wollt ihr denn da? Wollt ihr nicht erstmal was trinken oder euer Begrüßungsgeld abholen?", fragte er die Leute. Aber die ließen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Der Wurmberg sei eben ihr "Berg der Sehnsucht", sagten sie, den hätten sie immer vor Augen gehabt.
Relikte der Vergangenheit im Museum
"Ich weiß, dass es albern klingt", sagt Karl-Günther Fischer, "wenn ich heute über die Bremke von Elend nach Braunlage fahre, schießt es mir jedes Mal durch den Kopf: Gott sei dank bin ich wieder im Westen." Die Erinnerung an die eigene Flucht 1947 sitzt tief. Erinnerungen wie diese müssen seiner Ansicht nach bewahrt werden: Heute ist er Leiter des Heimat- und Skimuseums in Braunlage. Dort hat er auch ein selbst gebasteltes Grenzmodell und ein Stück Sperrzaun aus Streckmetall aufgestellt. "Du Blödmann, was baust du denn die Grenze wieder auf", haben einige Bewohner aus Braunlage gesagt. Karl-Günther Fischer findet es bedauerlich, dass von der Grenzanlage kaum noch etwas zu sehen ist. Die Spuren von damals sollten, sagt er, sichtbar bleiben.